Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die ganzen Tage über in Zürich fühlte Goethe eine Unruhe im Herzen: als triebe ihn etwas fort. »Tief in die Welt hinein!« Das war die Losung, die er sich selbst gestellt hatte. Und die hatte er bisher nur mangelhaft erfüllt.
Wenn er im See schwamm – er und die Stolbergs waren leidenschaftliche Schwimmer – so wäre er am liebsten in die Unendlichkeit fortgeschwommen. Nur weit hinaus – weit hinaus! sang etwas in seinem Blut. Und je länger er am Orte blieb, desto mehr steigerte sich seine Unruhe. Am sechsten Tage bereits glaubte er es nicht länger aushalten zu können. Und so bestimmte er für den folgenden Tag seine heimliche Abreise. Eine Vergnügungsfahrt auf dem See, in größerer Gesellschaft, sollte sein Entweichen verdecken. Einen Frankfurter Jugendfreund, den er in Zürich wiedergetroffen hatte, Johann Jacob Passavant, einen reformierten Theologen von gefällig-anschmiegsamer Art, bestimmte er als einzigen Reisebegleiter. Die Stolbergs würde er in Zürich zurücklassen.
Seine ganze Fröhlichkeit kehrte ihm zurück, als er diesen Entschluß gefaßt hatte. Die Lustfahrt auf dem See sollte noch einmal die ganze Freundschaft vereinigen. Auch Lavater und sein Anneli waren dabei. Selbstverständlich ebenso die Stolbergs und Haugwitz. Endlich auch ein sehr niedliches Brautpaar, ein philanthropischer Schwärmer namens Schweizer und die reizende, noch sehr junge Magdalene Heß. Diese Leni hatte sich schwer in Goethe verliebt, als sie ihn nur mal durch eine Türspalte erblickt und seine dunkle, klangvolle Stimme vernommen hatte. Sie war darüber so erschrocken gewesen, daß sie »als Braut« sich gesträubt hatte, überhaupt Goethes Bekanntschaft zu machen. Doch hatte sie einer solchen nicht ausweichen können, und der Dichter, als er die Gefühle des jungen Mädchens rasch durchschaut hatte, konnte der Lockung nicht widerstehen, das kleine Flackerfeuerlein, das ihm da entgegenschlug, spitzbübisch weiter anzufachen. Dem Bräutigam glaubte er damit nicht zu nahe zu treten, da er ja keinerlei Absichten damit verfolgte. Doch warum sollte er an dem Flämmchen sich nicht erwärmen, das ihm so lieb auf seinem Pilgerpfad entgegen schien?
Es war eine fröhliche Fahrt, an einem herrlichen Tag Mitte Juni, schon zu früher Morgenstunde. Das Wasser des Sees, von einer leichten Brise angenehm gekräuselt, glitzerte und funkelte rings um den schweren, breiten Kahn, der gemächlich dahingerudert wurde, über die weit hinaus sich dehnende Fläche. Die anmutigen Ufer des Sees, mit tief zum Wasserspiegel sich neigenden Walnußbäumen und knorrigen alten Eichen bepflanzt, begleiteten die Fahrenden seitlich in mäßiger Entfernung. Nachdem man sich an einem wärmenden Kaffee-Frühstück reichlich gelabt hatte, tauchte der Vorschlag auf, mit vorher bestimmten Schlußreimen dichterisch sich zu vergnügen. Goethe, wie sich's gehörte, mußte den Anfang machen, und nach den ihm aufgegebenen Reimen schrieb er hurtig die Zeilen:
»Ohne Wein kann's uns auf Erden
Nimmer wie dreihundert werden.
