Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Buch
Bindungen

Ländliche Residenz

Die Wächter am Erfurter Tor fuhren erschrocken und beinahe unwillig von ihrem Lager auf, als um fünf Uhr früh – es war der siebente November und noch stockfinstere Nacht – ein heftiges Peitschenknallen sie aus dem Schlafe weckte. Ein fluchender Postillon saß auf seinem Kutschbock und fuhr den Herbeistürzenden mit der geschwungenen Peitschenschnur fast unter die Nase. Diese wollten auch ihrerseits zu schimpfen anfangen, als sie plötzlich in Demut erstarrten. Der wohlbekannte Kopf des Herrn Kammerjunkers von Kalb beugte sich aus dem Wagenfenster hervor und herrschte sie mit barscher Stimme an, sich gefälligst zu sputen. Man verspüre keine Lust, in dieser Frühkälte durch unnötiges Warten sich einen Schnupfen oder gar ein Reißen zu holen. Hei, wie flogen da die beiden Soldknaben eiligst ans Tor, brachten es schlüsselrasselnd zum Öffnen und hoben den Schlagbaum hoch!

Dann zogen sie unter tiefen Bücklingen die schweißigen Mützen und ließen die rumpelnde Staatsequipage vorüber.

Goethe hatte sich unterdes die Augen gerieben und fragte ein wenig verwundert, ob man denn schon in Weimar wäre.

»Soeben durchs äußere Erfurter Tor gerollt«, lautete prompt die Antwort. »Jetzt kommt auch schon das innere Tor und nun befinden wir uns zwischen den Stadtmauern. Wenn es bereits hell wäre, könntest Du rechts und links in Gärten gucken, nämlich von unserer durchlauchtigsten Herzogin Amalia und von Seiner Exzellenz dem Herrn Hofmarschall von Schardt. Der dicke Turm, an dem wir vorbei kamen, ist der Kasseturm.«

»Alles noch in Dunkelheit versunken«, konstatierte Goethe. »Bloß da vor uns ein heller Schimmer. Da scheint zwischen zwei Häusern eine Laterne zu baumeln.«

»Das ist beim sogenannten Geleithaus«, erläuterte Herr von Kalb. »Dort mußten ehemals die Reisenden sich, wegen der Unsicherheit auf den Landstraßen, Schutzgeleit erbitten. Das ist nun vorüber. Ihren Geleitszettel müssen sie freilich immer noch lösen: ein nützlicher alter Brauch, der den Amtskassen zugute kommt ... die es brauchen können!« fügte er lachend hinzu.

»Das scheint mir auch«, lachte Goethe zurück. »Zur Ausflickung der Straßen scheint es jedenfalls noch nicht zu reichen. Man kann's ja deutlich spüren, wie's über löcheriges Pflaster und durch Kotpfützen geht. Immer wieder wippen wir auf unseren Sitzen hin und her.«

»Das ist hier die Zufahrtsstraße, das sogenannte Eisfeld, wo nur ärmste Bevölkerung wohnt«, entschuldigte sich der herzogliche Kammerherr. »Die Gegend ist etwas vernachlässigt. Doch es wird gleich besser werden, sowie wir auf den Töpfenmarkt kommen, wo unsere würdige alte Stadtkirche steht.«

Wirklich ging jetzt die Fahrt gelinder vonstatten, als man aus dem Gassengewirr herauskam, und nun eine gewisse Platzweite sich bemerkbar machte. Zur Linken erhob sich als dunkle Schattenmasse ein steinerner Koloß, die angekündigte Stadtkirche, in derben frühgotischen Formen. Rechts schienen aus verschwommenen Umrissen sich bessere Bürgerhäuser zu erheben. Es ging noch ein Stückchen gradeaus, auf einen kleinen Nebenplatz, der von stattlicheren Gebäuden eingerahmt war. Hier hielt der Wagen, vor einem hochgegiebelten, durch eine Säulenpforte ausgezeichneten Patrizierhause, der Deutschritter-Komturei.

»So, da wären wir!« sagte Herr von Kalb. Schon öffnete sich das Haustor, zwei fackelhaltende Lakaien sprangen daraus hervor, rissen den Wagenschlag auf und halfen den Herrschaften beim Aussteigen. Alles ging wie am Schnürchen.

In der erleuchteten Haustür zeigte sich eine hohe dunkle Gestalt. Es war Seine Exzellenz Herr Kammerpräsident von Kalb, der es sich trotz der frühen Morgenstunde nicht hatte nehmen lassen, den ihm angekündigten Gast seines Herzogs persönlich in Empfang zu nehmen.

»Ich freue mich«, sagte er, »daß meine Berechnungen gestimmt haben. Vor zehn Minuten kroch ich aus den Federn. Ich heiße Sie, Herr Doktor Goethe, unter meinem Dache willkommen!«

Der überaus artige Empfang rührte den Dichter. Auf diese Weise vermochte er sich gleich heimisch zu fühlen. Nach rasch eingenommenem Trunke dampfenden Kaffees machte er von der Erlaubnis Gebrauch, sich auf sein Zimmer zurückzuziehen, um noch ein wenig auszuruhen.

