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Im Hause »Am Liebeneck« war ein neuer Geist eingezogen. Zwar gings auch sonst dort angeregt und lustig zu. Aber seit dieser junge Doktor Goethe, beinahe täglich, aus- und einging, war einfach der Teufel los. Er brachte einen Wirbelwind mit sich, der gleichsam durch alle Ecken des ansehnlichen Hauses fegte. Wie ein Saus fuhr es über die Treppen und durch die Stuben, jagte über den Vorplatz, stürmte auf den Hof und verfing sich in der Babellage, um dann selbst im Salon, wo in der zierlichen Etagere die kleinen Nippsachen wackelten, noch weiter sein loses Wesen zu treiben. Und alles, weil dieser Doktor Goethe soviel Leben mit sich brachte und mit jedem einzelnen der Hausinsassen sein ganz persönliches Wesen oder Unwesen trieb!
Sie waren alle in ihn verliebt! Wie gern hätte die Frau Mama sich gegen ihn gewehrt – und konnte es nicht. Sie verlor geradezu das sonst so sorgsam gehütete Bewußtsein, unnahbare Respektsperson zu sein. Wenn er lachte, mußte sie mitlachen. Wenn er erzählte, horchte sie gespannt auf. Und wenn er fluchte, ja, auch das entfuhr ihm zuweilen! – vergaß sie gar das Schelten. Schon daß er dieselben Vornamen wie ihr seliger Gatte, Johann Wolfgang, führte, stimmte ihr pietätvolles Herz zu einer gewissen Weichheit. Und dann hatte er in seiner bezaubernden Liebenswürdigkeit und arglosen Offenherzigkeit so etwas unbedingt Gewinnendes, daß ein mütterlich beobachtendes Frauengemüt schwerlich dawider aufkommen konnte. Auch schmeichelte ihr, daß dieser vielgenannte Mann ihre Söhne, die nicht immer ganz leicht zu nehmen waren, so für sich einzunehmen wußte. Mit dem Ältesten, Friedrich, verband ihn eine Art von freundschaftlicher Kameradschaftlichkeit, die sich selbst mitunter auf den Verkehr außer dem Hause erstreckte. Der trockene Martin hielt sich wohl mehr zurück, aber die beiden Jüngsten, zwölf und vierzehn Jahre alt, »attachierten« sich sehr an den lustigen und stets aufgeräumten jungen Doktor, auf dessen drollige Bemerkungen und Erzählungen sie stets aufs neue erpicht waren, weil's da fast immer was zu lachen gab.
Nun, so durfte die Frau Mama wohl auch ein Auge zudrücken, wenn er sich etwas gar zu eifrig mit der ja auch sonst viel umworbenen Tochter, dem guten Kind Liese, abgab. Mochte er sie in seiner Dichtersprache, in Gottes Namen »Lili« heißen – oder gar »Belinde«, was noch viel aparter klang – Versemacher müssen ja stets etwas Besonderes haben! Und das Kind selbst war ihm gewogen. Nahm seine Huldigungen mit wirklich feinem Takt entgegen – die Mama mußte das anerkennen – unterhielt sich aufs munterste mit ihm und war selbst um Antworten nie verlegen. Warum sollte man den jungen Leuten das nicht gönnen? Man braucht ja nicht gleich alles mögliche dabei zu denken! Und wenn die Frau Basen flüsterten und allzu strenge Onkels gelegentlich die Stirn runzelten, oder wenn gar der so sehr von sich eingenommene Vetter Jacques Manskopf – als ob er bereits »Ansprüche« hätte! – den Eifersüchtigen markierte: mußte man derlei, du lieber Heiland, gleich tragisch nehmen? Frau Susanne Elisabeth Schönemann, geborene d'Orville, als Mutter hatte ja schließlich auch ihre Augen und ebenso ihr Pflichtgefühl und niemand hatte es nötig, ihr zu sagen, was sich geziemt. Sie würde schon richtig aufzupassen wissen, weiß Gott!
