Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Erlauchter Besuch

Natürlich hatte Lili mit ihm geschmollt. Er habe ihre Familie vor den Kopf gestoßen und sich nicht wie ein gesitteter junger Mann benommen. Doch er nahm ihr Schmälen nicht tragisch. Und weil er, wieder ganz zu sich selbst gekommen, seinen Humor behielt, so vergaß auch Lili ihren Groll – und beide sanken versöhnt einander in die Arme.

Er fühlte jetzt das Bedürfnis, die Geliebte mit Leuten seines Freundeskreises bekannt zu machen und hierdurch enger an sich zu fesseln. Er dachte an seine Freundin Johanna Fahlmer, der er soviel schon von Lili vorgeschwärmt hatte und die längst darauf brannte, deren persönliche Bekanntschaft zu machen.

»Nehmen Sie das Mädchen an Ihr Herz!« Mit diesen Worten führte Goethe die Geliebte bei der »Tante« ein. Das junge Mädchen von noch nicht sechzehn Jahren und das reife Fräulein um die Dreißig beguckten einander mit stillem Erröten und reichten sich dann mit voller Natürlichkeit und Herzlichkeit die Hände. Lili mußte neben Johanna auf dem Sofa Platz nehmen, und das Frankfurterisch der einen und das Düsseldorferisch der anderen klangen sehr lustig ineinander und es wurde eine recht vergnügte Kaffeestunde, der Goethe in heller Aufgeräumtheit beiwohnte.

Ach, wenn er sich nur mehr hätte innerlich sammeln und zusammenraffen dürfen!

Sonst steckte Goethe jetzt in ewiger »Strudelei«. Hunderte von Menschen wollten etwas von ihm haben. Kein irgendwie hervorstechender Mann kam nach Frankfurt, ohne daß er den so rasch zu hoher Berühmtheit gelangten Dichter des Götz und des Werther zu treffen versucht hätte – um ihn dann womöglich in eine stundenlange Unterhaltung zu verstricken!

Auch Fürstlichkeiten kamen angereist, und dann wurde er zur Tafel befohlen. An der Seite des jungen Prinzen von Meiningen mußte er Platz nehmen und hatte selbstredend ein Raketenfeuerwerk von Witz, Originalität, Enthusiasmus und kecker Verhöhnung losprasseln zu lassen. Wobei er sich doch immer in acht nehmen mußte, nicht irgendwie anzustoßen.

Alle diese Begegnungen erforderten den vollen Einsatz der ganzen Persönlichkeit von ihm und je rascher eine die andere ablöste, desto bunter und verworrener gestaltete sich das ganze Dasein. Halb scherzhaft, halb schmerzhaft nannte er Frankfurt »das neue Jerusalem, wo alle Völker aus und ein gehen«.

Dann aber kam ein Besuch, der weit über den Alltag hinausging und wie ein Leuchten in das dahinjagende Schattenspiel dieser Tage hineintraf. Klopstock erschien auf der Bildfläche!

Er war schon vor etwa einem halben Jahr durch Frankfurt gekommen, auf der Durchreise nach Karlsruhe, wohin ihn der ehrgeizige Markgraf von Baden als Gast zu sich geladen hatte. Jetzt befand er sich auf der Rückreise nach Hamburg, wo er, nach ausgedienter Hofdichterzeit in Kopenhagen, nun glücklich gelandet war. Er hatte im vorigen Sommer das fünfzigste Lebensjahr überschritten, der »Messias« lag endlich abgeschlossen hinter ihm, er stand auf der Höhe seines Ruhmes, und seine ganze Reise durch Deutschland war ein stetig sich erneuernder Triumphzug gewesen.

So galt es, den erlauchten Gast würdig zu empfangen. Wolfgang hatte die Mutter gebeten, eine besonders wohlbereitete Mahlzeit herzurichten, die dem zu Tisch gebetenen alten Feinschmecker neben ein paar Flaschen gut abgelagerten Rheinweins munden sollte. Und damit die Gesellschaft etwas belebter wäre, wurde, schon als Gegengewicht gegen den steif reservierten Herrn Vater, die muntere Rheinländerin Johanna Fahlmer mit eingeladen.

Punkt ein Uhr entstieg Klopstock seiner Sänfte und wurde unter weit geöffnetem Haustor von seinem jungen Dichterkollegen respektvoll empfangen. Im Hausflur eilte auch Frau Rat herbei, freudestrahlend und herzlich, und erging sich in so eifrigem Knicksen, daß der Sohn es ihr lachend verwies. Klopstock selbst schien die Huldigungen nicht ungern entgegengenommen zu haben.

