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O Macht der Gewohnheit! Wer hätte nicht eine Scheu davor, die düsteren Räume des Kriminals ohne Not zu betreten, wer zöge es nicht am Auferstehungstage vor, sich unter die im Sonnenlichte auf den Straßen dahineilende Menge zu mischen und das Halleluja aus dem Munde freier Menschen singen zu hören, anstatt der Auferstehungsfeier im Landesgerichte beizuwohnen? Aber das Haus hat seine Schrecken verloren für denjenigen, der so manche Jahre Tag für Tag in diesen hallenden Korridoren herumzuwandern gewohnt ist; der die Gesichter der Wachen kennt und ihre Namen; der vertraut ist mit dem Anblick vergitterter Fenster und eiserner Thüren, mit dem Gebimmel der Kapellenglocke und dem Zellengeruche, der durch die großen Schlüssellöcher der Gefängnisthüren auch in die Freiheitsgänge dringt. Man wird durch fortgesetzten Besuch sogar im Kriminale Hausfreund und nimmt als solcher teil an allen Ereignissen, welche sich dort vollziehen.
Die Auferstehungsfeier im Gefängnisse, sie gewährt immer ein eigentümliches Bild, ein Bild in trüben, trüben Farben. Da ist der lange Korridor im ersten Stockwerke, in welchen die breiten massigen Pfeiler so tiefe Schatten werfen. In den lichten Stellen unterhalb der gerippten Fenster wallen die Weihrauchwolken auf und nieder wie gefangene Sonnenstäubchen, und aus dem dunkeln Hintergrunde beiderseits glitzern die Bajonette und Uniformen von Justizwachen hervor.
Noch sind die Gefangenen auf der andern Seite des Gefängnishofes in der Kapelle versammelt, aus welcher kein Laut in den Korridor zu dringen vermag. Leise Töne, wie fernes Wehklagen, verkünden zuerst, daß die Prozession der Gefangenen die Kapelle verlassen hat und durch die langen Gänge der Eisenthüre sich nähert, aus welcher sie in den Korridor tritt, um nach Durchschreitung desselben durch eine zweite Eisenthüre wieder in dem Inneren des Gefängnisses zu verschwinden.
Die Stimmen werden vernehmlicher; es sind Weiberstimmen. Sie hallen vorwärts und zurück, hinein in den dumpfen Gesang der Männer, der jetzt ebenfalls aus der Tiefe des Gefängnisses hörbar wird. Dieses Osterlied der Gefangenen, wirr durcheinander gesungen, da jede Abteilung nur sich hört und nicht die andere, macht einen unbeschreiblich jammervollen Eindruck. Das Gemüt wird erfüllt mit der Vorstellung einer grenzenlosen Trübsal und furchtbaren Hoffnungslosigkeit.
Immer stärker ertönen die Stimmen, schon unterscheidet man das Schlurfen vieler Tritte, und nun öffnet sich die Eisenthüre – das Osterlied der Gefangenen schallt in schrillen Klängen heraus. Paar für Paar wälzt sich die graue Masse der Kerkerhäftlinge vorüber. Welch' erschreckende Weibergestalten! Welche Summe von Laster und Elend und Unglück in diesen Gesichtern, ob sie nun frömmelnd verzerrt oder dreist erhoben sind. Die noch einen Rest von Scham in sich haben, schluchzen laut und bedecken das Antlitz mit ihren Tüchern. Und was für sonderbare Blicke haben diese geschorenen Männer, wie mustern sie die Reihe der Anwesenden, welch' abscheuliche Gebreste tragen viele zur Schau!
Man atmet auf, wenn diese Gestalten vorüber sind und ihr Osterlied allmählich wieder im Gefängnisse verklingt. Für den Rest des Tages aber bleibt eine herbe, trostlose Verstimmung zurück, und damit geschieht einem ganz recht; denn ein auf freiem Fuß befindlicher, halbwegs vernünftiger Mensch feiert seine Ostern nicht im Landesgerichte.
