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Ermüdet von den vielen Menschen und ihrem ewigen Ausfragen und geflissentlichen Belauern, kam Goethe eines Abends nach Hause. Lavater saß in seinem Arbeitszimmer, im Gespräch mit seinem Helfer Pfenninger, einem jungen Theologen, mit dem Goethe bereits Briefe gewechselt hatte und der ihm als gerader und ehrlicher Mensch, trotz einer gewissen pfäffischen Beschränktheit, sympathisch war.
Die Begrüßung war herzlich, und ein dampfender Glühwein, den die Hausfrau freundlich hereintrug, tat das seinige, die Stimmung zu erwärmen. Goethe saß in der Sofaecke neben Pfenninger, während Lavater, in seinem hohen Lehnstuhl, ein Buch auf den Knien, eifrig sprach.
Seiner weichen, gefälligen, manchmal schwelgerischen Stimme zuzuhören, war, rein als sinnliche Wirkung, für Goethe ein Genuß. Soviel Wohlwollen, und strebende Menschengüte, ja im eigentlichsten Sinne Liebeskraft tönte aus diesen Lauten, daß der mitunter etwas verworrene und tastende Inhalt beinahe zur Nebensache wurde.
Lavater erzählte von einer reichen und vornehmen Witwe, die er am Nachmittag besucht hatte und die ein tiefunglücklicher, weil durch und durch zweiflerischer Mensch war. Sie vermochte den seelischen Grund nicht zu finden, auf dem sie stehen konnte. Da hatte Lavater es unternommen, ihr die Gestalt Christi nahe zu führen, als den großen Quell der erlösenden Liebe. Und er glaubte es erreicht zu haben, wo nicht eigenes Nachdenken, so doch fühlende Sehnsucht in einer schwankenden und irrenden Menschenseele erweckt zu haben.
»Ja, Du verstehst es, die Weiblein brav und sorglich zu führen«, warf Goethe, leicht scherzend, hin.
»Ich finde, mein lieber Doktor Goethe«, bemerkte Pfenninger in mildem Lehrton, »man sollte von derlei Dingen in einem minder leichtfertigen Ton sprechen.«
»Machen Sie sich immer noch Sorge um mein Seelenheil, lieber Pfenninger«, erwiderte Goethe, etwas gezwungen lachend. »Das taten Sie schon damals, als Sie vor einem Jahr an mich schrieben. Und ich bin seitdem, muß ich fürchten, an christlicher Gesinnung nicht gewachsen.«
»Leider, leider«, mischte Lavater sich ein. »Du weißt nicht, Goethe, welch aufrichtiger Schmerz es für mich ist, Dich unter den Nichtchristen zu wissen. Um wieviel beruhigter sähe es in Deinem Innern aus, wenn Du den wahren Glauben an Jesum Christum gefunden hättest!«
»Was wollt Ihr nur immer mit Eurem Christus?« fuhr Goethe auf. »Gewiß, er ist auch der meine, als eine sehr liebenswerte Persönlichkeit – durchaus würdig einer wahren und tiefen Verehrung! Aber doch nur eine geschichtliche Erscheinung – ein Mensch wie wir alle – in seiner besten Auswirkung zweifellos ein Sinnbild, ja, eine wirkende Kraft des Göttlichen in uns – aber doch nicht, was wir ›Gott‹ nennen dürfen – der für mich das größte und erhabenste Geheimnis bleibt! Was ist dieser denn anderes als die allschöpferische Naturkraft, die über allem Menschlichen steht, als Ewig-Unbegreifliches!«
»Das ist glatter Pantheismus und Heidentum und weit von allen christlichen Heilswahrheiten entfernt«, sagte Pfenninger dezidiert.
