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Alles trieb Goethe jetzt weiter heimwärts.
Er fühlte ein Kraft- und Sehnsuchtsgefühl in sich, das ihn wie mit zauberhafter Helligkeit durchdrang – und das er vor allem ungestört sich wollte auswirken lassen. Deshalb ging er auch nicht wieder nach Emmendingen, wiewohl es auf seinem Wege lag. Zu heftig hatte die Schwester in seinen Busen gegriffen, mit der heiligen Leidenschaft ihrer Liebessorge – aber in seiner jetzigen Stimmung würde sie ihn damit mehr verwirren als erlösen können. So strebte er geradenwegs wieder nach Straßburg hin, wo er in dem gefühlvollen und schmiegsamen Lenz just das Echo finden würde, dessen er bedurfte.
Der Freund empfing ihn mit loderndem Enthusiasmus, fast bis zu Tränen gerührt vor Freude, daß Goethe diesmal bei ihm abstieg. Er bemühte sich um ihn schier wie eine Geliebte. Überließ ihm sein Lager, putzte seine Schuhe und bürstete seine Kleider, bereitete ihm das Morgenfrühstück und schien selbst die Sonne eigens zu bitten, daß sie ins Zimmer scheinen möchte, um dem Besucher wohlzutun. Goethe ließ es sich gefallen, schon weil er dem Guten die Freude nicht verderben wollte. Um so mehr genoß er ihre gemeinsamen Gespräche. Diese waren von seltenster Harmonie erfüllt. Lenzens eigentümliche Gabe einer fast frauenhaften Einfühlungskraft, die zugleich belebt und geadelt wurde durch die Fülle feinster Einfälle und Gedanken, zeigte sich in hellerem Lichte denn je. Er wuchs förmlich über sich selbst hinaus, nicht bloß an Wärme der Liebenswürdigkeit, auch an sprudelndem Reichtum phantasievoller Sprache und dichterischer Tiefblicke. Es war, als habe Goethes Gegenwart das Letzte in ihm befreit, alle Bande des Herzens sowohl als der Zunge gelöst und damit zugleich ein Glücksgefühl in ihm erweckt, das ihm wie Strahlenglanz von der Stirn leuchtete.
Gleich am ersten freien Vormittag verabredeten die Freunde, gemeinsam den Münsterturm zu besteigen. Sie nannten das ihre Wallfahrt zu Meister Erwins, des Dombaumeisters, Grabe.
Lenz hatte, wie gewöhnlich, in der Stadt noch einige Besorgungen zu machen. So stieg Goethe zunächst allein die Stufen des ehrwürdigen gotischen Turmes empor.
Ganz langsam, von Absatz zu Absatz immer zwischen dem kunstvollen Maßwerk der hochgezogenen Fenster von Blicken festgehalten, die mehr und mehr über die Dächer der unter ihm versinkenden Stadt in das umgebende Land hinausschweiften. Es wurde für ihn eine Stunde der hellsten Erleuchtung.
Ihm war, als müsse er sich Rechenschaft ablegen über das, was er war, was er bisher erreicht hatte, und was er auf seinem weiteren Geistesgang sich als Ziel zu setzen habe. Je höher er stieg, desto mehr sanken die Beklemmungen des Alltags wie Nebelschwaden von ihm ab und sein Blick wurde größer, freier und sieghafter.
Klar wollte er sehen, von den ärmlichen Flausenmachereien kleiner Seelen und mittelmäßiger Gehirne in keiner Weise sich das Auge trüben lassen. Mehr denn je wollte er dem Wahren dienen und in voller Aufrichtigkeit sein Weltbild bauen. Doch nicht als ängstlicher Tüfteler und Steinchensetzer, sondern bewegt von dem allgewaltigen Hauch belebender Liebe. Daß diese Liebeskraft in seinem Herzen glühte, betrachtete er als sein höchstes Glück. Sie vor allem dünkte ihm das wahrhaft Schöpferische seiner Natur, und mit scheuer Ehrfurcht dankte er sehnsüchtig der fernen Geliebten, die durch ihr bloßes Dasein diese Flamme in ihm wach hielt.
Mit solcher Übermacht stürmten die Gedanken auf ihn ein, daß er sich genötigt sah, sie schriftlich festzuhalten. Seite für Seite füllten sich die Blätter seines Taschenbuches, wie in seligem Taumel flogen die Buchstaben auf das Papier.
Es rang sich in ihm los wie ein Gebet. Aller großen »Gedanken der Schöpfung« ward er nochmals inne, die er in den letzten Wochen hatte in sich aufnehmen können: des Rheinfalls bei Schaffhausen; der glitzernden Spiegelfläche des Züricher Sees; der gewaltigen Schneefelder und Wolkenfelsen des Sankt Gotthard. Und er betete, daß der schaffende Geist, der in diesen Naturgestaltungen sich offenbarte, auch in ihm fürder rege sein möge, als vorwärts treibende Schöpferkraft.