Als er gegen zehn Uhr vormittags wieder herunterkam, fand er die Familie von Kalb an reichbesetzter Frühstückstafel. Goethe lernte jetzt auch die beiden Töchter des Hauses kennen, die zwanzigjährige Sophie und die vierzehnjährige Amélie. Sophie mußte an Stelle der verstorbenen Mutter dem Haushalt vorstehen. Das bißchen hausmütterlicher Würde stand ihr jedoch gut und hinderte sie keineswegs, auch die Künste jungweiblicher Gefallsucht zu üben und vor dem Gast, natürlich »in Züchten«, schillern zu lassen. Selbstverständlich aber ließ sie dem Vater, der in jeder Hinsicht das Oberhaupt der Familie repräsentierte, das große Wort. Finanzkammerpräsident von Kalb legte, gerade weil er amtlich mit lauter nüchternen Verrechnungen und Geldsachen zu tun hatte, besonderen Wert darauf, im Privatleben den Freund der Wissenschaften und Musen hervorzukehren. Gerade gegenüber einem von so weit draußen hergekommenen Dichtersmann mochte er seine Bildungsbeflissenheit mit einiger Selbstgefälligkeit fühlen lassen. Mit raschem Blick durchschaute Goethe die Situation, und wenn er auch zu den ein wenig kleinstädtisch-aufgetragenen Bemühungen von Vater und Tochter innerlich lächeln mußte, so freute er sich doch, nicht unter Banausen geraten zu sein. Seinen besonderen Spaß aber hatte er an der zierlichen Schwatzlust der kleinen Hausfrau, deren unverfälschte thüringische Mundart nur durch ihr Adels- und Standesbewußtsein einen vornehmeren Schliff erhielt.

Nach einem Stündchen fröhlichen Plauderns ließ Goethe den Wunsch durchblicken, die herzogliche Residenz ein wenig näher kennenzulernen. Wenn er nachmittags zu der ihm anberaumten Audienz gehen würde, wollte er über die Lage und Gelegenheiten des Ortes bereits ein wenig orientiert sein – schon um einige Komplimente anbringen zu können, wie er mit geschauspielerter Untertänigkeit versicherte. Sofort erhob sich sein junger Freund und bot sich zur Führung an. Nach wenigen Minuten verließen beide das Haus.

Jetzt bot sich der Töpfenmarkt in voller Stattlichkeit dar. Die etwas festungsartige Kirche mit dem steil emporgezogenen Dach und dem zwar plumpen, aber spitz in den Himmel stoßenden Turm war der achtunggebietende Mittelpunkt. Gleich zur Rechten aber erhob sich ein besonders stattliches, sogar durch eine schmale Rampe ausgezeichnetes Gebäude, das als humanistisches Gymnasium vorgestellt wurde, jedoch außerdem noch als simple Bürgerschule, Landlehrerseminar und Vorbereitungsanstalt für die Akademie zu dienen hatte. Damit aber der Stadtdünkel von Weimar nicht gar zu hoch schwoll, bog soeben aus einer Seitengasse eine blökende Schafherde ein, die von einem alten Hirten, unter Beihilfe eines umkreisenden Schäferhundes, über den Platz getrieben wurde.

Als Goethe sich hierüber wunderte, mußte der Herr Kammerherr ein wenig kleinlaut gestehen, daß gegen Abend auch Kühe mit ihren Kälbern, unter bimmelndem Geläut, die herzogliche Residenz zu durchziehen pflegten. »Wir müssen uns dieserhalb allerhand Spott gefallen lassen«, fügte er hinzu. »So, wenn man unser Weimar als ein unseliges Mittelding zwischen höfischer Residenz und zurückgebliebenem Dorf hinzustellen beliebt! Doch gleich sollst Du sehen, daß es hier auch Gegenden gibt, durch die wir einen Fremdling und selbst einen Großstädter immerhin mit einigem Stolz führen können. Du mußt mir nur nochmals durch eine etwas ärmliche Gasse folgen.«

Dies war bald geschehen. Immerhin hatte der Frankfurter Bürgerssohn den Eindruck gewonnen, daß in diesem von knapp sechstausend Einwohnern besiedelten Landstädtchen noch reichlich viel Unkultur und bitterstes Elend zu finden waren. Um so krasser entfaltete sich der Gegensatz, als sie jetzt ins Freie traten.

Allerdings, das von einem Schutzgraben umflossene Schloß war just im Vorjahre zum weitgrößten Teile niedergebrannt, und zum Aufbau waren die Mittel fürs erste noch nicht zu beschaffen. Doch selbst aus den ruinenhaft starrenden Mauern ließ sich entnehmen, welch hoher Herrscherwille hier gewaltet hatte. Die Ausmaße waren respektabel und die um einen beträchtlichen Hof im Viereck sich schließenden Gebäudeflügel der alten »Wilhelmsburg« wirkten durchaus repräsentativ. Ein aufragender Turm, der noch unversehrt dastand, und daneben das alte Einfahrtstor, erweckten zweifellos den Eindruck von fürstlich-hohem Selbstgefühl. Auch der auf der entgegengesetzten Seite sich erhebende großangelegte Marstall kündete, daß man hier zu leben und sich zu zeigen wisse.

