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Einen Augenblick hatte Goethe an dem »Bobbeschänkelche« genannten Weinhaus still gezaudert, sich aber dann doch von dem freundlich zuredenden Freund mit hineinziehen lassen. Durch einen schmalen Steinflur ging es in eine gleichfalls schmale und trüb erleuchtete Gaststube.
An einem der blankgescheuerten Holztische nahmen die beiden Platz, einander gegenüber, und bald standen vor ihnen, mit würzigem Pfälzerwein gefüllt, zinnerne Becher.
Mit naserümpfendem Kopfnicken, als sie schweigsame Gäste fand, hatte die Schankmamsell sich entfernt. In dunkler Ecke brütete verschlafen ein einsamer Gast. Sonst war die Stube leer, nur von einer schnurrenden Wanduhr durchtickt.
»Nun also, Lieber, Du wolltest mir doch was erzählen«, begann Melchior Kraus tastend das Gespräch.
Goethe saß da, den sinnenden Kopf in beide Hände gestützt. Jetzt schlug er langsam die großen braunen Augen auf, aus denen ein verdeckter Glanz seinem Gegenüber entgegenleuchtete.
»Etwas erzählen? Versprach ich das?« murmelte er halb wie abwesend.
»Du deutetest so etwas an. Dann freilich wurdest Du plötzlich bedenklich.«
»Bedenklich wurde ich? Kein Wunder! – Habe ich doch diese Gaststätte seit zehn Jahren hartnäckig gemieden.«
Wieder schwieg Goethe. Und machte keine Miene, weiter zu reden.
»Und hattest Du dazu besonderen Grund?« forschte der andere, nach einer Wartepause.
Etwas widerstrebend ließ Goethe sich herbei, zu antworten.
»Man kehrt nicht gern an eine Stätte zurück, die einen an blamable Jugendstreiche erinnert.«
»Doch nach zehn Jahren, sollte ich meinen ...«
»Du hast recht«, rappelte der Dichter sich auf, »ein Fünfzehnjähriger muß eben Lehrgeld zahlen. Vor allem in der schwierigsten Lebensschule, die es gibt – in der Liebe!«
»Darin, Freundchen, zahlt man wohl niemals aus!« lachte der andere.
»Es scheint so. Doch damals ging es hart auf hart. Um ein Haar wäre ich, obwohl gänzlich unschuldig, vor Gericht geraten.«
»Ach, auf diese ehemals stadtbekannte Affäre spielst Du an«, fiel Kraus ins Wort. »Ich erinnere mich genau. Du warst damals, Gott weiß wie, in eine Schwindlergesellschaft geraten, und Dich rettete die Aussage eines schönen Mädchens.«
»Ja, indem sie mich als unfertigen Knaben hinstellte!« murrte Goethe. »Aber so mitleidig und nichtachtend brauchte sie wahrlich nicht zu tun. So lange sie sich meine Verehrungen gefallen ließ, war sie keineswegs so hoheitsvoll.«
»Hieß sie nicht Gretchen?«
»So oder anders. Was sagt ein Name? Und doch ist der Name mir seitdem besonders teuer geblieben. – Und ich glaube fast«, fügte er scheu hinzu, »das Mädchen selber wohl auch ... Obwohl ich sie niemals wieder gesehen habe ... sie ist verschollen ...«
»Vor weiteren Liebesabenteuern aber hat sie Dich keineswegs bewahrt!«
»Was weißt Du davon? – Doch wozu das Versteckspiel? – Wahr ist's, wenn ich nicht lieben kann, kann ich nicht leben! Und erst recht: nicht dichten! – Es ist, als ob ich dieser bittersüßen Speise zeitlebens bedürfen sollte, um ganz zu mir selbst zu kommen und innerlich fruchtbar zu werden!«
»Ja ja, die Frankfurter Mädel – und die Wetzlarerinnen – und Elsässerinnen ...«
»Seit wann spionierst Du so eifrig hinter mir her?«
»Nun, die Liebesaffären des Doktor Wolfgang Goethe pflegen ja nicht gerade unbekannt zu bleiben! Er selbst sorgt durch seine Dichtungen für deren Verbreitung. Wer mit ›Werthers Leiden‹ vor allem die ganze fühlende Welt in Bewegung gesetzt hat, darf sich nicht mehr als Anonymus fühlen.«
»Leider nein«, seufzte Goethe. »Das ist der Fluch der Dichterei: man prostituiert sich vor aller Welt und gibt Klatschbasen und Geschichtenschnüfflern Stoff zur Unterhaltung! – Was wissen aber diese Leute vom wirklichen Erlebnis? Dem der Seele! Ahnen sie auch nur, daß es sich um die brennendsten Schmerzen eines im Grunde verschlossenen, aber allzu bewegten Herzens dabei handelt? Ebensowenig als unsereins an die stumpfen Gesellen da draußen denkt, wenn man sich das Letzte und Wundeste – und auch das Süßeste! – von der Seele ringt!«
»Du darfst es denen, die Dich lesen, nicht übelnehmen, wenn sie mitunter an Dir irre werden. Jede Liebe, jedes Dichten scheint bei Dir stets ein anderes zu sein – ein bisher noch nicht erfahrenes Neues ...«