Die Heiligkeit des Ortes, an dem er sich befand, spiegelte sich in seinem Geist mit erhebenden Vorstellungen religiöser Erbauung wider. Wie von Station zu Station wähnte er emporzusteigen, doch nicht einen Weg der Passion, sondern der inneren Befreiung. Von dem Troß hämischer Neider und mißverstehender Stümper wollte er sich immer bewußter freimachen und mit verstehenden und gleichstrebenden Freunden jenem Bereiche »schöpfungsvoller Künstler« sich nahen, das ihm als erstrebenswertes Paradies erschien, in dem allein er sich wohlzufühlen vermochte. Nicht bloß wie die Gaukelbilder eines Raritätenkastens sollte die Welt vor ihm erscheinen, in verschwimmenden und schwankenden Eindrücken, sondern – – –
Da unterbrach Lenzens Ankunft den eifrigen Schreiber. Doch sofort nahm er seine Gedankengänge wieder auf und fand in der empfänglichen Seele seines Freundes das goldene Gefäß, in das er alles hineinschütten durfte, was ihn bewegte. Mit jener unbegrenzten Hingabefähigkeit, die ihn auszeichnete, ließ Lenz Goethes lebendige Gedankenflut in sich einströmen und wies ihr mit dem Freunde zusammen das Bett, in dem sie dahinfließen konnte. Die Umgebung der baulichen Kunstschöpfung, in der sie sich befanden, wirkte für sie wegweisend. Und unter der Betrachtung der harmonievollen Strenge in allen architektonischen Abwägungen kamen sie überein, daß das »aufschwellende Gefühl der Verhältnisse, Maße und des Gehörigen« es sei, das durch seinen Formzwang den dichterisch erregten Menschen erst zum »Künstler« mache. Und daß nur in solcher Zucht der Selbsterziehung, mitten im Zustrom unermeßlicher Eindrücke, ein »selbständig Werk« entstehen könne, das »wie andere Geschöpfe« durch individuelle Keimkraft hervorgetrieben werde.
Sie standen, freundschaftlich umschlungen, auf der obersten Plattform, als sie mit diesen Gedanken bei sich im reinen waren. In Goethe namentlich regte sich ein geradezu feierliches Gefühl innersten Erfülltseins. Ihm war, als werfe er eine Schau über ein geistiges Wachstum von Jahrzehnten, das sich vor ihm ausbreitete. Eine Strenge der künstlerischen Gesinnung, wie er sie in solcher Absolutheit als Festsetzung der Selbstzucht bisher nicht gekannt hatte, wuchs in ihm empor als wegweisende Macht. Doch eingehüllt in ein Medium warmer Empfindung, für die er nur das eine Wort »Liebe« wußte! Er war so glücklich in diesem Gefühl, daß er den Freund mit Innigkeit an sich preßte und auf beide Wangen küßte. Was Lenz mit einer Art von heißer Verschämtheit, errötend, erwiderte.
Längere Zeit standen sie noch, beinahe verstummt, im Anblick der über das nahe Häusermeer zackig zueinander gedrängten Dächer sich dehnenden Landschaft. Glitzerte da nicht im Dunst das Silberband des Rheinstromes? Und ganz in der Ferne, diese grauenden Bergketten, waren das nicht die Höhenzüge des Schwarzwaldes? Deutsches Land, so weit sie blicken konnten, von deutschen Menschen bewohnt und durch deutsche Dichter und Kunstmeister verherrlicht! Wie eine Lächerlichkeit, wie ein Widersinn mutete es sie an, daß auf der Stelle, wo sie standen, ein fremder Volksstamm regierte; und daß ein fremdsprachiger Turmwart sie mürrisch aufforderte, nun endlich hinabzusteigen, weil die Mittagsstunde geschlagen habe.
Noch mehrere Tage blieb Goethe in Straßburg. So sehr es ihn im letzten Grunde seines Innern fortzutreiben suchte, so wenig vermochte er doch sich jählings loszureißen. Viele alte Erinnerungen stiegen in ihm auf, die fast bis zu Heimatgefühlen sich verdichteten. So manches alte Haus, so mancher stille Winkel, auch die wohlvertraute Weinstube, in der er mit dem alten Freunde Salzmann sich wieder einmal traf, und immer wieder das Münster, mit der kunstvoll herrlichen Steinrosette über den Portalen der Turmfront, sprachen zu ihm mit heimlich-anheimelnder, leise-machtvoller Sprache. Dazu kam ein unerwarteter Besuch, der am dritten Tage seines Dortseins eintraf und ihn in eigentümlicher Weise fesselte. Es war dies ein seit langen Jahren in Hannover wohnender Schweizer, der Arzt und Popularphilosoph Johann Georg Zimmermann, der auf einer Besuchsreise in seine Heimat begriffen war. Goethe kannte ihn aus mancherlei Schriften, deren redlicher und klarer Sinn ihn sympathisch berührte, und hatte vor allem von ihrem gemeinsamen Freunde Merck viel Vorteilhaftes über ihn gehört. Er fand jetzt, daß Zimmermann im persönlichen Verkehr sehr gewinne, zumal er durch sein einfaches, verständiges und durchaus männliches Wesen gegen den auf die Dauer doch manchmal weichlich wirkenden Lenz vorteilhaft abstach. Von weltmännischem Auftreten und angenehm vielseitiger Bildung, sprachgewandt und urteilsreif, gewann der etwa Fünfundvierzigjährige unwillkürlich einen Einfluß auf den aufhorchend ihn beobachtenden jungen Dichter.
