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Ach ja, Lili wiedersehen!
So heiß es ihn hintrieb, so lähmend waren die Bedenken, die ihn zurückhielten.
Durfte er so ohne weiteres – nach dem, was zwischen ihnen lag – in Offenbach im Hause ihrer Verwandten sie überfallen? Die Verstimmungen waren ja weit stärker noch, als die gute Mutter in ihrer Milde ihm anzudeuten gewagt hatte. Um so mehr hatte die »Tante« ihm klaren Wein eingeschenkt und ihn nicht wenig wegen seines ungehobelten Davonlaufens und kränkenden Schweigens heruntergeputzt.
Er hatte es der Böswilligkeit seiner zahlreichen Widersacher doch gar zu leicht gemacht, gefährliche Entfremdungen zwischen ihm und Lili zu stiften. Besonders Herr Jacques Manskopf hatte sich mal wieder seltsam ausgezeichnet, indem er verruchtesten Klatsch, mit der Miene des besorgten Verwandten, dem Cousinchen überbrachte. Er und kein anderer war es gewesen, der durch Ausmalung der gräßlichen Gerüchte über das »Liebesabenteuer mit der Sesenheimer Pfarrerstochter« dem bestürzten armen Mädel den »Gnadenstoß« zu geben versucht hatte. »Wie ein schäbiger Hund« sollte sich Goethe seiner ehemaligen Geliebten gegenüber benommen haben, indem er, nachdem er ihr ein Kind gemacht habe, sie schmählich habe sitzenlassen, ein feiger und egoistischer Drückeberger. Zwar hatte Lili den »treuherzigen Cousin« gebührlich abfahren lassen und alles für gemeine Verleumdung erklärt; aber ein Stachel der Ungewißheit war doch zurückgeblieben. Und an Johanna Fahlmers mütterlich-fühlendem Herzen hatte sie sich heiß und hilflos ausgeweint.
Goethe knirschte vor Zorn in sich hinein. Mit was für niedrigen Greuelmärchen hatte man das liebe, arme Kind zu beunruhigen gewußt, bloß um sie von ihm abzusprengen! Gewiß, er war kein Heiliger! Sich selbst hatte er mit heftigen Vorwürfen nicht verschont und mehr unter seinem entnervenden Schwankezustand gelitten, als er fremden Menschen klarmachen konnte. Seine ganze Dichtung war streckenweise davon durchtränkt. Aber die plumpen Entstellungen, die scheinheilige Banausen auf ihn abluden, brauchte er nicht auf sich sitzenzulassen.
Also einen »Gnadenstoß« hatte man dem liebenden und gläubigen Herzen, das so arglos und unschuldsvoll an ihm hing, mit wohlberechneter Tücke hinterrücks versetzen wollen! Ihn ekelte geradezu, in solchen Abgrund elender menschlicher Verworfenheit blicken zu müssen. Und er bewunderte und liebte Lili desto mehr, weil sie all diesen Anschlägen tapfer standgehalten und, jedenfalls nach außen, den geliebten Mann nicht preisgegeben hatte. Was sie in ihrem Innern gelitten haben mochte, das konnte freilich nur Gott wissen.
Empfindungen dieser Art in sich herumwälzend, vermochte Goethe zunächst nicht ein Herz sich zu fassen, um unangemeldet vor Lili hinzutreten. Zum Glück traf er gleich am ersten Tage seinen Freund, den Offenbacher Pfarrer Dr. Ewald, und trug diesem auf, im d'Orvilleschen Hause seine Heimkehr zu vermelden, in der Erwartung, von dort umgehend eine Einladung zu erhalten. Fast täglich kam ja der alte Diener Friedrich nach Frankfurt hinein, um Besorgungen zu machen – und wie oft schon hatte er durch diesen ehemals Botschaft erhalten! So lauerte er auch jetzt und verzehrte sich in Ungeduld, als sie nicht gleich kam.