Er war eine stattliche und wohlgepflegte Erscheinung. Den jüngst erhaltenen badischen Hausorden trug er stolz auf der Brust. Man merkte ihm an: er war gewohnt zu repräsentieren und, wo er hinkam, Mittelpunkt der Gesellschaft zu sein. Goethes völlige Ungezwungenheit und Natürlichkeit bewirkten aber, daß der Dichterfürst von seiner Majestät bald abließ und daß nun ein recht jovialer älterer Herr und Lebensgenießer wohltuend zum Vorschein kam.

Bei Tisch taute er vollends auf, sehr zur Genugtuung des Herrn Kaiserlichen Rats, der erst vor einer Stunde vor sich hingeknurrt hatte: daß er nur wenig darauf erpicht sei, vor selbstüberzogenen und aufgetakelten Zelebritäten zu buckeln und zu schranzen. Die beiden Damen vollends gerieten alsbald in rückhaltlose Begeisterung. Frau Rat freute sich vor allem über die ungeheuchelte Schätzung und Kollegialität, mit der der soviel Ältere und allseitig Gepriesene ihren Wolfgang behandelte. Hanne Fahlmer aber sonnte sich freimütig unter dem echt von Herzen kommenden Gelächter, mit dem diese Koryphäe ihre in ungefärbtem Dialekt servierten rheinischen »Krätzcher« und Geschichten entgegenzunehmen geruhte. Der Herr Klopstock war wirklich ein dankbares Publikum.

Und diesen Mann, dachte Goethe belustigt, nennt man auch heute noch gerne den »fleischgewordenen Seraph«. Im übrigen hielt er sich bei Tisch mit Absicht ein wenig zurück. Es ging ihm allerlei im Kopf herum, auch wollte er dem gefeierten Gast Gelegenheit geben, sich in recht helles Licht zu setzen. Das ziemlich vorlaute Wesen seiner sonst so geschätzten »Tante« war ihm eigentlich etwas zuviel. Da aber Klopstock seinen Spaß daran zu haben schien, so ließ er es gehen. Weniger paßte es ihm, als die Mutter zu klagen anhub, wieviel Leute es doch gebe, die die erprobte Gutherzigkeit ihres Sohnes auszunutzen wüßten. Sie hielten ihn für »reich« und verstünden es nur allzugut, ihm das Geld aus der Tasche zu locken. Nicht selten käme er mit gar sonderbaren Gesellen angezogen, die sich nicht bloß aufs solenneste durchfüttern ließen, sondern auch nachts über auf ihrem besten Sofa kampierten und nicht immer die schönsten Andenken hinterließen.

Herr Klopstock fand dies höchst tadelnswert und ungeziemend und bemerkte mit mahnender Stimme zu seinem jungen Freunde, daß derlei Art von Camaraderie doch über die gebotenen Grenzen bereits hinausgehe. Er habe in seinem langen Leben gelernt, Schmeichler und wandernde Pegasusritter mit vieler Vorsicht zu behandeln, um sich vor schamloser Ausbeutung zu bewahren. Ein wirklich idealer Verkehr aber habe sich mit den Leuten vom Göttinger Hainbund eingestellt. Das seien enflammierte junge Poeten, besonders dieser gottbegnadete Hölty, der aber wohl leider kein langes Leben haben werde. Auch ein ganz junger Mensch mit Namen Voß scheine Ersprießliches zu versprechen; er mache jedenfalls ganz annehmbare Hexameter. Unter den übrigen oft überschäumenden und widerspenstigen Genies verstünden die eigentlichen Häupter, Boie und Gotter, obwohl selbst keine großen Dichter, leidliche Zucht zu halten.

»Und Bürger?« warf Goethe ein. »Von dem halte ich zweifellos am meisten. Ist ein Kerl mit Adlerflügeln und Einbildungskraft. Fürchtet sich vor keinem Erzengel und keinem Gottseibeiuns. Wir kennen uns nicht, sind aber schon Brüder!«

»Bürger? Bürger?« meinte Klopstock und wiegte zweiflerisch und fast ein wenig verstimmt den Kopf. »Ja, der ist auch dabei. Ist aber leider ein ganz unsicherer Patron. Gewiß, eine starke Begabung – hat vor allem die nordische Mythik und Ossian brav im Kopf – ist aber von sehr, sehr lockern Sitten – steckt immer in recht schwülen Verhältnissen – und ist dabei so maßlos von sich eingenommen, daß er kaum eine Schätzung für andere hat.«

»Davon habe ich meinerseits nichts gespürt«, bemerkte Goethe etwas unvorsichtig. »Mir hat er die enthusiastischsten Briefe geschrieben.«

Klopstocks Kopf wurde puterrot. Er schien an etwas zu würgen, das ihm Ärger bereitete.

