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Was die »Tante« dazu sagt

Fräulein Johanna Fahlmer saß vor ihrem Nähtischchen, hatte eine Stickerei zwischen den Fingern, aber vor sich einen Stoß beschriebener Blätter, in die sie immer wieder hineinblickte. Zum dritten Male hatte sie sich bereits in die Finger gestochen! Endlich gab sie das vergebliche Bemühen auf, zwei so verschiedene Dinge, wie das Sticken eines Sofakissens und die Lektüre eines ihr geliehenen Dichtermanuskriptes, miteinander zu verbinden.

Nein, dieser Goethe! Wo er das nur wieder alles her hatte!

Johanna Fahlmers noch jugendlich-frisches Gesicht erstrahlte in ehrlicher Begeisterung. Wirklich, sie war stolz auf die Freundschaft mit diesem bei vielen so verschrienen Doktor Goethe. Mochten die Leute, die ihn nicht verstanden, noch soviel an ihm auszusetzen haben, ihn extravagant, arrogant, selbst geckenhaft und übergeschnappt finden – ach, was schwatzen die Leute nicht alles! – aber sie, Johanna Fahlmer, ließ sich dadurch nicht verblüffen noch irremachen. Sie wußte, daß ihr Freund Goethe nicht bloß ein Genie, sondern auch ein herzensguter Junge war! Und das galt doppelt.

Da hatte er ihr nun vorige Woche, auf ihr langes Drängen hin, endlich diesen Haufen unregelmäßig beschriebener Blätter und Zettelchen gebracht. Und das waren nun allerhand durcheinandergewürfelte Szenen zu dem dramatischen Gedicht »Faust«, über das unter Eingeweihten ein so erstauntes Munkeln ging und von dem er selbst, wenn ihn die Stimmung überkam, so hinreißend zu sprechen und zu phantasieren wußte.

Anfangs hatte sie sich nur mit Mühe darin zurechtfinden können. So neu war dies alles, so unbeirrbar-geistesdurchblitzt! Dazu die blühende, kecke, naturhafte und schillernde Sprache, diese drolligen, innigen und schlagenden Reimverse – man kam aus dem Staunen überhaupt nicht heraus! Wo sollte man dieses Gedicht überhaupt nur anpacken? Mystisch tiefe Geistesergießungen, die an die höchsten Fragen der Menschheit rührten, wechselten mit allerzartesten lyrischen Schwärmereien und wurden dann plötzlich von gellem Hohngelächter und pamphletartigen, blasphemischen Anklagen durchkreuzt, bei denen es einen eiskalt überlief!

Immer wieder mußte Johanna Fahlmer darin lesen, manche Szenen wohl schon zehn- oder zwölfmal, manches kannte sie bereits auswendig, vieles hatte sie heimlich für sich abgeschrieben, und sie sehnte nun nichts eifriger herbei, als daß das Ganze, das einstweilen noch in oft unverbundene Teile zerfloß, zusammengefaßt und in eine übersichtliche Einheit verschmolzen würde. Klar sah sie eigentlich nur in der am eingehendsten durchgearbeiteten Szenenfolge, die von Faustens Liebe zu einem einfachen Volkskinde handelte, und sie hatte dieses Gretchen tief in ihr fühlendes Herz geschlossen und bereits bittere Tränen geweint über dessen unverschuldetes und grausames Geschick. Noch nie hatte sie etwas gelesen, das ihr ganzes Gemüt so durchrüttelt und aufgewühlt hätte, weil es in all seiner begnadeten Poesie so tief-wahr, so rührend-einfach dahinfloß.

Aber nun hatte sie schon acht oder zehn Tage ihren Freund überhaupt nicht mehr zu sehen bekommen. Auf wunderliche Weise waren sie zueinander gekommen. Vor ein paar Jahren aus ihrer Vaterstadt Düsseldorf mit ihrer Mutter nach Frankfurt verzogen, hatte Johanna Fahlmer, als intime Freundin und Verwandte der von Goethe arg gehänselten Brüder Georg und Fritz Jacobi, eigentlich gegen diesen einen »argen Pick« gehabt, weil sie ihn für einen unverschämten Menschen hielt, der allzeit »mit seinem Maulwerk vorneweg« war. Als sie ihn dann aber kennenlernte, war sie schnell in seinen Bann geraten und, was ihr noch mehr galt, sie hatte sich selbst rasch die besondere Zuneigung dieses so schwer zu gewinnenden jungen Genies erworben. Obgleich sie, die jetzt Dreißigjährige, nur fünf Jahre älter war als Goethe, hatte er sie doch feierlich zu seiner »Tante« ernannt – was ein Ausdruck seines freiwillig gespendeten Zutrauens war. Er mochte sie so gut leiden, weil sie, der als Rheinländerin das Herz vorn auf der Zunge saß, so ein »grad-außer Charakter« war und weil sie, ohne Vorurteile, für alles, was da lebte, ein volles und inniges Verständnis besaß. Sie hatte sogar den kleinen Triumph erlebt, ihn mit den Jacobis freundschaftlich zusammenzubringen, und erst im vorigen Sommer hatte Goethe mit Fritz in Köln heilig-schwärmerische Brüderschaft geschlossen.