Die Stadt Frankfurt war ihm schon in ganz wenigen Tagen völlig zuwider geworden. Eine bleierne Nüchternheit und Frostigkeit wehte ihm entgegen. Mit heuchlerischer Miene begrüßten ihn Bekannte und Freunde, erkundigten sich nach seinen »gewiß sehr großartigen« Erlebnissen und machten versteckte schadenfrohe Anspielungen. Die geschäftlichen Dinge vollends, die sich in unliebsamer Weise angehäuft hatten, ärgerten ihn durch Leerheit und aufgeblasene Wichtigtuerei. Was hatten alle diese Dinge und Verzwicktheiten mit seinen eigenen inneren Angelegenheiten und schöpferischen Verpflichtungen zu schaffen? Er kannte nur einen Wunsch: sie möglichst weit von sich abzutun!
Nun war schon der Sonntag da, und als helltönendes Glockengebimmel ihn weckte, schwoll in ihm die Sehnsucht so stark, daß er am liebsten gleich aufgesprungen und spornstreichs nach Offenbach hinübergerannt wäre. Alles stand ihm in so lebhaften Farben vor der Seele, die dortigen Menschen erschienen ihm sämtlich so gut und liebenswert, daß er sich förmlich in ihren Kreis versetzt fühlte und jeden einzelnen herzlich zu begrüßen wähnte.
Ungesäumt setzte er sich hin und verfaßte ein Versepistel – nein, nicht an Lili selbst – sondern mit liebenswürdiger Diplomatie an Herrn und Frau d'Orville. Sie kannten doch nun einmal »den Affen«, der – »was kann wohl Tolleres sein?« – so, mir nichts dir nichts, in die Welt hineingelaufen war. Dafür saß er dann freilich jetzt »auf dem Sand«, und es war ihm »so weh«, die lieben Angesichter seiner guten Offenbacher Freunde wiederzusehen! Er zählte sie alle auf und machte seine spaßhaften Bemerkungen dazu. Und zuletzt kam dann natürlich auch Lili an die Reihe. Da wurde er denn gleich warm und zärtlich, er mochte wollen oder nicht. Wie rührte ihn das wundersame Himmelsblau,
»Das aus den süßen Augen winkt,
drinn' Lieb und Treu wie Sternlein blinkt.«
Ach, und lacht jetzt nicht mitten in seine Schreiberei hinein die liebe Sonne drüben ihren Fensterladen an und sucht nach dem »Engel«, der dahinter versteckt sein sollte? Doch der ist heute leider nicht zu finden! Der ist hinaus aufs Land entflohen!
Doch vorsichtig! Nicht zuviel hiervon! Die anderen sind auch noch da, er muß ihnen ein paar gute Worte schenken. Und vor allem auch die Kinder nicht vergessen, seine innigsten Fürbitter, denen er lauter drollige türkische Namen gegeben hat, wie Mufti, und Scheich Daher, Ali Bey und Abu Dahab! Die sollen jetzt dem süßen jungen Tantchen auf den Schoß klettern, sich an ihr Knie schmiegen und sich herzlich von ihr auf den Arm nehmen und abschmatzen lassen – wenn sie zutraulich flüstern, daß der Onkel Wolfgang wieder zurückkommen soll ...
Wird also der alte Diener Friedrich jetzt seinen Auftrag erhalten? Und ob wohl Pfarrer Ewald und Musikus André nicht gleichfalls ein Verlangen nach Wiedersehen kriegen und mit dem solange Ferngebliebenen mal wieder eine Fechtertour machen und die Klingen kreuzen wollen? Der kann's sowieso in seiner Höhle – oder gar Hölle! – schon nicht mehr aushalten. Der Unmut jagt ihn raus und, ehe man sich's versieht,
»Pliz! Plaz! So bin ich wieder da!«
Keck genug war diese Epistula abgefaßt! Aber schließlich, Wolfgang Goethe ist kein Kopfhänger! Er weiß, daß er, trotz allem, wieder gern gesehen sein wird. Darum will er, nachdem dieses Brieflein ihn angekündigt hat, sich gleich morgen auf die Socken machen und sein übervolles Herz, wie's auch kommen mag, entladen!
Da stand er nun Lili wieder gegenüber!
