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Aus der Wohnstube

I. Des Vaters Nase.

In dem nicht allzu geräumigen Schlafzimmer herrschte eine drückende Schwüle. Ein hell loderndes Feuer in dem schwedischen Ofen, mehrere brennende Lampen und die Anwesenheit sämtlicher weiblichen Verwandten der im Bette liegenden blassen Frau erzeugten schließlich eine so unerträgliche Wärme, daß sich die weiblichen Verwandten veranlaßt sahen, um ein wenig Kaffee zu bitten, weil dieser nach ihrer langjährigen Erfahrung eine ungemein kühlende Wirkung besitze. Die weiblichen Verwandten verschmähten es in ihrer rührenden Anhänglichkeit an die Frau des Hauses, von einem unzweifelhaft weit erfrischenderen Mittel Gebrauch zu machen, welches darin bestanden hätte, daß sie sämtlich fortgegangen wären. Sie behalfen sich lieber mit einigen Schalen Kaffee, klapperten und plapperten, während bereits eine unsichtbar den Raum durchschwebende Kinderseele sehnsüchtig die Augenblicke zählte, nach welchen es ihr gegönnt sein würde, sich hernieder zu senken und durch den unentweihten Spiegel der Augen eines neugebornen Wesens den ersten zärtlichen Mutterblick zu empfangen.

Die weiblichen Verwandten versüßten der blassen Frau die Bänglichkeit der Stunde durch die Schilderung anderweitig miterlebter Fälle dieser Art, wobei sie nicht zu betonen vergaßen, daß nach vermeintlicher Überwindung aller Schwierigkeiten häufig erst der Tod einzutreten Pflege, welcher jedoch ihres Wissens auch das Alleräußerste sei, was unter den obwaltenden Verhältnissen sich ereignen könne, und sie wollten nicht hoffen, daß es so schlimm stehe, Gott behüte. Die ebenfalls anwesende weise Frau begnügte sich vorläufig, die Wichtigkeit ihres Amtes durch ein geschäftiges, aber eigentlich zweckloses Hin- und Herlaufen darzuthun, wobei sie eine Reihe der notwendigsten Gegenstände verschleppte, wie eine alte Katze, sodaß dieselben im entscheidenden Momente ganz und gar unauffindbar waren.

Inmitten dieser Vorbereitungen ließ sich draußen die Stimme des zukünftigen Vaters vernehmen, welchen wir indes nicht ohne eine kurze Bekanntgabe gewisser Eigentümlichkeiten seiner Anschauungen einführen können.

Herr Dominik Schütz hatte nämlich bei seiner Geburt das Unglück gehabt, einer höchst unverständigen und unzarten Madame in die Hände zu fallen. Infolge der groben Behandlung war sein Gesicht zu beklagenswert unregelmäßigen Formen gekommen, indem das rechte Ohr höher stand als das linke, und die Nase für immer in derselben Wendung nach links verharrte, welche ihr an jenem unseligen Tage gegeben worden. Nie konnte Herr Schütz vergessen, wem er diese Verunstaltung seines sonst nicht unvorteilhaften Äußeren verdanke, und es blieb ein hervorstechender Zug in seinem Charakter, daß er alle Hebammen auf das bitterste haßte. Als er sich zur Ruhe setzte und heiratete, quälte ihn unausgesetzt die Sorge um die Erhaltung wohlgebildeter Gesichtszüge bei seinem Kinde, und da er in dieser Hinsicht auch dem gesamten Professorenkollegium der Geburtskunde nicht das gebührende Vertrauen schenkte, so ließ er sich selbst in jenen Kurs eintragen, welchen die Sicherheitswache zum Zwecke rascher Hilfeleistung über den angedeuteten Gegenstand hören muß. Er hatte zu Hause, um auf keinen Widerstand zu stoßen, sein Vorhaben nicht bestimmt ausgesprochen, sondern bloß ein strenges Verbot auf die Besuche weiser Frauen gelegt.