Johanna Fahlmer fuhr in ihrem Sinnen auf und horchte hinaus. Da polterte etwas auf der Treppe und nahm mit stürmischen Sätzen immer gleich zwei Stufen auf einmal.

Das war er, ihr ersehnter Goethe.

Und schon wurde, nach flüchtigem Pochen, die Tür aufgerissen und ein junger Sausewind stob ins Zimmer hinein, lebenssprühend vom Wirbel bis zur Zeh', und mit leuchtenden Augen.

»'Tag, Tante!« rief er. »Da bin ich! Hab' dringend mit Ihnen zu sprechen!« Und ließ sich, ohne weitere Umstände, krachend in einen Sessel fallen.

»Nun, nun, was gibt's denn so Dringendes?« schmollte zum Scheine die »Tante«. Und konnte dennoch nicht umhin, mit wahrhaft verliebten Blicken den schnaufenden Wildling da vor sich zu mustern.

»Tante! Ich hab' was erlebt!« rief Goethe, sprang bereits wieder auf und rannte im Zimmer umher. »Oder vielmehr: es soll erst kommen, das Erleben!«

»Und wer ist denn die Hexenmeisterin, die Dich gefangen hat?« fragte die weise »Tante«.

»Ja, ich bin verhext, Sie haben es erraten. Regelrecht verhext! So herrlich wie noch nie!«

Da stand er im Zimmer und lachte laut und selig vor sich hin.

»Ach Gott, wie oft hab' ich das schon von Ihnen gehört! Bei der Lotte Buff und der Maxe Laroche und bei dieser und jener! – Ist's denn diesmal gar so arg?« forschte die »Tante«.

»So arg wie noch nie!« fuhr Goethe heraus. »Doch, was heißt hier: arg? Dummes Wort! Ich bin einfach in den Himmel gehoben!«

»Also los! Wer ist die Glückliche, die ein Dichter liebt?«

Goethe ließ sich nicht lange mehr bitten und erzählte. Erzählte mit solch feurigen, begeisterten Worten, daß unwillkürlich alles zum Gedicht ward. Johanna Fahlmer horte mit inniger Hingebung und doch nicht ohne kritisches Erstauntsein zu. Endlich warf sie dazwischen:

»Lili nennen Sie sie? Und sie ist die Tochter der Frau Schönemann, der geborenen d'Orville? Streng-reformierte Leute, sehr reich und sehr hochmütig! Wie kommen Sie denn nur zu der Gesellschaft, Goethe?«

»Was geht mich die Gesellschaft an?« brauste der junge Sausewind empor. »Ich erzähle Ihnen von Lili, Tante! Die ist das schönste, liebste, entzückendste Blondmädel, das jemals die Frankfurter Sonne beschien! Ist das nicht genug, Tante? Oder gibt's da noch was zu bekritteln?«

»Grundgütiger Heiland, wer krittelt denn hier?« wehrte sich die Fahlmer. »Ich will Ihnen ja alles glauben, Wehrwolf – Sie brauchen mich doch nicht gleich so anzufallen! Ich habe ja nur in Bescheidenheit darauf aufmerksam machen wollen, daß da eine ›Familie‹ herumsitzt, die Ihnen auf die Dauer nicht passen möchte! Lauter Geldprotzen und Staatsphilister! Lili selbst mag die Vollkommenheit in Person sein!«

»Immer noch ironisch!« tat Goethe beleidigt. »Da soll ich wohl lieber gleich wieder fortrennen?«

»Nein, Goethe, bleiben Sie!« sprach die »Tante«, stand auf und legte dem schmollend in den Sessel Geworfenen beide Hände auf die Schultern. »Wer meint es denn wohl besser mit Ihnen als ich? Wer liebt, wer bewundert Sie aufrichtiger? Ja, Goethe, ich muß es Ihnen sagen: ich habe all' die Tage, seit wir uns nicht mehr sahen, in einer geistigen Verbundenheit mit Ihnen gelebt, wie noch nie. Ich weiß jetzt erst, wer Sie sind. Dieser ›Faust‹ verspricht ein Weltgedicht zu werden! Etwas ganz, ganz Großes! Dagegen fällt alles, was die anderen machen, ab – und was auch Sie bisher gedichtet haben, Goethe. Selbst Klopstock dünkt mich da übertroffen.«

Goethe lächelte gutmütig.

