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»Alles um Liebe!«

Zwei Tage später war er abermals in Offenbach.

Jegliches Dasein ohne Lili war ihm völlig als sinnlos erschienen. Tag und Nacht hatte er nur an sie gedacht. Hatte einzig in ihrer Atmosphäre wollüstig gewebt und gelebt. War allem übrigen in fast beleidigender Weise aus dem Wege gegangen.

Warum in aller Welt war er denn nach diesem Frankfurt überhaupt zurückgekehrt, wenn nicht rätselhaft angezogen vom Phantasiebild ihrer Huldgestalt, unwiderstehlich umstrickt von der Magie ihrer Lieblichkeit?!

Auch Lili mußte Ähnliches in diesen zwei Tagen durchlebt und durchlitten haben. Ihre Reserve war wie hingeschmolzen. An irgendwelche Auseinandersetzung dachte sie nicht. Kaum stand er vor ihr, da schluchzte sie wie krampferlöst auf und sank, halbentseelt, ihm an die Brust. Und hemmungslos duldete sie, daß sie von seinen Armen umschlungen, auf Hals, Nacken, Wangen, Mund von seinen Küssen begierdevoll gesucht wurde.

War jemals Trennendes zwischen ihnen gewesen? Undenkbar, daß sie nicht ganz und für immer zusammengehören sollten!

Im Lusthaus des Gartens stand eine kleine Ruhebank, so recht ein heimeliges Plätzchen für zwei. Darauf saßen sie, eng zueinander hingeschmiegt, in seliger Selbstvergessenheit. Die von Blumenduft durchschwängerte Enge des Raumes umschloß sie wie in Weltabgeschiedenheit. Traumumfangen-fern von aller Menschheit. Was gab es denn noch auf der Welt – außer ihnen beiden – außer ihrem Glück?

Still vor sich hinschwärmend, malten sie sich eine Zukunftsseligkeit aus, so vollkommen, so ungetrübt, daß nur ein Paradieseiland sie umschließen konnte.

Ja, so sollte es einmal sein: eine »selige Insel« sollte sie aufnehmen, und dort wollten sie ein Robinson-Dasein führen, umspült vom Ozean, überrauscht von Palmen und umflattert von der Pracht farbenbunter Paradiesvögel.

Vor allem Lilis von Märchenbüchern noch erhitzte Phantasie überließ sich willig diesen Gaukeleien. Kaum genug konnte sie sich darin tun, derlei exotische Idylle sich kindlich und sehnsüchtig auszumalen.

Und Goethe, der stolze, selbstbewußte Mann, lauschte diesem mädchenhaften Geplapper, gleich holden Versprechungen trunkener Weisheit.

Schließlich suchte er dennoch diese Zukunftspläne auf ein etwas realeres Gebiet überzuleiten und fragte, mit stockender Stimme, bei Lili an: ob sie wohl ganz ehrlich und frei heraus bereit sein würde, ihr gegenwärtiges Dasein hinter sich zu werfen und ihm in die Welt hinaus zu folgen? Etwa nach Amerika, wo tapfere junge Kolonisten, die sich von den Vorurteilen und Beengungen des alt gewordenen Europa frei gemacht hätten, ein von Grund auf neues Menschendasein ins Leben riefen.

Lili war begeistert. Ja, Amerika, das war seit langem schon das Land ihrer Sehnsucht!

»Rufe mich, wohin Du willst!« brach es aus ihr hervor. »Überallhin werde ich Dir folgen! Ich sehne mich ja nach nichts anderem, als in ein makelloses menschliches Urdasein, wie unser herrlicher Meister Rousseau es uns angepriesen hat, unterzutauchen.«

Mit Entzücken blickte Goethe auf das heißglühende Antlitz der Geliebten.

War es nicht rührend, dieses Eingeständnis, mit dem sie sich, in kindlichem Eifer, in seine Arme gab und in seine Gefühlswelt einzuschmiegen trachtete? Welche Reinheit der Gemütssprache klang aus dieser rückhaltlosen Glaubensinbrunst! Und diesem Engelsgeschöpf hatte er entfliehen wollen? Da mußte er wohl ganz von allen guten Geistern verlassen gewesen sein!