Natürlich war dieses Verbot von den weiblichen Verwandten unter weiblicher Verschimpfierung des herzlosen Gatten, Wüterichs u. s. w., übertreten worden, und die erste Person, welche Herrn Schütz entgegenkam, war Madame Stolzenthaler, welche eben wieder irgend einen Gegenstand zu verschleppen im Begriffe war. Sie stellte sich dem etwas erregt Ankommenden mit den Worten in den Weg: »Der Herr Gemahl, nicht wahr? Entschuldigen, ich muß erst anfragen bei der Gnädigen, ob Sie auch recht kommen.« Herr Schütz bemeisterte seinen Grimm und erwiderte bloß, auf jedes Wort einen besonderen Nachdruck legend: »Madame, ich kann Ihnen nur sagen, daß ich recht komme; verstehen Sie mich gut: ich komme recht. Alles weitere ist meine Sache, Sie brauchen sich nicht weiter aufzuhalten.«

Madame Stolzenthaler deutete diese Äußerung so, als ob sie ihr Herumtänzeln fortsetzen könne. Allein Herr Schütz riß sie aus diesem Irrtum, indem er eine der flammendsten Reden hielt, welche je gegen Hebammen gehalten worden. Er wies darin nach, daß alle Krüppelhaftigkeit auf der Welt, aller Aberglaube, aller Familienklatsch nur aus dieser Quelle stamme. Er verwies auf die Wilden, welche ohne ein solches Institut bestehen könnten und doch beneidenswert regelmäßige Formen besäßen – davon selbstverständlich abgesehen, daß sie plattgedrückte oder aufgestülpte Nasen hätten, was bei ihnen ja ein natürlicher Zustand sei. Und indem er schließlich Madame Stolzenthaler aufforderte, dem Gremium ihrer Berufsgenossinnen die niederschmetternde Mitteilung zu machen, daß er, Dominik Schütz selbst das erhabene und heilige Amt übernehmen werde, seinem Kinde ein regelmäßiges Antlitz zu sichern, ersuchte er sie, sich zu entfernen.

Madame Stolzenthaler stieß einen Schreckensruf aus, da sie vermeinte, der Sprecher sei plötzlich irrsinnig geworden; sie flüchtete sich in das Schlafzimmer, dessen Thüre sofort von innen verriegelt wurde. So blieb auch die Situation, bis der verzweiflungsvoll das Zimmer auf- und abschreitende Mann verständigt wurde, daß er Vater geworden ...

Wir fanden ihn dieser Tage vor dem Bagatellrichter des Bezirkes Landstraße wieder, wo er sich mit übermenschlicher Kraft gegen die Zumutung der Klägerin Madame Stolzenthaler wehrte, ihr ein Entbindungshonorar von dreißig Gulden zu bezahlen. Er hatte derselben, um sein nach Genugthuung dürstendes Gemüt doch ein wenig zu befriedigen, nur acht Gulden bewilligen wollen, mit der Begründung, daß sie ihre Kunst schlecht verstehe.

Der Richter erkannte jedoch der Klägerin den ganzen angesprochenen Betrag zu und Herr Schütz mußte sich darein fügen. Er bezahlte auf der Stelle, bemerkte aber dabei gegen den Richter:

»Sehr geehrter Herr Rat, ich kann Ihnen nur sagen, das Kind hat meine Nase und ich glaube, daß an dieser traurigen Erscheinung nur diese Frau da Schuld trägt ...«

*

II. Die Kinder des Regiments.

Die Regelmäßigkeit, mit welcher gewisse Dinge in einem der kleinen alten Bürgershäuser der Lindengasse in der Vorstadt Neubau vor sich gingen, erinnerte unabweislich an die unerreichte Pünktlichkeit, mit welcher in Tristram Shandys Vaterhause die große Stiegenuhr aufgezogen wurde. Nur geschah dies dort monatlich, während es hier, in dem kleinen Bürgershause, dessen Besitzerin die von ihrem Gatten geschieden lebende Frau Theresia Basler ist, den Anschein hat, als würde das alle Verhältnisse und Vorkommnisse leitende Uhrwerk bloß alljährlich aufgezogen. Denn alljährlich zu derselben Zeit sahen die Nachbarn Madame Benisch, eine gesprächsfreudige, bejahrte Dame in bequemen Tuchschuhen und geblümtem Umhängtuche, eine gestickte Handtasche am Arme tragend, der Frau Basler eine Reihe von Kaffeevisiten abstatten, welche immer eine Katastrophe nach sich zogen. Es stürzte nämlich dann an einem Abend das Dienstmädchen der Frau Basler in großer Aufregung auf die Straße hinaus und eilte schief hinüber nach einem Hause, über dessen Thor sich ein ovales Schild mit gemalten Wolken, einer Mutter Gottes und einem strampelnden Kindlein befindet. Kurz darauf stürzte Madame Benisch aus diesem Hause und eilte dem Mädchen voraus mit äußerst entschlossener Miene schief hinüber nach dem Baslerschen Hause, wo sich später, nach einigen Stunden einer geheimnisvollen Thätigkeit im Innern der Wohnung, Thüren Auf- und Zuschlagens, Wasserholens, Stillegebietens, Nachfragens, Stiegentratsches u. s. w., die Botschaft verbreitete, die Hausfrau habe schon wieder ein Kind bekommen. Genau so und so viel Tage nachher hielt ein Wagen vor dem Thore, den die ungemein besorgt aussehende Madame Benisch mit dem eingemummten und verschleierten Weltbürger, unterstützt von einem stattlich gekleideten Paten, bestieg und zur Taufe in die Kirche fuhr. Hierauf lies die Sache, wie sie angefangen, in eine Reihe von Kaffeevisiten der Madame Benisch aus, bis sie sich übers Jahr zur selben Zeit ganz genau so wiederholte.