Rasch und liebevoll sprang Mutter Goethe ein.

»Das sind so die jungen Leute, Herr Klopstock! Immer gleich in Flammen und voll von Weihrauch für einander. Aber nicht immer gerecht und taktvoll, wo sich's gehört. Und doch im Herzen so voll von Verehrung! Da sollten Sie nur mal mei' Wolfgang hören, Herr Klopstock – wie der schwärmen kann! Erst gestern abend hat er uns den ganzen vierten Gesang aus der Messiade vorgelesen – und mit welcher Verzücktheit! Sie hätten ihn nur hören sollen! Wirklich, Herr Klopstock, Sie hätten Ihre Freude gehabt!«

Des alten Dichters Antlitz hatte sich erhellt. Mit sanft verklärten Augen nahm er die letzten Worte in sich auf. Und als die beiden Goethe, sowohl Vater als Sohn, ihm bestätigend zunickten, war er wie ein Kind wieder bei Laune. Gleich darauf lachte er schon herzlich über eine drollige Bemerkung von Johanna Fahlmer.

Nachdem Frau Rat die Tafel aufgehoben hatte, blieben die beiden Dichter allein.

»Nun berichten Sie mir vor allem etwas von sich, junger Freund!« begann Klopstock ermunternd. »Von Ihren Arbeiten! Von Ihren Plänen! Und vor allem von Ihrem ›Faust‹, von dem alle Welt nur so schwärmt! Deutsche Legendenfigur – das freut mich ganz besonders!«

»Darum ist mir der Stoff auch von Jugend her vertraut«, bekannte Goethe. »Gestaltet sich aber in meinem Innern fortwährend um. Bis jetzt sind meist nur lockere, unzusammenhängende Szenen vorhanden. Alles ist noch im tiefsten Werden. Möchte davon nicht gerne sprechen.«

»Das verstehe ich und lobe ich. – Und sonst, junger Freund?«

»Da ist noch vielerlei, das mich bedrängt. Dramen, wie Mahomet, Prometheus, Julius Cäsar – die unschuldigen Gefühle der Jugend in mancherlei Gedichten – daneben auch allerhand Opernzeug und Kasperletheater – freilich auch ein Schauspiel für Liebende – sehr kühn im Moralischen – das steht mir derweile am nächsten.«

»Das ist ja ein ganzer Berg und Strudel von Plänen. Wogt nur, scheint mir, gar zu sehr durcheinander«, ließ sich Klopstock bedächtig vernehmen. »Besser, jedenfalls besonnener schiene es mir, sich auf etwas Einzelnes mit aller Kraft zu beschränken, und das müßte dann das Größte und Erhabenste sein. Ich selbst habe an meiner Messiade mehr als fünfundzwanzig Jahre lang gearbeitet. Jetzt steht das Riesenwerk fertig im Guß da – und wird mich, denke ich, um Jahrhunderte überleben.«

Die hellen Schwärmeraugen des alten Mannes füllten sich mit Glanz. Eine naive, heilige Andacht lag über sein ganzes Antlitz gebreitet. Goethe blickte mit Rührung zu ihm hin. Gerade weil er nicht imstande war, den Glauben des selbsterfüllten Dichters unbedingt zu teilen, empfand er etwas wie Ehrfurchtsscheu vor soviel innerer Glut, soviel restloser Selbsterfülltheit. Ablenkend sagte er:

»Sie haben inzwischen Ihre herrliche Gelehrten-Republik veröffentlicht, lieber Vater. Ich habe sie mit Begeisterung verschlungen. Das ist ein Werk! Es hat mir geradezu neues Leben in die Adern gegossen. Die einzige Poetik aller Zeiten und Völker – die einzigen Regeln, die möglich sind!«