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Unser Zimmer, das der Berichterstatter, gewährt die Aussicht auf einen Gefängnishof. Er ist breit und hell; wenige Häuser in Wien haben solche Hofräume. Dennoch erscheint dieser Hof düster, langweilig und so zwänglich, daß sein Anblick die Brust beklemmt. Die Sonne leuchtet voll und warm hinein, aber sie, die Gebärerin des Lebens, findet nichts, was unter ihren Strahlen aufquellen möchte; es seien denn die armen Menschenherzen hinter den Mauern – und so weit reicht ihr Einfluß nicht. Die Sonne macht den Hof noch lebloser, denn sie beleuchtet scharf die wenigen Dinge darin, und da merkt man desto mehr, wie gefangen sie alle sind. Zwischen dem Pflaster sprießen einige Gräslein hervor und thäten sich gerne regen; doch die harten Steine halten sie fest umklammert, und so schauen sie jetzt schon welk und verzagt aus. Was haben die armen Pflanzen verbrochen, daß auch sie im Gefängnisse schmachten müssen?
An der Wand gegenüber sind zwei Blitzableiter. Sie gleichen zwei angeschmiedeten Schlangen. Der Regen hat den Rost von ihren dünnen Leibern gewaschen, und das über die graue Wand gerieselte Naß macht den Eindruck, als hätten die beiden magern Gesellen blutige Thränen geweint über ihr einsames trauriges Dasein. Seit Jahrzehnten warten sie darauf, einen aus seinen Himmeln gestürzten Blitz einzufangen, aber es ist noch keiner gekommen, so sehnsüchtig die Beiden auch ihr spitziges Haupt in die Lüfte bohren ... Dann ist noch ein Thor zu sehen im Hofe, das sich unverrückt unter Schloß und Riegel hält. Ob es jemals geöffnet worden, ist uns nicht bekannt. Wir haben das Vorgefühl, daß es in dem ganz unwahrscheinlichen Falle der Eröffnung jämmerlich knarren würde, denn eine solche Bewegung müßte ihm in seinen ausgetrockneten Gelenken erschreckliche Schmerzen verursachen.
Auf der anderen Seite sieht man aus jedem der drei Stockwerke je eine Klingel ragen. Die Federn, an welchen sie hängen, haben einen so redseligen Schwung, als möchten die Glöckchen gerne alle Welt herbeiläuten, um Geschichten voll Elend und Entsetzen über die Bewohner der Innenräume zu erzählen. Aber auch sie sind zu ewigem Schweigen verdammt. Das ist alles – doch nein, hinter dem Gitter unseres Fensters steht noch ein Gartentopf mit ausgedörrter Erde. Er steht schon lange da, und niemand weiß, wer ihn gebracht. Neuestens wurde eine Anpflanzung versucht in seiner Erde. Ein Kollege steckte nämlich ein Wachszündhölzchen hinein; das erweckt die angenehme Täuschung, als ob ein zartes Pflänzchen herauswüchse. Der Topf wird Jahre lang unverändert bleiben, gleich dem Blitzableiter, dem Thore und den sonstigen, eben beschriebenen Sehenswürdigkeiten des Gefängnishofes.
Der Straßenlärm verrinnt auf dem Wege über die hohen Mauern. Es ist drückend still; nur der dumpfe Ton der Kirchenglocken schwebt ab und zu herbei und lagert schwermutsvoll über den kahlen, im Sonnenlichte flimmernden Höfen, nach welchen die Zellenfenster der Gefangenen sehen.
Ein Fleischkloß des Mittags mehr – das ist die ganze Pfingstfreude im Landesgerichte! ...