»Tante, Tante«, sagte er, »da haben Sie sich aber angestrengt! Einen ganzen Sack goldener Lobesnüsse leeren Sie über mich aus! Wollte Gott, Sie hätten recht! Allein ich sehe, wie unendlich viel da noch zu machen ist, bevor es meinen eigenen Ansprüchen genügt. Einstweilen ist dies alles nur eine › rudis indigestaque moles‹: Lassen Sie sich das gelegentlich von einem Lateiner übersetzen! – Doch an alles dieses denke ich jetzt gar nicht. Jetzt ist einzig Lili der Stern, zu dem ich emporblicke.«

»Ich muß Sie dann wohl diesem Stern überlassen«, erwiderte Johanna Fahlmer. »Aber was sagt der Gretchen-Dichter dazu?«

»Wie meinen Sie das, Tante?« Goethe runzelte bereits wieder die Stirn.

»Wie ich das meine? Muß ich das erst lang explizieren?« Ein fast überlegenes Lächeln huschte über die klugen und gutherzigen Züge Johanna Fahlmers. »Stellen Sie doch nur selbst das gute und einfältige Gretchen und die sicher hochkultivierte, sehr verwöhnte und anspruchsvolle Demoiselle Schönemann nebeneinander!«

Goethe sprang auf und wollte wortlos hinausrennen.

»Schon wieder aufbrausend?« beschwichtigte die »Tante« und zog den Davoneilenden fast gewaltsam ins Zimmer zurück. »Sie lieben es doch sonst so sehr, wenn man offen mit Ihnen spricht! Warum also diesmal nicht? – Doch ich will, beim wahrhaftigen Gott, nicht das kleinste Wörtlein mehr sagen! – Sonst fressen Sie mich wirklich noch –! Also was Neues – und geben Sie acht, Goethe! Ich habe eine Nachricht für Sie: Fritz Jacobi kommt!«

»Was sagen Sie? Fritz?« jauchzte Goethe auf, unmittelbar aus einer Stimmung in die andere geworfen. »Wann kommt er? Woher wissen Sie es?« Und er faßte beide Hände der guten »Tante« und blickte ihr strahlend ins Gesicht.

»Er schrieb's mir aus Düsseldorf. Einige Wochen gedenkt er hier zu bleiben!«

»Das ist ja herrlich! Von allen, mit denen ich zusammenkomme, ist mir Fritz der Liebste. Man kann so frei vom Herzen weg mit ihm reden. Er hat für alles ein fühlendes Verständnis. – Fast so sehr«, fuhr Goethe schalkhaft fort, »wie eine gewisse Tante! Nur hat diese natürlich mehr männliche Manieren!«

»Gott sei Dank, jetzt scherzen Sie wieder!« erwiderte die Fahlmer und errötete. »Ich hatte es beinahe schon mit der Angst gekriegt, als Sie plötzlich so stürmisch wurden. – Aber ist das nicht wirklich hübsch, daß der Fritz kommt? Ich freue mich so sehr, daß ich Sie beide zusammengebracht habe!«

»Wirklich? Haben Sie das gemacht, Tante?« neckte Goethe. »Ich dachte schon, es hätte an uns selbst gelegen, daß wir einander fanden! – Aber schön, Sie waren es jedenfalls, die das Eis brach! Ich hatte Fritz zuerst für einen jener ewigen, süßholzraspelnden Gefühlsduseler gehalten, die ich nicht leiden mag – schon weil sie sich immer, Gott strafe sie, auf meinen ›Werther‹ berufen! Um so mehr freue ich mich, daß er ein so lieber und feiner Mensch ist – und so ganz ohne Arg und ohne Neid! Eigentlich hatte ich ihm ja ordentlich eins ausgewischt. Aber er ging mit einer weltmännischen Liebenswürdigkeit darüber hinweg, die mich entzückte.«

»Und grade das hab' doch Ich nur gemacht!« versetzte die Tante, stolz.

»Ja, darin bist Du groß!« erwiderte Goethe froh und ging ohne weiteres zum »Du« über. »Darum wirst Du auch meine Lili lieben! Und wirst gewiß noch einmal, als echte ›Tante‹, unser lieber heiliger Schutzgeist werden!«

»Wo so ein Brausekopf nicht gleich hinaus will!«

Lächelnd und gerührt blickte Johanna Fahlmer den liebenswürdigen Schwerenöter an. Er war doch ein toller Junge, ihr Wolfgang Goethe!


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