»Nur im ewigen Wechsel vermag mein wunderliches Ich sich zu bestätigen. Darum nannte mich ja auch mein Straßburger Freund Salzmann eine › animula vagula‹, ein Flatterseelchen. Es mir überlassend, ob ich eine Schmeichelei oder vielleicht eher noch einen Spott darin erblicken möchte.«
»Das Letztere gewiß nicht. – Obwohl ja freilich jedes weiß, daß Du im Grunde nirgends zu fassen bist. Stets weißt Du zu entschlüpfen. Und will man Dich auf irgend etwas festlegen, schon bist Du meilenweit entfernt. Eine › animula vagula‹ bist Du sicherlich!«
»Doch ganz gewiß nicht aus Übermut! Ich selbst habe unter meiner Flattersucht – man kann sie auch anders nennen, aber bleiben wir einmal bei dem Wort! – o, wie sehr habe ich darunter zu leiden! Warum muß ich fast stets in einem Zustande schmerzlichster Spannung, der mich nirgends ein Mittelmaß finden läßt, für mich dahintreiben? Wie gerne faßte ich irgendwo festen Boden – ich sehne mich geradezu danach – aber weder für mein körperliches noch für mein seelisches, geschweige denn mein geistiges Heil habe ich bis jetzt den richtigen Zufluchtsort gefunden. Das einzige, was mich oben hält, ist mein Dichten. Wenn ich das nicht hätte, wenn ich mich dadurch nicht jeweilig erlösen könnte, ich wäre längst vor die Hunde gegangen!«
In selbstquälerischer Stimmung hatte Goethe sich gehen lassen. Sein Kopf war hochrot geworden. Hastig ergriff er den Becher und stürzte den ganzen Rest mit einem Zuge hinunter. Schob ihn dann mit dem Handrücken beiseite, daß die Maid ihn wieder füllen sollte.
Auch Kraus trank aus, wenn auch mit mehr Bedächtigkeit. Nickte dann der Schankmamsell freundlich zu, die herankam, um ihren Dienst zu versehen.
»Ich war bis jetzt ja selbst ein rechter Vagabund«, hub Kraus wieder an. »Und kann Dich also ein wenig verstehen. Doch hab' ich es mehr leichtherzig genommen, als emsig studierender Malersmann, und bin jeglicher Bitterkeit aus dem Wege gegangen. Das wird und muß auch Dir gelingen. Du trägst von der Mutter her viel Frohmut in Dir – das wird immer wieder durchbrechen. Freilich mußt Du zur Ruhe kommen. – Mach's wie ich! Sieh Dich draußen nach was Passendem um. Ich glaube, ich habe das Meine jetzt gefunden. Ich stehe mit Weimar in aussichtsreicher Unterhandlung. Dort spinnt sich jetzt allerhand an. In spätestens Jahresfrist hoffe ich dort zu sein.«
»In Weimar? Was bietet Dir dies kleine Fürstennest? Dort mußt Du versauern. Aber mir scheint, Du willst gar bei Hof antichambrieren?«
»Beides wird daselbst nicht nötig sein. Dort weht ein frischer neuer Luftzug. Laß erst den jungen Erbprinzen Karl-August in ein paar Monaten zur Regierung kommen – dann kommt alles in mächtigen Schwung. Seine erlauchte Mutter, die zur Zeit noch regierende Herzogin Anna Amalia, hat bereits aufs beste vorgebaut. Überhaupt sind die Frauen dort ausnehmend gescheit, liebenswürdig und reizvoll – und jungen Dichtern sehr gewogen!
»Laß mich damit aus!« wehrte Goethe lächelnd ab. »Du hörtest doch: von Frauen habe ich einstweilen genug. Muß mal mein Leben ohne Frauen führen, damit es in Ordnung kommt. Es wird noch viel von mir gefordert.«
Maler Kraus betrachtete sein Gegenüber nicht ohne Mitgefühl.
»Du mußt einmal herauskommen aus dieser fatalen Stimmung«, sagte er gutmütig. »Wie wär's, wenn Du mir auf die Silvesternacht in ein lebensfrohes und geselliges Frankfurter Haus folgtest? Dort geht es harmlos und heiter zu und zugleich immer splendid. Ich werde daselbst erwartet und darf jeden mitbringen, den ich will. Das wird für Dich das Beste sein, Dich auf leichtere Gedanken zu bringen.«
»Paßt der Weltschmerzliche unter die Fröhlichen?«
»Dein Weltschmerz ist bloß angeflogen, der wird wieder vergehen. Ich sage Dir, im Hause Schönemann wirst Du wieder aufleben. Bei Dir ist ja nur ein Fünklein nötig, um Dich wieder zum Aufflammen zu bringen. – Also komm mit, es wird Dir gut tun!«
»Ich will Dich bis zum Hause begleiten«, wich Goethe aus, »aber danach darfst Du es mir nicht verdenken, wenn ich mich heimlich verdrücke.«
»Warten wir ab, wie's kommt!« äußerte Kraus diplomatisch, indem er sich erhob. Nachdem sie ihre Schuldigkeit entrichtet hatten, gingen sie schweigsam hinaus.
Schmollend blickte das Schankfräulein hinter ihnen drein. Das wollten Kavaliere sein? Kaum einen Blick, nicht ein Wort hatten sie an sie gerichtet.