»Hör' mich an, Goethe!« begann jetzt Lavater. »Du selbst hast mir einmal gesagt: Wir brauchen einen Messias, wir harren auf ihn, wir glauben an ihn. Gut und schön! Aber das sagen die Juden auch. Ich jedoch entgegne Dir: Es gibt einen Messias! Jesus von Nazareth ist's! Wie kannst Du an eine Gottheit glauben, wenn Du nicht an Jesum Christum glaubst? Quillt nicht die ganze Machtfülle der Liebe aus ihm? Hat er nicht Millionen und aber Millionen von Menschenherzen getröstet und selig gemacht? Wer hat das sonst außer ihm vermocht? Niemand! Weil aus niemandem Gott selbst zu uns gesprochen hat als aus Christus! Und deshalb ist Christus Gott – mag er auch in seiner unendlichen Gnade sich dazu herabgelassen haben, menschliche Gestalt anzunehmen und als Mensch unter uns zu wandeln.«
»Gott als Mensch und Mensch als Gott, das dünkt mich einen Unfug mit lauter relativen Begriffen«, gab Goethe zur Antwort. »Damit verwickeln wir uns in einen ewigen Wortstreit, aus dem wir uns kaum je wieder herausfinden werden. Ihr sprecht vom Glauben! Aber bin ich denn ein Ungläubiger? Ich mit meinem tiefen, innersten Haften in der Gesamtheit unseres Daseins, als der allschaffenden Natur! Liegt darin denn nicht allenthalben das Göttliche enthalten? Muß es durchaus ein Mensch sein, in dem wir das Göttliche verehren: also im Vergleich zum großen Ganzen doch nur eine winzige Teilerscheinung, in der die Göttlichkeit gleichsam zu Fleisch und Blut geronnen ist?! Schaut doch hin auf die Werke der Natur! Immer wieder erscheinen sie mir wie ein erstausgesprochenes Wort Gottes: göttlich bis ins Innerste!«
»Das ist und bleibt Materialismus und ist als solcher sündig«, beharrte Pfenninger. »O, vermöchten wir es nur, Dich aus dessen Verstrickung zu befreien, armer Erdenmensch!«
»Ja, so ist es, Goethe«, nahm Lavater wieder das Wort. »Wir möchten Dich befreien! Weil wir Dich lieben, in Deiner herrlich-schönen Menschlichkeit und in Deinem hohen und innigen Wahrheitsstreben – magst Du nun Christ sein oder Nicht-Christ. – Dachte nicht so auch schon Deine heimgegangene Freundin, die gottselige Susanna von Klettenberg? Wie tief und schmerzlich hat sie sich um Dich gemüht, weil Du zu Jesus den Weg nicht finden wolltest! Ganz wie sie, so fühle auch ich. Gleich ihr würde ich es als namenlose Freude empfinden, wenn Du eines Tages vor mich hinträtest und sprächest: ›Ja, ich glaube an Jesum! Aber nicht, weil Du es sagst, Lavater, und so von mir hören willst – sondern weil ich es inwendig erfahren habe, glaube ich, Wolfgang Goethe, daß Gott in Jesus Christus ist.‹ – O, daß die Klettenbergerin noch lebte und mir zur Seite stünde! Sie, die es so wundervoll auszudrücken wußte, wie Jesus die auf Abwege geratenen Menschenkinder sucht, – wie er durch Hecken und Dornen bricht, um sie zu finden – und wie er grade dann am innigsten sich an sie herandrängt, wenn die verlassene Seele sich verzweifelt von ihm abkehrt. O, wie wußte sie das Glück des wahren Jesusglaubens zu schildern! Und dieses Glückerlebens, inniggeliebter Goethe, möchte ich Dich teilhaftig werden sehen! Es ist ein Glück! Ein tiefes und echtes Glück – wie Du es Dir gar nicht auszudenken vermagst.«
»Jeder Mensch muß den Weg zu seinem Glücke sich selbst suchen und bahnen, teuerster Lavater!« erwiderte Goethe. »Mein Weg ist mir vorgezeichnet und es wäre Sünde wider mich selbst – ja, Sünde wider den heiligen Geist, wie ich ihn verstehe – wollte ich davon abweichen. – Du hast warm und innig gesprochen, Freund. Aber nicht in die Kirche führt mein Weg – sondern, wie ich schon sagte, in die freie, heilige Natur, die ich nicht umsonst Gottesnatur heiße. – Jedoch: wie ins Offenbarste und Weiteste, so führt mich mein Weg auch ins Heimlichste und Engste: in das Innerste der Menschenseele und vor allem meines eigenen Ichs. Das mag Euch beiden Christenmenschen nun gar erst recht sündig und heidnisch erscheinen. Aber ich sage Euch und werde jederzeit dazu stehen: Als Söhne Gottes sollen wir Ihn in uns selbst suchen und anbeten: in uns – wie in allen seinen Kindern! Denn in mir suche ich die Menschheit und in der Menschheit mich selbst. Darum gilt mir das Wort der Menschen als Wort Gottes, es mögen Pfaffen oder Huren es vor mich hinstreuen. Gerade als Dichter darf ich unter Menschen keinen Unterschied machen. Alles, auch das Alltäglichste, auch das Mittelmäßigste, ja, das Verworfenste, ist so bedeutsam wie das Ausgezeichnetste. Denn aus allem spricht Gott. Man muß nur das Gehör haben, ihn auch aus der niedrigsten Knechtsseele heraus noch zu vernehmen.«
