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Doktor Zimmermann und Fräulein Tochter waren abgereist. Sie hatten im Hause des kaiserlichen Rats Goethe das denkbar angenehmste Andenken hinterlassen. Vater, Mutter und Sohn waren sich darin einig. Obwohl letzterer immerhin einigen Grund zur Beschwerde gehabt hätte. Denn das liebe Urselchen hatte ihm, als besondere Erinnerungsgabe, ihren Husten vermacht.
Doch darüber grollte er nicht. Nach den Aufregungen und Strapazen der letzten Zeit war es ihm vielmehr ganz angenehm, den aufgeschnappten Katarrh als Anlaß zu benutzen, ein oder zwei Tage lang das Bett zu hüten. Ganze Ketten von Gedanken und Bildern rollten sich vor ihm ab. Das Gefühl, zu sich selber zu kommen und über Vergangenes und Zukünftiges in aller Gemütsruhe ein wenig träumen und sinnieren zu dürfen, war gewiß nicht von der Hand zu weisen.
Kurz nach zehn Uhr morgens kam seltener Besuch. Vater und Mutter erschienen und nahmen am Bett des Sohnes mit einer gewissen Feierlichkeit Platz. Um so aufgeräumter und ungezwungener zeigte sich Wolfgang selbst, der doch manchmal so schwierig sein konnte. Zunächst ließ er sich das von der herbeigeschlurften alten Christine gebrachte Frühstück, bestehend aus Tee und Zwieback, aufs beste schmecken, und plauderte dabei, so recht wie in alten Zeiten, in ungezwungener Zutraulichkeit. Ach, ihm war ja so wohlig ums Herz, mal wieder wie früher ein wenig das »gute Kind« sein zu können und die lange entbehrte Behaglichkeit häuslichen Segens um sich walten zu sehen. Hatte er nicht ein Paar wirklich gute und wohlgesinnte Eltern, die mit tieferer Liebe, als er verdienen mochte, an ihm hingen und jedes Opfer für ihn zu bringen bereit waren?!
Besonders der Vater war eigentümlich weich gestimmt, wie man's sich kaum noch an ihm versah. Er hatte gerade in diesen Tagen vernommen, daß mit Lili alles zu Ende sei und daß er nun von dieser »Staatsdame« nichts mehr zu befürchten brauchte. Er war seinem Sohne geradezu dankbar dafür und fühlte ihn seinem Herzen näher als sonst. Nur daß er auf das längst abgelegte Projekt mit Demoiselle Münch wieder einzulenken versuchte, war herzlich verfehlt. Da winkte nicht nur der Sohn, sondern auch die Mutter mit Entschiedenheit ab.
So haftete das Gespräch denn vor allem bei der neuen Begegnung mit Karl August von Weimar. Er war wirklich, am Tage nach der Ballnacht, beim Goethehause vorbeigefahren, hatte vor Huld förmlich gestrahlt, auch die Eltern freundlichst begrüßt und in aller Form seine Einladung zu einem längeren Besuch in Weimar erneuert.
Der Mutter hatte dies gewaltig imponiert, der Vater aber, wiewohl auch er sich geschmeichelt fühlte, warnte vor Optimismus. Er war nun einmal gegen alle Fürstlichkeiten mißtrauisch und vertrat standhaft, als Republikaner, die Ansicht, daß man gut daran tue, auf derlei schöne Worte und verlockende Versprechungen nicht allzuviel zu geben. Jedenfalls möge der Herr Filius seine Frankfurter Position nicht außer acht lassen. Wenn er nur halbwegs klug vorgehe, würden ihm die Türen zum Hohen Rat und mit der Zeit wohl gar zu dessen höchster Stelle weit offen stehen. Er solle nur fleißig daran arbeiten, seine Universalbildung zu erweitern, auch ja die kürzlich abgebrochene Reise nach dem klassischen Lande Italia wieder aufnehmen und im übrigen seine Rechtsanwaltspraxis gut in Schwung bringen – wobei ihm die beratende und aushelfende Unterstützung seines Vaters, wie bisher, in ausnehmendem Maße zur Verfügung stehe.
Goethe war ordentlich gerührt über des sonst so mäkelsüchtigen Vaters gnädige Gesinnung und aufrichtige Teilnahme. Nicht minder empfand er die stille Anwesenheit der Mutter als wahre Wohltat. Sie sprach nicht viel, aber er fühlte ihren warmen Atem gehen – und darin lag soviel inneres Glück.
Er selbst empfand stark und tief, daß sein Leben jetzt vor einer Wende stand. Der schmerzlichste Drang seiner Jugend war am Verebben. Was würde ihm die neue Lebensfee bescheren? War es eine Fee Hold oder Unhold?! Was er jetzt abgeschlossen hinter sich sah, waren, wie er sich selbst eingestand, »die zerstreutesten, verworrensten, ganzesten, vollsten, leersten, kräftigsten und läppischsten drei Vierteljahre seines ganzen Lebens«. Und er fühlte, daß derlei nicht wiederkommen durfte. Mit offener Bereitschaft lauschte er daher den erfahrenen und gutgemeinten Worten des Vaters, der ihm dringend ans Herz legte, nunmehr mit geschlossener Kraft einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen.
Was ihn besonders rührte, war, daß aus den zurückhaltend gesetzten Worten des guten Alten doch ein ungemein zärtlicher Stolz auf den so hochgeratenen Sohn hervorleuchtete. Wenn Rat Goethe auch immer wieder die praktische Seite des Lebens hervorhob und für die weitere Entwicklung des Sohnes vor allem eine gesunde Berufsbasis gelegt wissen wollte, so war doch deutlich herauszuspüren, daß sein Hauptstolz den dichterischen Talenten seines Sprossen galt und daß sein höchster Ehrgeiz darauf gerichtet war, gerade diese zu ihrer vollen Reife und Ernte gebracht zu sehen. Darum wandte er sich mit solcher Entschiedenheit gegen die Zerfaserung und Zersplitterung, die er bei seinem Wolfgang manchmal hatte beobachten müssen und die er als die schlimmsten Feinde eines fruchtbaren seelischen Wachstums erachtete. Es klang geradezu eine tiefe Besorgnis aus seinen Worten heraus: ob es dem von der Natur und allen guten Genien so ungewöhnlich reich bedachten jungen Menschen gelingen werde, jene höchsten Höhen seelisch-dichterischer Leistungsfähigkeit, die des Vaters Auge für ihn erschaute, zu erreichen.
Goethe war aufrichtig ergriffen, den Vater so sprechen zu hören, und als die Eltern ihn, nach einer guten Stunde innigen Beisammenseins, verlassen hatten, dachte er, im Bett ausgestreckt, tief und intensiv über all das Beredete nach. Etwas pedantisch hatte der Vater ja freilich den vorgetragenen Lebensplan auskalkuliert; aber das viele Gute, das darin war, wollte der Sohn zweifelsohne beherzigen. Nur war seine Art eine andere und freiere, ging nicht immer stramm und unentwegt geradeaus, sondern liebte auch blumige und dämmrige Seitenpfade. Aber gerade so hoffte er sein ureigenstes Ziel am natürlichsten zu erreichen.