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Eine Gerichtsstube gleicht der andern. Der grünbehangene Verhandlungstisch mit dem Kruzifix und den Leuchtern in der Mitte seitlings beim Fenster der gelb angestrichene Schreibtisch des Richters, an den Wänden schmucklose Regale für die zwischen Pappendeckel gepreßten Akten, und vor dem Ofen ein halbrunder Stehschirm mit beweglichen Brettchen zum Schutze gegen das mächtige Feuer. Eine dicke Kruste von Staub überzieht den Fußboden und alle Einrichtungsgegenstände, so daß es einem scheint, als ob die sogenannten Staubferien bei den Gerichten deshalb diesen Namen führten, weil man dem Staube mitunter Gelegenheit geben wolle, sich noch ungestörter als sonst überall niederzulassen. In diesen Gerichtsstuben walten die Einzelrichter ihres Amtes. Fast jeder pflegt irgend eine Kleinigkeit hineinzutragen, aus welcher zu erkennen ist, welcher besonderen Neigung die Amtsperson in ihrem Privatleben nachhängt. Klebt ein Bergpanorama über dem Schreibtische, so ist der Richter sicherlich ein Tourist; tickt nebst der Amtsuhr eine andere Uhr im Zimmer, so ist er ein Uhrensammler; steht neben dem abgeklexten Amtstintenfaß ein sauberes kleines Tintenzeug, so hält er was auf äußere Form und Eleganz; welkt in dem Zwielicht am Fenster eine Blume dahin, so hat er gewiß zu Hause seinen kleinen Wintergarten: – kurz, man gewahrt meist, daß das Wesen des Privatmenschen auch im Amte irgendwie zum Ausdrucke kommt.
Einer der wunderlichsten und dabei liebenswürdigsten Einzelrichter ist endlich aus der kleinen Amtsstube, in welcher er viele Jahre unverdrossen und gewissenhaft Tausende von Ehrenbeleidigungen, leichten Körperverletzungen und sonstigen kleineren Übertretungen ahndete, auf einen höheren Posten befördert worden. Für ihn und sein ganzes Gehaben war gleichfalls ein Gegenstand charakteristisch, den er selbst herbeigeschafft hatte, und der stets auf seinem Schreibtische zum Gebrauche bereit stand. Es war dies ein Zerstäubungs-Flacon mit verdünnter Karbolsäure, dessen sich der Richter täglich mehrere Male bediente, um die nach seiner Überzeugung mit Miasmen gesättigte Luft der Gerichtsstube zu verbessern. Vorsicht, Ängstlichkeit und Genauigkeit waren die Grundzüge seiner Amtsführung und seines ganzen Verhaltens. Namentlich erfüllte ihn ein heftiges Mißtrauen in den Gesundheitszustand der Häftlinge, die ihm täglich Mittags aus den Gefängniszellen der Polizei oder des Landesgerichtes zur Abstrafung vorgeführt wurden. Wenn diese Bursche eintraten, rückte er sich die Brille zurecht und musterte jeden Einzelnen scharf; auch durfte ihm keiner zu nahe an den Verhandlungstisch gebracht werden, denn er fürchtete zu allem anderen die Unreinlichkeit dieser Vagabunden. Kratzte sich einer, so sah man deutlich, welche qualvollen Vorstellungen dies dem Richter verursachte. In diesem Falle wich er später der Stelle, wo das Individuum gestanden war, in weitem Bogen aus und gab Befehl, die ganze Örtlichkeit gründlich zu reinigen. Wenn dann die Arrestanten die Stube wieder verlassen hatten, war er mit einem Sprunge bei seinem Karbolfläschchen und begann mit wahrem Fanatismus herumzuspritzen: auf seine Kleider, auf den Tisch, in die Luft, und aus behutsamer Entfernung auf den Standplatz der Arrestanten.
»Herr Doktor,« pflegte der anwesende Polizeikommissär und staatsanwaltliche Funktionär sich jedesmal zu äußern, »Herr Doktor, finden Sie nicht, daß die Spritzerei noch mehr stinkt als die Häftlinge?«
»Macht nichts, Herr Staatsanwalt, macht nichts, gesund ist's aber,« erwiderte der Richter vergnügt und badete sich förmlich in dem seine Ängstlichkeit beschwichtigenden Karbolgeruche.