Eine besonders enge Beziehung aber entstand dadurch, daß Zimmermann in den physiognomischen Zeitstudien bestens beschlagen und ein eifriger Silhouettensammler war. Als Goethe ihn einmal mit Lenz auf seinem Hotelzimmer besuchte, legte er ihnen eine reichhaltige Kollektion vorzüglicher Schattenrisse vor, die er aufs interessanteste zu erläutern wußte. Mit Vergnügen bemerkte er Goethes besonderes Interesse, hielt daraufhin mit seinen eigenen Beobachtungen und Kenntnissen höflich zurück und ermunterte desto mehr den jungen Dichter zu persönlichen Deutungen – deren Scharfsinn und Durchleuchtung den erfahrenen Seelenarzt oftmals in höchliches Erstaunen versetzten. Besonders eingehend besprachen beide die Silhouette einer ebenso zartfühlend als vornehm wirkenden Dame, etwa Anfang der Dreißig. Es war eine weimarische Hofdame und Gattin des dortigen Oberstallmeisters von Stein.
Goethe konnte sich von der Betrachtung dieser sensitiven Züge gar nicht losreißen. Er fing an, über das menschliche Wesen der hier Dargestellten in seiner lebhaften und bilderreichen Art sich phantasierend zu verbreiten. Und so forderte Zimmermann ihn auf, seine Eindrücke schriftlich unter den Schattenriß zu setzen.
Goethe besann sich nur kurz, dann schrieb er hin: »Es wäre ein herrliches Schauspiel, zu sehen, wie die Welt sich in dieser Seele spiegelt. Sie sieht die Welt, wie sie ist, und doch durch's Medium der Liebe. So ist auch Sanftheit der allgemeinere Eindruck.«
Zimmermann las und war noch erstaunter denn je. »Niemals«, sagte er, »hat man über eine Silhouette mit mehr Genie geurteilt, niemals von einer lebenden Persönlichkeit mit mehr Wahrheit gesprochen.«
Goethe selbst aber war, kaum hatte er's geschrieben, in seltsamer Weise beklommen und betroffen. Was hatte er denn da über einen fremden Menschen für eine Charakteristik geäußert? Das klang ja fast wie ein Selbstbekenntnis! »Wahrheit, geschaut durch das Medium der Liebe.« Das war doch der Inhalt all der Gedanken, die ihn in diesen Tagen so mächtig und anfeuernd bewegten. Ohne daß die beiden anderen sich seine Erregung zu deuten wußten, war er auf einmal purpurrot übers ganze Gesicht geworden und wandte sich in Verlegenheit ab.
Daß doch immer wieder diese Regung der Liebe jetzt mächtig über ihn wurde! War dies, weil Lilis Bild unaufhörlich in ihm schlummerte und um Erweckung flehte? Auf einmal sah er die Gestalt der Geliebten fast greifbar lebendig vor sich, mit all jenem zauberhaften Liebreiz, dem gegenüber er so ohnmächtig war. Wie seltsam, daß diese Frau von Stein, die er nicht kannte, solche Seelenbewegung in ihm beschwor! Es war ihm versprochen worden, sie kennenzulernen, wenn er einmal nach Weimar käme. Doch was kümmerte das ihn jetzt? Lili war's, die ihn rief – Lili, die Königin seines Herzens!
Und er beschloß, nun nicht länger mehr zu säumen und gleich den folgenden Tag sich ein Reitpferd zu verschaffen und so schnell wie möglich Frankfurt zuzustreben.
Von Lenz verabschiedete er sich ein wenig kühl. Er schalt sich deshalb, aber er vermochte nichts anderes über sich zu bringen. Dies ewige Gerede von ihrer gemeinsamen »Ehe« war ihm zum Überdruß geworden. Es war schon fast etwas Krankhaftes in dieser ununterbrochenen, zärtlich gehätschelten Überschwenglichkeit. Gewiß, er liebte und ehrte Lenz, den Dichter und Freund. Aber manches an ihm konnte zum Überdruß werden. Als Goethe ihm jetzt zum Abschied, schon vom Pferde herab, die Hand reichte und Lenz diese unter Tränen preßte und küßte, zog er sie fast unfreundlich zurück.
Er gab seinem Roß die Sporen, winkte noch einmal mit dem Rundhut seiner ihm auch bereits unliebsam gewordenen Werther-Montur und fühlte etwas wie ein Gefühl der Erleichterung, als die nächste Straßenecke ihn den Blicken und dem Gewinke seines Freundes entzog.