Ohne Wein und ohne Weiber
Hol der Teufel unsre Leiber!«
Was die »dreihundert« zu bedeuten hatten, wurde freilich nur denjenigen offenbar, die bereits von der Faust-Handschrift des Dichters in Auerbachs Keller aufgeklärt worden waren. Und so entstand unter diesen ein anzügliches Gelächter – das Goethe dadurch unterbrach, daß er die erste der mitgebrachten Weinflaschen entkorkte und einen mächtigen Humpen damit kursieren ließ. Neben ihm saß Leni Heß, lose angeschmiegt an ihren Bräutigam, und sie mußte heftig erröten, als Goethe, nachdem sie mit dem Weintrinken den Anfang gemacht hatte, als zweiter sich bedachtsam die Stelle aussuchte, die ihre weichen Lippen berührt hatten.
Unterdes ging die Versmacherei weiter und es entstand häufiges Gelächter, wenn der Reimzwang die meist recht unerprobten oder zu besonderer »Originalität« sich verpflichtet fühlenden Dichter auf holprige Abwege führte.
Goethe aber, wie ihm das so häufig passierte, versank jäh in eine Art stiller Entrücktheit und Verzücktheit. Er fühlte wieder einmal, angesichts der wonnig ihn umgebenden Landschaft und des wohligen Kahnschaukelns, bei angenehm entfachten Fächelwinden, die ganze Gewalt und Allmacht der Natur und des darin waltenden göttlichen Geschehens. War sie doch seine große Mutter, die alles mit nährender Liebe behütete und versorgte! Und war er nicht selbst ein von ihr gespeistes Kind, noch verborgen im dunklen Schoß des Werdens? Sein Notizbuch lag vor ihm auf den Knien. Träumerisch begann er Verse zu schreiben, ganz andere als vorhin – Verse, die ihm unwillkürlich aufs Papier quollen:
Ich saug an meiner Nabelschnur
Nun Nahrung aus der Welt.
Und herrlich rings ist die Natur,
Die mich am Busen hält.
Dann glitt er sofort in die gegenwärtige Situation hinein, indem er schildernd fortfuhr:
Die Welle wieget unsern Kahn
Im Rudertakt hinauf
Und Berge, wolkenangetan,
Entgegnen unserm Lauf.
Das Wiegen des Kahnes, das Näherkommen der wolkig umkränzten Berge benebelten förmlich des Dichtenden Sinne. Ganz hineingezogen in das stille Weben und Walten der Natur vergaß er des ihm fremdgewordenen Menschenvolkes, das ihn umlärmte. Sein Herz schwoll von verschwiegener Sehnsucht – Sehnsucht, die sich unwillkürlich regte und die der fernen Geliebten galt – der einzigen wahren Geliebten seines Herzens, mit der er dieses Erlebnis hätte teilen mögen. Er sah das Gold ihrer Haare flimmern, fühlte den Glanz ihrer leuchtenden Augensterne, war wie eingehüllt in den Duft ihrer Nähe. Der Kopf sank ihm auf die Brust, er saß wie entrückt. Halb willenlos, doch um so stärker innerlich getrieben, schrieb seine Hand, was sie dem Herzen nicht verwehren konnte:
Aug, mein Aug, was sinkst du nieder?
Goldne Träume, kommt ihr wieder?
Fast erschrak er, als es dastand! Wie vorwurfsvoll starrten ihn die Buchstaben an. Durfte er denn so sich in Schwäche gehen lassen? War er nicht gerade deshalb so weit in die Welt hinaus gepilgert, um zu vergessen? Hatte er ein Recht, sich der lebendigen Gegenwart zu entziehen? Er schlug die Augen wieder empor, erblickte aufs neue die in Lebenslust erglühenden Freunde, und hörte ihr heiteres und perlendes Gelächter. Seine Hand machte unwillkürlich eine Bewegung, als scheuche sie etwas von sich hinweg. Und tapfer befreite er sich durch die niedergeschriebenen Worte:
Weg, Du Traum, so gold Du bist!
Hier auch Lieb und Leben ist.
Nun war er in die Gegenwart zurückgekehrt! Aufs neue gab er sich dem Genuß der ihn umwallenden Naturschönheiten hin und beendete sein Gedicht mit den frei quellenden Versen:
Auf der Welle blinken
Tausend schwebende Sterne,
Liebe Nebel trinken
Rings die türmende Ferne.