Seine Ängstlichkeit war auch die Ursache einer anderen Wunderlichkeit, nämlich der Scheu vor »Oben«. Was er eigentlich unter »Oben« verstand, war nie recht zu erfahren; man fand in ihm immer nur einen fabelhaft erhabenen und ebenso dunklen Begriff von den Mächten »Oben« vor. Ersuchte ihn ein Journalist um Auskunft, ob dieser oder jener Prozeß heute stattfinden werde, so lautete seine Antwort überaus höflich, aber stets ablehnend: »Bitte zu entschuldigen, aber ich glaube, das gehört in die Sphäre des Amtsgeheimnisses. Was würde man Oben sagen, wenn ich solche Mitteilungen machte.« Wenn ihm nun auch erwidert wurde, daß »Oben« den Mittelspersonen der Öffentlichkeit derlei Auskünfte stets bereitwillig erteilt würden, da ganz und gar kein Amtsgeheimnis darin liege, so zeigte er sich doch unerschütterlich in seiner gegenteiligen Meinung. Die gewöhnliche Rache der Journalisten bestand darin, nunmehr einen ganzen Vormittag in seiner Gerichtsstube zu verweilen und scheinbar eifrig seine Reden an die Angeklagten zu notieren. Dies bedrückte ihn ungemein, da er argwöhnisch gegen sich selber war und bei all' seiner Buchstabentreue irgend einen Formfehler zu begehen fürchtete, der gegen ihn ausgebeutet werden könnte. Er fühlte sich dann dermaßen belauert, daß er den unbedeutendsten Fällen unendlich weitschweifige Urteilsbegründungen widmete, die er, um auf das Gewissen der Angeklagten zu wirken, im Predigertone vortrug, und die er später ebenso ausführlich niederschrieb, da er viel zu genau war, um sich auch nur ein Wort davon zu schenken. Während eines solchen Vormittages der Rache machte er den Eindruck eines Dulders und Märtyrers für seine bessere Überzeugung, aber er blieb derselben treu, und die Journalisten achteten ihn viel zu sehr, um etwa im Ernste ein ihm abträgliches Detail an die große Glocke zu hängen.
Nach alledem kann es auch niemanden wundern, daß dieser Richter im amtlichen Verkehre mit dem anderen Geschlechte von einer rührenden Schüchternheit und Zartheit war. Wenn eine der vor ihn gebrachten Weibspersonen nicht geradezu das Aussehen hatte, als ob sie eben durch das Rinnsal geschleift worden wäre, so fiel es ihm merklich schwer, an ihre Verworfenheit zu glauben. Diese Harmlosigkeit ging so weit, daß er gelegentlich eines Prozesses, welcher eine furchtbare Orgie zum Gegenstände hatte, im Urteile als erschwerend die Anwesenheit von zwei unverdorbenen Damen der Halbwelt anführte. Er wollte damit, obgleich alle weiblichen Anwesenden so ziemlich demselben Stande angehörten, den Unterschied zwischen größerer und geringerer Verderbtheit hervorheben.
Für einen so guten, arglosen Mann muß es eine wahre Erleichterung gewesen sein, von der täglichen Berührung mit Lumpengesindel enthoben zu werden und das Karbol-Fläschchen in Ruhestand versetzen zu können. Hoffentlich nimmt er es mir nicht übel, daß ich einige seiner Eigenheiten aus meinem Notizbuche herausgeschrieben habe. Er ist übrigens selbst Schuld daran, daß er so eingehend beobachtet werden konnte. So ein langweiliger Vormittag des Rache-Aufenthaltes in seiner Amtsstube trug doch immer seine Kritzelfrüchte.