»Ich danke Ihnen, teurer Sohn! So was zu hören, tut wohl. Gerade weil es aus Ihrem so jungen Munde kommt! Nie vergessen werde ich Ihnen auch die herrliche und tiefgefühlte Huldigung, die Sie mir in Ihrem Werther gespendet haben. Sie erinnern sich der Stelle: da wo Lotte und Werther nebeneinander am Fenster stehen und in das Zuschauen eines Gewitters versunken sind! Wie sich da das eine Wort aus ihrem Munde löst: ›Klopstock!‹ Niemals ist Stärkeres, Wuchtigeres in ähnlicher Knappheit gesagt worden!«

»Genau so und nicht anders habe ich selbst es empfunden«, versetzte Goethe lebhaft. »Verehre ich doch nichts tiefer bei Ihnen, lieber Vater, als Ihre großgeartete und manchmal so heroische Naturbetrachtung. Beim Lesen und erst recht beim Vorlesen Ihrer Oden, wenn gleichsam vorweltliche Visionen im Bild vor uns aufsteigen, bin ich nicht selten derart ergriffen, daß ich mich der Tränen kaum erwehren kann. Sie beschwören da eine Urgewalt der Gefühle herauf, von solch mythischer Stärke, wie sie mir im Grunde leider versagt ist. Ich bin mehr ein Idylliker der Empfindung – liege im Gras, lasse Käfer, Mücken, Libellen mich umkrabbeln und umschwirren – oder starre empor in die sanft bewegten Laubkronen der Bäume und freue mich der sparsamen Sonnenstrahlen, die verstohlen durchs Schattenwerk huschen.«

»Auch das ist schön, mein Sohn, und mir ein Zeichen Ihres zarten und reinen Gemütes. – Sehen Sie, die Natur ist gleichsam ein einziger großer Tempel. Und wer fühlen kann, der spürt allenthalben darin das Weben und Wirken der Gottheit. Darum möchte ich, wenn ich allein auf einer stillen Waldwiese stehe – und wenn dann die Bäume so erhaben um mich rauschen und über mir das Himmelsblau sich bis ins Unendliche dehnt – wirklich, dann möchte ich manchmal niederknien und beten. In allem ist Gott! Das fühle ich so heilig in meinem Innersten. Und rund um mich ist alles Allmacht – und Wunder alles.«

Er hatte wie in Verzückung gesprochen. Sein Antlitz war gerötet, und seine großen runden Augen weiteten sich hellseherisch: gleich, als ob die Stube, die ihn umfing, keine Wände hätte und er hinausblickte in die Unendlichkeit einer Landschaft, die sich vor ihm auftat.

Goethe betrachtete, nicht ohne Physiognomiker-Neugier, die erregte Miene des alten Enthusiasten, der sich da so hemmungslos in ein Gefühl ergoß, das ihm vielleicht allzu geläufig war: gewiß ursprünglich echt, aber doch schon ein wenig abgenutzt, und allzu bewußt. Und vielleicht, dachte der junge Mensch schelmisch, hat auch der genossene Wein seinen Anteil daran, daß unser Meister so willig in Ekstase gerät!

Nun wollte er ihm jedenfalls etwas Gutes sagen!

»Was ich bei alledem besonders bewundere«, bemerkte er nach respektvoller Pause, »ist, daß Sie der Natur doch auch mit sehr realen Empfindungen gegenübertreten können: als sport- und spielbegeisterter, in allen Körperübungen gewandter Gymnastiker – wenn ich so sagen darf. Wissen Sie noch, wie Sie damals im Oktober eine flammende Lobrede auf den Eissport und das Schlittschuhlaufen hielten? Wir trafen uns da in der gleichen Vorliebe.«

»Und doch mit einigem Unterschied«, warf Klopstock mit Betonung ein. »Für Sie ist, wie Sie ja wohl selbst fühlen, all dieses lediglich ein Vergnügen. Für mich aber doch – etwas mehr! Nämlich die Wiederbelebung einer festlichen Sitte und Übung unserer Altvordern: der Germanen, insbesondere der nordischen Stämme. Diese feierten auf dem Eise mitunter religiöse Feste – wobei dann die Geschicklichkeit in der Benutzung der Schrittschuhe – dies der eigentliche Name, nicht: Schlittschuhe! – besondere Auszeichnung brachte, wo nicht gar eine Führerwürde auf Heerfahrten! – Ja, so waren unsere Vorfahren! In fast allem, was sie taten, stoßen wir auf irgendeinen verborgenen tiefern, oft heiligen Sinn. Da walten manchmal die geheimnisvollsten Beziehungen von Andacht und Bedeutung. Aber davon wollen die Heutigen zumeist gar nichts mehr wissen. Die sind längst in allem viel zu profan geworden!«

Ein kleines Stillschweigen entstand. Goethe unterbrach es nach einigem Zögern.