»Ich danke Dir, Goethe!« rief Lavater voll ehrlicher Begeisterung, sprang auf und ergriff des Freundes Hände. »Wenn Du auch wähnst, als Nicht-Christ zu mir gesprochen zu haben, so habe ich Dich doch, mehr als Du ahnst, diesmal als Christen reden hören. Fühlst Du doch die Gotteskindschaft aller Menschen. Wir befinden uns hier also wirklich bloß in einem Wortstreit. Im Innersten meinen wir zweifellos das gleiche.«
»Das soll mich freuen«, sagte Goethe, doch es klang reserviert. »Es ist schön, wenn Ziel und Gesinnung übereinstimmen, gerade wo die Wege auseinandergehen. Vergessen darf man indes niemals, daß jeder nur aus der Art seiner persönlichen Denkverfassung heraus zu urteilen vermag und mehr oder weniger das Trugbild seiner Einbildungskraft für die Realität der Dinge nimmt. So hat schon Spinoza, der Meister beobachtender Seelenforschung, gelehrt, daß die ewigen Kontroversen der Menschen nur auf diesen einen Punkt zurückzuführen sind: auf Mißverständnisse, die aus Worten stammen!« Wärmer werdend, fuhr Goethe fort: »Und so will ich denn, teuerster Bruder, Dir Deinen Christusglauben und alle Deine Ideale von Herzen gönnen. Mir aber mußt Du gestatten, auf meine Art wahr zu sein – und gut und böse, wie die Natur.«
»Du hörst, Lavater«, wandte Pfenninger ein, »er selbst muß zugeben, daß die von ihm vergottete Natur ebenso böse wie gut sein kann. Gott aber und unser lieber Heiland Jesus Christus ist die reine Güte und große Liebe. Und das ist ein gewaltiger Unterschied.«
»Lieber Pfenninger«, wendete sich Goethe jetzt direkt an diesen. »Ich könnte Euch beide direkt beneiden um Eure Fähigkeit, an eine Allgüte zu glauben und darauf als ein Ausschließliches zu vertrauen. Für mich, dem Glauben und Schauen aufs engste zusammengehen, liegt dies leider außerhalb des Kreises der Erfahrungstatsachen. Aber mag die Natur auch böse erscheinen, wo sie im einzelnen sich auswirkt als zerstörerische und vernichterische Kraft, die jegliches Lebewesen zum Fraße für andere Lebewesen bestimmt und immer aufs neue zu diesem Zwecke erschafft: doch daß sie erschafft – immer weiter erschafft – unabsehbar und ewig, bis ans Ende aller Tage – das macht sie doch auch wieder grenzenlos gut! So, wie ich ein Gutsein verstehe, nämlich als unermüdliche Fruchtbarkeit und zeugende Aufbauarbeit zum Heile aller, die da kommen werden und zum ewigen Fortbestande alles blühenden Seins. – Das ist mein Glaube, gegründet auf Schauen. Ein Glaube, der gewiß so gut wie Eurer in die Seele dringt und sie stark und arbeitsfroh macht und zu allen guten Taten fähig! Wirkt darin nicht ebenfalls ›Gott‹, wie man ihn auch nennen und bekennen mag?«
»Wir müssen ihn schon lassen, Bruder, wie er ist«, wandte sich jetzt Lavater gleichfalls an Pfenninger. »Er ist nun einmal, so sehr er sonst unser treuer Freund und Bruder bleibt, in diesen Dingen anders als wir. Anders in seinem geistverbundenen Streben, ob auch nicht anders in seinem seelischen Sein. Und wie er auch sich zeigen mag, so bleibt er doch ein guter Mensch! Die Seligkeit des Dienens freilich, in der wir unseren Beruf erkennen, hat er noch nicht erfaßt. Er ist ein Herrenmensch und will herrschen. Er müßte König sein. Oder wenigstens ein herrliches, handelndes Wesen bei einem Fürsten. Dahin gehört er und dort kann er Segen wirken.«
Goethe erhob sich lachend aus seinem Sitz und tat ein paar Schritte ins Zimmer.
»Ich weiß nicht«, rief er aus, »was die Welt immer damit will, daß ich zu Fürsten und Königen hingehöre! Mir liegt indes nichts daran, mit deren Hilfe zu herrschen und zu kommandieren. Mir selbst will ich gehören, das ist mein Wunsch. Denn ich bin nun einmal der Ich! Und als Ich will ich in die Welt gehen und der Welt gegenübertreten. Und so auch der Natur und selbst Gott: als der Wolfgang Goethe aus Frankfurt am Main, Dichter und so weiter! Wir werden uns dann schon miteinander aufs beste verständigen: der Gott und der Ich!«
»Du siehst, wir müssen ihn lassen, Bruder«, sagte Lavater noch einmal. »Er ist nicht zu ändern.«