»Wirklich?« forschte er voll Innigkeit. »Du könntest Dich entschließen, allem Hold-Gewohnten zu entsagen? Familie, Verwandtschaft, Vaterland, ja Europa hinter Dich zu legen und mir in ein ganz neues Land zu folgen – mag es nun Amerika oder sonstwie heißen?«

»Warum denn nicht?« erwiderte sie mit kindlichem Ernst. »Wenn wir hierdurch für unseren Liebesbund die volle Freiheit erlangen?«

»Ja, das allein ist die starke Liebe«, rief Goethe aus, »die jeglichen Opfers fähig ist. Alles um Liebe! das ist seit langem schon mein heiliger Wahlspruch. Ich habe seine Kraft und Wahrheit nie so stark empfunden wie eben jetzt!«

»Ein herrlicher Wahlspruch! Der herrlichste von allen!«

»Fühle ganz seine Kraft und Bedeutung!« drang in sie der Dichter. »Existiert nicht der gesamte Kosmos einzig durch die Macht der Liebe? Die Liebe ist das schöpferische Element, das alles bewegt, alles jung macht, alles erneuert. Ohne Liebe existiert nicht Baum noch Strauch, stiege nicht die Lerche jubelnd zum Himmelsblau empor und wären wir Menschen in ewiger Barbarei und Stumpfheit befangen. Nur als Liebende können wir uns all der wundervollen Gottesgaben dieser Erde erfreuen, nur als Liebende die Erleuchtungen des Geistes empfangen und sie hinaustragen in die Welt, damit sie als fruchtbringende Saat die Herzen der Menschen beleben. Darum gehört all mein Sein und Wirken der Liebe an, zumal aber mein gesamtes dichterisches Schaffen, das allein von der Liebe Atem und Wärme empfängt.«

»Doch ein ganz kleines Teilchen von dieser großen Liebe«, versetzte Lili mit schelmisch-gespielter Eifersüchtelei, »wirklich nur ein ganz winzig-kleines Teilchen gehört doch wohl auch mir? Oder ist das etwa unbescheiden?«

Und blitzte ihn an mit allerliebster Drollerie!

In stürmischer Verliebtheit zog Goethe sie an sich und bedeckte sie über und über mit Küssen.

»Alles!« rief er. »Alles gehört Dir! Wie könnte es anders sein? – Alles schwingt in uns, alles kreist in uns, beseligt-beseligend, wonne-erfüllt. Und wenn wir unser Alles dahingeben – verschwenderisch, wie wir sind – so strömt auch alles wieder von neuem in uns zurück: weil Liebe niemals enden kann, ewig sich erneuert, das wahrste und einzigste Unterpfand der Unsterblichkeit!«

»Ich bin so froh«, hauchte Lili. »So innig-froh, daß ich Dich wiederhabe! – So habe ich mich also doch nicht in Dir getäuscht. Und alles Böse, das man Dir angehängt hat, ist zunichte geworden. – Nun will ich Dich auch ganz behalten. Was immer Du von mir verlangst, es sei Dir gewährt.« Hingebend sank sie an ihn hin.

In Goethe schwoll es heiß und siedend auf. Wußte das süße junge Ding da, was sie ihm hiermit versprach? Die Versuchung war groß, sie stürmisch an sich zu reißen. Klopfte nicht Lilis Herz hörbar an seinem? Wenn er sie jetzt stärker an sich zog, wo gab's da noch Hemmungen? – Doch wenn er in ihre unschuldigen Blau-Augen blickte, die so vertrauensvoll zu ihm aufschauten, dann schämte er sich fast seiner aufsteigenden Begierde.

Ein Zittern überkam ihn. Schweißtropfen sickerten ihm in die Stirn. Und mit tastender Hand fuhr er über sein feuchtes Haar.

Lili blickte ihn verwundert an.

»Was ist Dir, Geliebter?« fragte sie betroffen. »Du bist auf einmal so verändert! Dir ist doch nichts zugestoßen?«

»Laß, Kind!« beschwichtigte Goethe. »Ein vorübergehendes Schwindelgefühl! Hat nichts zu bedeuten. – Sieh, mir wird schon wieder freier!«

Und er zwang sich, ihr mit ruhiger Klarheit in die Augen zu blicken.

Doch Lili war entzaubert. Leise erhob sie sich.

»Also über den Amerikaplan sprechen wir noch«, sagte sie gemessen. »Wenn daheim die Widerstände gar zu groß werden: als letzte Ausflucht bleibt er uns immer noch.«

Goethe macht eine Verbeugung zustimmender Ergebenheit.


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