Die sprichwörtlich gewordene Notwendigkeit, daß man jedem Kinde einen Namen geben müsse, versetzte Frau Basler bei dem Umstande, als ihr Gatte sich unzweifelhaft in keine fremden Angelegenheiten mischen wollte, anfänglich in arge Verlegenheit. Sie entschloß sich endlich, die Kinder unter ihrem Familiennamen in die Taufmatrikel eintragen zu lassen und glaubte damit nicht allein die allerwahrhaftigste Angabe gemacht, sondern auch jeder falschen Mutmaßung vorgebeugt zu haben. Dessenungeachtet wurde sie vom Bezirksgerichte wegen Falschmeldung der Kinder zu einer Geldstrafe von fünfzehn Gulden verurteilt, weil sie, obwohl geschieden, dennoch den Namen ihres Mannes tragen müsse. Schon bei dieser Verhandlung war geltend gemacht worden, daß Frau Basler selbst sich geäußert habe, die Väter der angeblich falsch gemeldeten Kinder seien in Offizieren vom Hauptmann aufwärts zu suchen, und es sei daher nur eine heilige und lobenswerte Rücksicht auf den schuldlosen Gatten, daß man die Kinder des Regimentes nicht mit seinem Namen in der Welt herumspazieren lasse. Es wäre vielmehr eine Falschmeldung, wenn man die Kleinen mit dem fremden Namen Basler geschmückt hätte. Aus demselben Gesichtspunkte wurde die Berufung gegen das Urteil vor dem Appellsenate erhoben und Madame Benisch vorgeladen, um die entsprechenden Auskünfte zu geben. Sie verspätete sich jedoch sehr, und schon glaubte man auf ihr Erscheinen ganz verzichten zu müssen, als die brave Frau atemlos zur Thüre hereinkam.

»Gnaden, Herr Präsident,« keuchte sie und richtete sich mit zitternden Händen die Bänder ihrer Haube zurecht, »bitt' vielmals um Entschuldigung, aber ich komm' g'rad von einer schweren Geburt und ...«

Die herzensgute Person hätte sich's trotz ihrer Erschöpfung nicht versagt, das Auditorium über die näheren Umstände dieser schweren Geburt auf das ausführlichste zu unterrichten, wenn nicht der Vorsitzende ihr ins Wort gefallen wäre und ihr geraten hätte, sie möge sich vor allem ein wenig erholen. Nach einer kurzen Pause fühlte sich Madame Benisch kräftig genug, ihre wertvollen Erfahrungen mitzuteilen.

»Ich sag' nur,« meinte sie, häufig luftschöpfend, »was ich weiß ... nur was mir die Frau Basler selber g'sagt hat, über die Kinder nämlich .. Gotigkeit Ein aus dem Curialstil korrumpiert in den Wiener Dialekt übergegangenes Wort; es stammt von quod dicat (soll heißen). über die Herren Väter ... sie sein, hat's g'sagt, von allen Chargen vom Hauptmann aufwärts ... also vom Regimentsstab oder so was ... und denken's Ihnen, Gnaden Herr Präsident ... im Vertrauen hat sie mir g'standen, daß der Vater vom letzten Kind gar ein Jud is ... denken's Ihnen ... und daß bei der Tauf von dem letzten Kind der Hauptmann, was der Vater von dem vorletzten Kind is ... G'vatter g'standen is ... schön von ihm, net wahr? ...«

Madame Benisch durfte sich nach dieser interessanten Auskunft entfernen, worauf der Gerichtshof nach kurzer Beratung einen Freispruch fällte, da der Vertreter der Staatsanwaltschaft in der That keinen Anstand nahm, zuzugeben, daß die Eintragung der Kinder auf den Familiennamen der Mutter in der guten Absicht geschehen sei, den geschiedenen Gatten nicht über Gebühr zu belasten.