Lili selbst – wie sie sich jetzt gerne nennen ließ – aber nur von ihm! – Lili ging ein wenig wie in einem glücklichen Traum umher. Eigentlich wollte sie das nicht – sie, die sonst so taghell war! – aber es war zuzeiten doch so schön ... Und der ganze Verkehr mit dem bezaubernden Doktor Wolfgang hatte, trotz aller realen Lebendigkeit, doch etwas so – wie sollte sie nur gleich sagen? ja, manchmal so etwas Erdenentrückendes, daß man sich wie in ein seliges Land versetzt vorkam. Sie saß an ihrem Spinett und spielte ihre Mozartweisen, die er so liebte. Da mußte sie immerzu an ihn denken. Seit er damals in der »Babellage« vor ihr erschien – wie lange war's wohl her? Kaum acht oder zehn Tage und fast schon vor einer Ewigkeit! – wie vieles hatte sich seitdem gewandelt! Damals hatte sie geglaubt, sie müßte mit ihm schmollen, weil er doch eigentlich recht keck aufgetreten war und gleich so zutraulich – aber wie konnte sie das nur? Er war, in all seiner Wildheit, doch so lieb! Und war so ganz anders als andere Menschen! Man konnte ihm wirklich nichts übelnehmen. Und noch am selben Nachmittag hatte er, in wirklich ganz einwandfreier Weise, bei ihrer Mama Besuch gemacht, völlig wie ein junger Kavalier. In vollendeter Form hatte er dagesessen, die Kaffeetasse in der Hand gehalten und genippt – und war, wie er sprach, das Entzücken der Anwesenden geworden. Eigentlich mußte sie ja jetzt lachen, wenn sie daran dachte. Er war doch ein kleiner Schalk, wenn er so fürnehm tat! Denn im Grunde war er ein ausgelassener Springinsfeld. »Doktor Wehrwolf« – so hatte man ihr berichtet – nannten ihn seine Kameraden, weil er so bärbeißig und mit schonungslosem Witz den Leuten über den Mund fahren konnte, und mit Vorliebe gerade das tat, was sie fuchsteufelswild machen mußte. Aber wie viele wieder schwärmten doch für ihn, bewunderten ihn und nannten ihn einen »Götterliebling«! Und war er denn nicht beides – das eine wie das andere? Jedenfalls mußte sie, wenn sie mit ihm allein war, höllisch auf der Hut sein, daß er nicht, mit der Miene der größten Liebenswürdigkeit, sich allzuviel herausnahm.
Gott, wie war sie mit ihrem Klavierspielen durcheinander gekommen! Lauter falsche Noten und hingewischte Bruddeleien! Ein Glück, daß niemand zuhörte! Aber sie wollte doch lieber ein Ende machen, es war sowieso die Stunde, wo er bald kommen mußte. Eilig klappte sie den Spinettdeckel zu. Blieb aber sitzen und sinnierte weiter vor sich hin.
Wie kam's nur, daß sie ihn so gern hatte? Denn eigentlich hatte sie doch viel an ihm auszusetzen. Vor nichts schien er Respekt zu haben, besaß einen furchtbar losen Mund, war von sich selbst ganz schrecklich eingenommen und benahm sich zuweilen, als sei's bei ihm nicht ganz richtig im Oberstübchen. Aber trotzdem, wenn er ins Zimmer trat, so frank und frei, und seine großen braunen Augen schossen fröhliche Blitze – und wenn er dann auf sie zukam und ihre Hände faßte und sie anblickte – so aus seltsamen Tiefen heraus – dann – ja dann fühlte sie sich auf wunderliche Weise in seiner Gewalt. Sie lauschte seinen Worten, die sie nicht immer ganz verstand – die ihr aber Eindruck machten – und die so warm und treuherzig klangen, im tiefsten Innern so ganz ohne Falsch – und sie war selig, seine Nähe zu spüren. Noch hatte sie sehr an sich gehalten und nichts von ihrem Fühlen ihm gestanden – aber trotzdem war eine so natürliche Vertraulichkeit zwischen ihnen, als ob sie jahrelang einander gekannt hätten. Sie konnte gar nicht anders, sie mußte vor ihm aufrichtig sein; erzählte ihm Dinge, von denen sie nie gedacht hätte, daß sie über ihre Lippen kämen; und hatte nicht den geringsten Argwohn, daß er's mißverstehen oder gar falsch anwenden könnte. Das war eben das Merkwürdige an ihm: er war in all seiner Genialität ein reiner herzensguter Junge, der sich wie ein Kind über Kleinigkeiten freuen und manchmal so drollig tollpatschig werden konnte, daß sie sich beinahe wie eine kleine Mama ihm gegenüber vorkam. Wo sie doch mit soviel Respekt, ja Bewunderung zu ihm aufschaute! –
Wo er nur blieb? Er hätte doch schon da sein müssen! Da saß sie nun und erwartete ihn und war um ihn, mit all' ihren Gedanken. Schämte sie sich gar nicht, die stolze Liese Schönemann? Nein, sie schämte sich wirklich nicht! Denn sie war ja so froh, war so glücklich, zu wissen, daß er so bald kommen müßte. Sicherlich hatte er Abhaltungen, die ihn selbst verdrossen. Alle Leute wollten ja was von ihm haben. Jeder glaubte, ihn um Rat fragen zu müssen. Alle waren stolz, sich mit ihm zeigen zu können. Und da hätte sie sich nicht auch ein wenig darauf zugute tun dürfen, daß er sie verehrte? Oder – durfte sie bereits sagen: daß er sie liebte?
Sie fühlte, wie es siedend heiß ihren Nacken heraufstieg. Und sie warf den Kopf in die Arme, die sie über den Spinettdeckel ausgebreitet hatte. Was war es nur, daß sie vor sich selber glaubte sich schämen zu müssen?
Leise horchte sie in sich hinein. Auf die Gänge ihres Blutes, das Zittern ihrer Nerven. Doch dann plötzlich horchte sie nach außen.
Waren da nicht Schritte auf der Treppe? Seine Schritte, die sie bereits kannte! Rasch erhob sie sich, strich sich vor dem Kristallspiegel das Haar zurecht und erwartete ihn dann, mitten im Zimmer, im prunklosen Hauskleid, eine korrekte junge Dame.