Blaß, reglos, die Augenlider gesenkt, die Lippen verschlossen, hatte sie ihn im Gartenlusthaus erwartet. Unwillkürlich beugte er sein Knie, ergriff ihre Hand und hauchte schweigend einen Kuß darauf.
Da zog sie die Hand zurück und blickte ihn an. Das klare Blau ihrer Augen hatte stählernen Glanz.
Goethe erhob sich.
Sie müsse ihn verstehen, brach es sprudelnd aus ihm hervor. Er habe gar nicht anders handeln können. Für ihn selbst sei es die schwerste Prüfungszeit gewesen. Nun habe er sie überstanden und mehr als je sei er seiner unlöslichen Liebe gewiß. Er danke ihr aus Tiefstem für die Treue, mit der sie an ihm festgehalten habe. Die Größe und Lauterkeit ihres Wesens – woran er nie habe zweifeln können – habe sich ihm nun doppelt mächtig eingeprägt. Er fühle sich ganz und gar an sie gebunden.
Um Lilis Mundwinkel und Nasenflügel zuckte es, fast schmerzlich. Sie senkte abermals die Lider und leise, stockend kam es von ihren Lippen:
»Was ich tat, war selbstverständlich ... Sprechen wir nicht weiter davon! Komm, folge mir ins Haus, zu den Verwandten!«
Ohne ihm die Hand zu reichen, schritt sie davon. Er schweigend und herzklopfend, doch in aufrechter Haltung, hinter ihr her. Er war fest entschlossen, sie nimmermehr fahren zu lassen. Mochte auch noch soviel neu überbrückt werden müssen.
Die d'Orvilleschen Eheleute bewahrten gute Haltung, mit kaum spürbarer Reserve. Jovial traten sie Goethe gegenüber und bewillkommneten ihn, als von der Reise zurückgekehrten Freund, weltmännisch-unbefangen. Als dann erst die Kinder hereingesprungen kamen und mit stürmischer Freude den geliebten Onkel umjubelten – der natürlich für jedes einzelne etwas aus den Taschen zu ziehen hatte – war äußerlich das Eis gebrochen und alles schien wieder wie ehedem.
Man setzte sich vergnüglich zur Frühstückstafel. Kaltes Geflügel wurde aufgetragen, mit köstlich zubereiteten Salaten, und ein kräftig-süßer Malagawein, dem Goethe wacker zusprach, ließ die Gesichter sanft erglühen. Man sprach von städtischen und familiären Dingen, Goethe mußte erzählen und fand dankbare Zuhörer. Alle bestürmten ihn mit Fragen.
Bloß Lili saß schweigend, die Augen starr auf die Tafel geheftet. Vergeblich suchte Goethe einen Blick von ihr zu erhaschen. War doch sie es vor allem, für die er sprach. Schon drohte ihre Teilnahmlosigkeit ihn zu verwirren – da traten gegen Ende der Mahlzeit das Andrésche Ehepaar und Pfarrer Ewald ins Zimmer und brachten frisches Leben mit sich. Neues Gefrage ging los und mit dem lauter werdenden Stimmengewirr verlor sich die Befangenheit.
Schließlich erhob man sich und ging unter anregendem Geplauder hinaus auf die Gartenterrasse. Frische Bewegung wollte man sich schaffen. Darum wurden Rapiere herbeigeschafft und Goethe machte mit seinem »Fechtbruder« Ewald verschiedene Gänge. Er hielt sich vorzüglich, durch Lilis Anwesenheit befeuert. Doch als er sie verstohlen ins Haus entschwinden sah, verlor er die Lust, focht »erbärmlich« und legte alsbald das Rapier mißmutig hin.
Bekam er wieder seine Launen? Jedenfalls nahm er kurz darauf Abschied und wandelte, ohne Lili nochmals gesehen zu haben, eine Verabredung vorschützend, heimwärts. Gerade weil sein Herz jetzt so voll sehnendem Verlangen war, vermochte er es nicht länger im Zaum zu halten, noch vor Freunden den Gleichgültigen zu spielen.
Mit sich allein mußte er sein! Sonst zersprang ihm die Brust!!