Besonders entzückt aber war Goethe von dem Blick, der sich hier in die Landschaft öffnete. Weite Wiesen und Wälder, durchflossen von dem anmutigen Ilmfluß, dehnten sich hinter dem Schloß. Dieses Gelände erstreckte sich weit hinüber bis ins sogenannte Webicht, über dem an diesem köstlichen Novembervormittag, durch leichtes und flatterndes Wolkengespinst, eine milde Herbstsonne blinkte.

Gegenüber dem Schloß, nach der Stadtseite zu, starrten zwei gewichtige Gebäude, die als das gelbe und das rote Schloß bezeichnet wurden. Ursprünglich fürstliche Witwensitze, waren sie jetzt von der Kammer und dem Hofmarschallamt bezogen worden. Auch andere »fürstliche Diener« waren hier untergebracht, desgleichen die Geheime Kanzlei und die Zeichenakademie. Goethe ließ sich durch die Binnenhöfe führen, deren malerische Formen ihn anheimelten, und gelangte dann auf einen freien Platz. Ein breites, in seiner Schmucklosigkeit stattliches Gebäude lag vor ihm: das »Fürstenhaus«, in dem nach dem Schloßbrande Herzog Karl August für einstweilen Wohnung genommen hatte. Er selbst bewohnte das Obergeschoß, während er das vornehmere erste Stockwerk seiner jungen Gemahlin, der Herzogin Luise, überlassen hatte.

Dort also sollte Goethe am Nachmittag empfangen werden. Nach großer Pracht sah der plumpe Riesenkasten nicht aus. Hingegen stach ein nach der Parkseite gelegenes, durch einen dicken, runden Eckturm markiertes Gebäude vorteilhafter hervor. Das war das sogenannte »Französische Schlößlein«, das die Herzogin-Regentin Amalia zur Bibliothek hatte umbauen lassen und das Herr von Kalb als besondere Sehenswürdigkeit anpries. In der Tat war Goethe auf das angenehmste überrascht und gefesselt, als er das Innere betrat und hier von einem durch zwei Stockwerke geführten, mit erlesener Dekorationskunst ausgestatteten Binnenraum aufgenommen wurde. Zwischen Pfeilern waren im Erdgeschoß hohe Bücherschränke eingebaut, während oben, über einer mit Büsten geschmückten Balustrade, der Blick sich öffnete und aus der durchbrochenen, anmutig bemalten Decke ein breites Oberlicht in den Raum herniederflutete. Das Ganze atmete so viel Kultur und künstlerischen Geschmack, daß Goethe hier zum ersten Male ganz stark empfand, an welche den Musen gewidmete Stätte er gelangt war. Leise auftretend und mit fast scheuen Blicken schaute er umher, durchdrungen von dem Gefühl, daß der Geist, der hier waltete, sehr wohl berufen sein könne, in weitere Lande Licht zu verbreiten. Ja, hier zeigte sich das Weimar, von dem sein Freund Kraus ihm gesprochen hatte und auf das dieser so stolze Zukunftshoffnungen setzte.

Als er nach halbstündigem Verweilen das Bibliotheksgebäude wieder verließ, fühlte Goethe, wie er nun die weitere Umgebung mit anderen Augen ansah. Als er auf den Marktplatz geführt wurde, bewegten ihn alsbald heimatliche Erinnerungen. Nicht bloß das lebhafte Gewoge des Kaufens und Feilschens um einen erst kürzlich errichteten Herkulesbrunnen herum, auch die um dieses bewegte Bild sich gruppierenden Kulissen der giebelgeschmückten Häuserfronten schienen ihm wohlbekannt. Als es dann Mittag schlug, traten auf den hochgelegenen kleinen Balkon des Rathauses vier schmucke Hornbläser heraus und ließen eine erbauliche Weise ertönen, so recht nach alter, guter Väter Sitte. Und das Volk auf dem Markt unterbrach zum Teil sein geschäftliches Getriebe und hörte, die Mützen in den Händen, andächtig zu. Ganz merkwürdig anheimelnd wirkte das auf den Dichter und zum ersten Male verlor er das Gefühl, in einer fremden Stadt zu sein. Biederes protestantisches Deutschtum, mußte er denken, ist doch überall gleichartig, und so mag man, wo es hervortritt, sich zu Hause fühlen.

Durch enge ungepflegte Gassen heimwärtsgeleitet, ließ er sich weiter durch Mißstände nicht mehr stören.

Bei guter Laune und in »völlig normaler Stimmung«, wie er bei sich scherzte, betrat er das Ordenskapitelhaus, in dem die Familie von Kalb ihn bereits zum Essen erwartete.


 << zurück weiter >>