Morgenwind umflügelt
Die beschattete Bucht.
Und im See bespiegelt
Sich die reifende Frucht.
Rasch klappte er sein Notizbuch zu. Das brauchten die anderen nicht zu hören. Nur sich selbst hatte er das gebeichtet, nur für sein eigenes Entzücken geschildert. Ganz in sich zurückgekehrt, empfand er die Gesellschaft plötzlich wieder als fremd.
Soeben hatte man angelegt. Er winkte Passavant und rüstete sich mit ihm zu einem Marsch landeinwärts. Von den Freunden verabschiedete er sich, wie zu einem Spaziergang. Was brauchten die von seinem Vorhaben zu wissen?
Goethe stürmte eilfertig dahin. Er nahm die schwere Steigung, gleich als sei sie ein Dahinwandern auf bequemer Landstraße. Passavant keuchte hinter ihm drein. Zu merkwürdige Leute doch, diese Herren Poeten! schwirrte es durch seinen Schädel. Aber er war ein gehorsamer und pflichttreuer Bursche. Was er dem Rasenden da vorne versprochen hatte, das mußte er auch halten.
»Tief und immer tiefer in die Welt hinein! Weiter und immer weiter!« Wie ein ewig schnurrender Rhythmus hämmerte das in Goethes Kopf. Es war wie Besessenheit. Am liebsten wäre er so fort bis nach Afrika gestürmt.
Ach, daß man Flügel hätte und fliegen könnte! Je höher er stieg, je weiter die Fernsicht um ihn wuchs, desto sehnsüchtiger schwoll in ihm dieser Gedanke. Neben Passavant, der ihn endlich eingeholt hatte, einherschreitend, erging er sich in Phantasien und Ausrufen:
»Schon immer haben mich die Wolken gereizt, mit ihnen in fremde Länder zu ziehen, wenn sie hoch über meinem Haupte dahinzogen. So steh' ich jetzt oft in Gefahr, daß sie mich von einer Felsspitze mitnehmen, wenn sie an mir vorüberziehen. Welche Begierde fühl' ich, mich in den unendlichen Luftraum zu stürzen, über den schauerlichen Abgründen zu schweben und mich auf einen unzugänglichen Felsen niederzulassen! Mit welchem Verlangen hol' ich tief und tiefer Atem, wenn der Adler in dunkler blauer Tiefe unter uns über Felsen und Wäldern schwebt – siehst Du ihn dort, wie er seine mächtigen Flügel spreitet? Und jetzt – jetzt naht sich ihm sein Weibchen und beide, in sanfter Eintracht, ziehen große, weite Kreise um den Gipfel, dem er seinen Horst und seine Jungen anvertraut hat. O, wie ich ihn beneide! Soll ich denn nur immer die Höhe erkriechen, im höchsten Felsen wie am niedrigsten Boden kleben und, wenn ich mühselig mein Ziel erreicht habe, mich ängstlich anklammern, vor der Rückkehr schaudern und vor dem Falle zittern? Ach Flügel, Flügel müßten mir wachsen!«
Unter solchen Gesprächen hatten die Wanderer eine hochragende Bergspitze erreicht und schauten von ihr, unter wonnigem Schauern, auf die bestrahlte Seefläche hinab, die tief, tief unter ihnen lag und silbrig glitzerte. Ein Fahrzeug, das scheinbar schneckenhaft dahinkroch, mochte der Kahn sein, mit dem sie gekommen waren und auf dem die Freunde bereits zur Heimkehr rüsteten. Sie mochten geahnt haben, daß der Dichter ihnen entwichen war – denn sie kannten ihn. Er aber genoß in tiefer Seligkeit seine Höheneinsamkeit – der stille Passavant war gleichsam nicht mehr vorhanden – und der Traum, den er vorhin auf dem Schiffe von sich weggescheucht hatte, kehrte tückisch und selbstherrlich wieder und formte sich aufs neue in Verse. Lilis Bild bedrängte ihn und floß, fast körperlich greifbar, um ihn her. Leise summte er vor sich hin:
»Wenn ich, liebe Lili, dich nicht liebte,
Welche Wonne gäb' mir dieser Blick!