*

III. Aus den Memoiren eines Zwillings.

(Zu einem Paternitätsprozesse.)

Als meine Mutter mir das Leben schenkte, war ich bereits tot. Ich erinnere mich daran, als ob es gestern gewesen wäre. Meine Seele hatte sich auf den Deckel eines Einsiedeglases zu meiner Mutter Häupten geschwungen, mein Körper aber lag entseelt neben dem meines Zwillingsbruders. Ein braver Bursche! Er schrie für uns beide, sodaß die weise Frau einen Augenblick an meinem Tode irre ward und mich noch einmal genau betrachtete, ehe sie die Trauerbotschaft verkündete. Ich hätte nie geglaubt, daß mein Hinscheiden eine so schmerzliche Sensation erregen würde, da mich ja selbst meine Mutter kaum vom Sehen kannte und die übrigen Anwesenden mir ganz und gar fremd waren. So weit ich die herrschende Stimmung beurteilen konnte, wurde ich deshalb so tief bedauert, weil ich gestorben sei, ohne mein Leben genossen zu haben. Eine Frauensperson – wahrscheinlich war es die Köchin – machte im Hinblicke auf mein betrübendes Schicksal die vortreffliche und sinnige Bemerkung, ich wäre, was Unschuld und unverdientes Unglück betreffe, nur mit einem ihr bekannten Fuhrwesensoldaten zu vergleichen, welcher aus dem Tanzboden, unmittelbar nachdem er ihn betreten, und ohne einen Schritt getanzt zu haben, sofort wieder hinausgeworfen worden sei.

Ich muß indes gestehen, daß ich nach den Lebensgenüssen, die meinem Zwillingsbruder nun zu teil wurden, kein sonderliches Verlangen trug. Nachdem man ihn wie ein Huhn in heißem Wasser abgebrüht hatte, wurde ihm in Ermanglung von Milch Thee eingegeben, was ihn so wütend machte, daß er ( zum Glück unverständlich für seine Umgebung) einen Fluch ausstieß und kreischte: »O du verdammte Theegesellschaft! Muß ich gerade da hereinfallen!« Ich vermochte auch in seiner Seele die schwärzesten Vorsätze über die Art und Weise zu lesen, wie er sich an seinen Peinigern gelegentlich zu rächen gedachte. Dann wurde die Sache langweilig, indem die weise Frau anhub, die Lebensgeschichte von Drillingen zu erzählen, welche einander so zugethan waren, daß keiner den Tod des andern überleben wollte, weshalb alle drei auf der Landstraße einen Reisenden erschlugen und infolge dessen zu ihrer aufrichtigen Freude gleichzeitig gehenkt wurden.

Schon wollte ich mich auf den Weg machen, um die Beschäftigung, welche der Philosoph Herr Louis Figuier allen Kinderseelen angewiesen hat, nämlich das Kreisen um die Sonne, aufzunehmen, als ein fremder Herr in das Zimmer trat. Dieser Fremde war mein Vater. Doch, was nenne ich ihn so, er verdient ja diesen Namen nicht. Er hat mich vor Gericht verleugnet und ausgesagt, mein Gesicht wäre nicht das seine, sondern das eines andern gewesen – dieselbe frivole Behauptung, die er sich schon damals zu Schulden kommen ließ, als ich zur Vergleichung neben meinen Zwillingsbruder gelegt wurde.

So muß ich denn mit aller Wahrheitskraft, deren mein reiner Geist fähig ist und unter Berufung auf sämtliche noch lebende Säuglinge die feierliche Erklärung abgeben, daß ich nicht anders ausgesehen habe, wie alle anderen neugebornen Kinder, von welchen, so lange das Menschengeschlecht besteht, keines je in diesem zarten Alter irgend jemandem außer wieder einem neugebornen Kinde ähnlich gesehen hat. Noch habe ich mein ausdrucksloses Antlitz mit den dicken Backen, blauen Augen und der Stumpfnase lebhaft in Erinnerung und weiß, daß ich ebenso gut der Zwillingsbruder von tausend anderen Kindern hätte sein können. O, über den sträflichen Mutwillen also, welcher findet, daß ein neugebornes Kind jemandem zum Sprechen ähnlich steht, da es doch das letztere vor einem Jahre gar nicht zu leisten vermag!

Dieses Blatt aus seinen Memoiren widmet zur Vertilgung eines oft so unliebsamen Vorurteils

N. N.,
gewesener Zwilling.

* * *


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