»Vielleicht bin ich zu sehr einfaches Naturkind, um Ihnen, lieber Klopstock, auf derlei hohen Empfindungswegen überall folgen zu können. Wenn ich auf dem Eise dahinsause – meinetwegen auf Schrittschuhen! – dann gehe ich ganz auf in lusterfüllter Lebensfreude. Ich webe und fühle allein in der Gegenwart und kann nicht an mehr oder weniger nebelhafte alte Germanen und ihre noch nebelhaftern Götter – Asen oder wie sie sonst noch heißen – denken; das wäre ein fremder Tropfen in meinem Blute. Und ich kann nun einmal nichts tun und erst recht nichts empfinden, was nicht ganz ursprünglich aus mir selbst kommt.«

»Darin steckt wohl ein kleiner Hochmut, mein lieber Goethe«, bemerkte Klopstock ein wenig spitz. »Für mich steht die Sache so: daß ich mich in die Empfindungsweise unsrer – für mich in keiner Weise nebelhaften! – Altvordern gewiß nicht hineinzuschrauben brauche, sondern daß ich ganz von selbst darin aufgehe. So wesenhaft weben und leben sie in meinem Blut. Nicht bloß durch die erhabenen Gesänge des Ossian – dessen geschichtliche Existenz man neuerdings freventlich anzuzweifeln wagt! –, sondern vor allem durch die von keiner Seite je beanstandeten alten Edda-Lieder ist mir – nachdem ich vom Griechentum mich glücklich losgelöst habe – die seelische Welt jener wunderbaren Helden, ja, ich möchte sagen: Halbgötter, die unsre blutsverwandten Vorfahren waren, derart eingegangen, daß zwischen mir und ihnen, was das Fühlen und Dichten betrifft, kaum noch ein Unterschied waltet.«

Er sprach noch längere Zeit so fort. Redete von Barden und Bardieten, Götterhainen und Runensteinen und fühlte sich ganz als Gesalbten Odins. Goethe hörte zerstreut zu und war beinahe ganz verstummt. Er langweilte sich. Und zugleich tat ihm der verdienstvolle alte Dichter leid, der sich da, voll edelsten Bestrebens, in eine etwas gekünstelte Angelegenheit verrannt hatte, von der, wenigstens in dieser Form, kaum viel zu erhoffen war. Was half es da, zu widersprechen? Der andere würde ihm doch nicht glauben und höchstens etwas beleidigt sein. Und er wollte doch im guten mit ihm auseinandergehen: das gebot die ungeheuchelte Verehrung, die er für einen Dichter wie Klopstock empfand.

Klug lenkte er das Gespräch auf ein Thema über, bei dem sie sich beide verstehen könnten. Er sprach von den Gefühlen echter Freundschaft als dem belebendsten Element menschlichen Verkehrs.

Sofort fing Klopstock Feuer und Flamme: »Ja, mein inniggeschätzter und lieber junger Freund, das ist es!« rief er schwärmerisch aus. »Ein wahrer Freund zu sein, wahre Freundschaft vom andern zu genießen, das ist die heiligste und süßeste Regung, der wir Menschen uns hingeben können. In meinem ›Wingolf‹ habe ich diese ganze Gefühlsskala erklingen lassen – und manche junge Herzen damit erweckt!«

Es folgte nun ein neuer dithyrambischer Erguß, an dessen Ende der ewig lodernde Alte Goethe in die Arme schloß und auf beide Wangen küßte.

Als er gegangen war, auch von den Eltern in rührender Weise verabschiedet, stieg Goethe stumm und in einer Art von nachdenklicher Erschütterung die breite Staatsstiege seines Vaterhauses empor. Es klang in ihm nach von zurechtgemachten und verstiegenen Tönen. Warum, dachte er, muß ein großer Dichter sich überleben? Warum muß er in mancher Hinsicht zur Pose seiner selbst werden? Muß sich in fatalen Gleisen festfahren, aus denen er keinen Ausweg findet? Möge der Genius mich vor Ähnlichem behüten!

Eine Zeitlang stand er, wie unentschlossen, mit fast finsterer Miene vor der Tür seines Arbeitszimmers. Dann schüttelte er die trüben Gedanken von sich ab, trat hell in die durchsonnte Stube, setzte sich nieder und dichtete an seiner »Stella«.

Der Geliebten Bild umschwebte ihn.


 << zurück weiter >>