Und doch, wenn ich, Lili, dich nicht liebte,
Wär' – was wär' mein Glück?«
Daß diese Gedanken ihn nicht verlassen wollten! Solch ewig Verliebter, wie er war! War er denn ganz machtlos dawider? Konnte er derlei Gedanken nicht abwürgen? Auf tausend Schleichwegen machten sie sich immer wieder an ihn heran, umschmeichelten ihn, umgirrten ihn und machten ihn der Aufgabe untreu, die er sich vorgesetzt hatte. Aber er wollte jetzt mit eiserner Festigkeit dawider auftreten. Er wollte gewappnet sein wie ein Reisiger. Und blind und taub wider alle Lockungen und Einflüsterungen! Tief und tiefer in die Welt hinein! Die mächtigen Alpenketten überwinden! Dann hinabsteigen ins gesegnete Land Italien, wo die Götter wohnen und marmorn in der Sonne funkeln!
Einstweilen freilich mußten die beiden Wanderer sehen, daß sie für den Abend eine Herberge fanden und sich darum weiter auf den Weg machen.
Doch war Goethe vorher stürmisch, so wurde er jetzt säumig. Nicht umsonst hatte er sein Skizzenbuch mitgenommen. Das sollte ihm von jetzt ab ein lieber Weggenosse werden – und gleichzeitig ein hilfreiches Mittel, seine zuchtwidrigen Gedanken an Sachliches zu bannen. Was er Schönes, was er Anreizendes unterwegs fände, das wollte er jetzt alles zeichnen. Er war zwar kein Künstler, doch genügend geübt, sichtbare Eindrücke mit Strichen festzuhalten. Manchmal schwankte er sogar, ob das nicht seinen eigentlichen Beruf bedeutete – Augenmensch, der er war! Jedenfalls bereitete es ihm eine außerordentliche Freude, zeichnend seine Gesichtseindrücke zu vertiefen, sie gleichsam für sich zu bannen, auf daß sie ihm nicht wieder entschwinden könnten.
Tagelang marschierten die beiden so weiter, immer tiefer ins Gebirge hinein. Und neben den Zeichnungen im Skizzenbuch hielten lakonische Niederschriften im Notizbuch die einzelnen Stationen dieser Reise fest. Es war für Goethe ein Bedürfnis, sich über alles Rechenschaft zu geben. Fast gewaltsam trachtete er danach, das ihn durchwogende Leben, sei's in Worten, sei's in Linien, nach außen hin zu verlegen und dadurch innerlich abzudämpfen.
Abteien und Wallfahrtskirchen zu besichtigen, wurde so wenig verschmäht, wie dunkle Tannenforste zu durchschreiten und über Schneefelder hinzustapfen. Landseen wurden befahren und hohe Berge erklommen, getürmte Wolken beobachtet und fliehende Nebelschwaden verfolgt. Glockengebimmel und Brunnengeplätscher interessierten nicht minder wie Waldesrauschen und Föhngebrause. Und auch was es unterwegs zu speisen gab, mal trefflicher Käse, mal gebackene Eier und Fische, durfte nicht unvermerkt bleiben. Hie und da machte Goethe auch den Versuch, eine Landschaft, statt sie zu zeichnen, mit hingehackten Worten nach Farben und Formen genauestens festzuhalten, gleichsam als wolle er eine Direktive für ein künftiges Gemälde geben. Alles regte ihn an, jeder neue Anblick machte ihn produktiv. Als er nach Luzern und Altdorf kam und den Vierwaldstätter See befuhr, kam die Tellsage mit solcher Macht auf ihn zu, daß er sie sich zurechtlegte für ein künftiges Epos.
Ob Zeichner, ob Dichter, in ewiger Rastlosigkeit war er tätig. Und hätte am liebsten große Teile seines künftigen Lebens und Schaffens vorausahnend vorweggenommen.