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Er schlief immer. Sein Beruf brachte das mit sich, denn er war ein Bäckergeselle. Seit den ältesten Zeiten ist es ein Gegenstand unermüdlicher Forschung seitens der Menschenfreunde, den Zeitpunkt zu bestimmen, wann Bäckergesellen und Lehrjungen in ihren Betten schlafen. Es scheint dies äußerst selten oder nie der Fall zu sein, denn es giebt ja dreimal des Tages frisches Gebäck und in der Nacht wird überdies der ganze Bedarf an Hausbrot gebacken. Des Teigschupfens ist somit kein Ende und nichts begreiflicher, als die sprichwörtlich gewordene Schläfrigkeit der Bäcker. Unser »Bäckenbub« im Landesgerichte schlief also immer. Am Morgen gegen neun Uhr erschien er mit einem großen Korbe voll Gebäck und einem kleinen dampfenden Blechkessel, der die Würstel enthielt, im Erdgeschosse des Landesgerichtes. »Guten Abend,« sagte er leise zu den Justizwachen. Er kannte den Begriff Morgen nicht, weil ja auch die Nacht für ihn nicht dasselbe bedeutete, wie für andere Menschen. Unmittelbar nach seiner Ankunft entwickelte sich ein lebhaftes Geschäft in Salzstangeln, Wecken und kleinen Würsteln. Die Parteien des Bezirksgerichtes sind gemeiniglich Frühaufsteher und um neun Uhr Vormittags einem Gabelfrühstück nicht mehr abgeneigt. Der Bäckenbub verabfolgte die Eßwaren langsam und ordentlich, hierin, dorthin, wie einer, der sich vor dem Schlafengehen des Inhaltes seiner Taschen entledigt und alles an den gewohnten Ort legt. War dies geschehen und der erste Andrang vorüber, so nahm er den Kessel zwischen die in »Schlapfen« steckenden Füße, umfing den Korb mit dem rechten Arme und schlief augenblicklich ein. Der ungepflegte Kopf mit dem schmalen blassen Gesichte sank auf die halbnackte Brust herunter, die linke Hand ruhte unter der Schürze auf der Geldtasche und die tiefen Atemzüge des Schläfers wirbelten den gesamten Mehlstaub auf, der die blaue Barchentjacke bedeckte. Glitten dann die ersten Sonnenstrahlen in die Fensternische des Korridors hinein, wo des Bäckenbuben Ruhestätte zu sein pflegte, so sah man die Mehlstäubchen einen lustigen Tanz um ihren früheren Träger aufführen, der Kessel zu seinen Füßen summte das Liedlein dazu und die ihm entsteigenden Dämpfe erregten wohl stets in dem Schläfer eine Reihe der behaglichsten geselchten Traumvorstellungen.
So sah man ihn täglich. Es wäre aufgefallen, wenn er eines Tages wachenden Auges dagesessen wäre, und gewiß hätte man ihn gefragt, ob er sich unwohl fühle, weil er plötzlich an Schlaflosigkeit leide. Auch vermochte er in diesem Zustande ganz gut Geschäfte abzuschließen. Dies geschah, gleichwie in der Hypnose, lediglich automatisch, durch Reflexbewegungen. Drückte man ihm zwei Kreuzer in die den Korb umschlingende Hand, so öffnete die Hand den Deckel und klappte ihn, wenn das Gebäck herausgenommen war, wieder zu. Fühlte die Hand sechs Kreuzer, so bewegte sie sich abwärts zum Wurstkessel, fischte ein Paar heraus und überreichte es dem Käufer. Der Bäckenbub' kam bei diesen Verrichtungen durchaus nicht aus dem Schlafe, ja er träumte sogar dabei von weit abseits liegenden Dingen. Wie mehrere Gefangenaufseher versicherten, seufzte er oft auf und sprach den Namen »Tonerl« aus. Hierüber befragt, machte er das Geständnis, daß er einst, auf einer Bank im Rathausparke sitzend, die Bekanntschaft eines hübschen Mädchens namens Tonerl gemacht habe. Es schien ihm, daß nicht allein sein galantes Anerbieten, ihr aus dem Korbe zwei Baunzerln zu geben, sondern auch sein sonstiges Benehmen einen günstigen Eindruck auf die Schöne hervorgebracht habe. Allein ein unseliger Zufall hatte es gefügt, daß er während des Nachsinnens über die entsprechendste Form einer Erklärung plötzlich das Bewußtsein verlor und dasselbe erst wieder gewann, als Tonerl sich nicht mehr an seiner Seite befand. Diese unglückliche Wendung seines ersten Liebesabenteuers hinterließ einen schmerzhaften Stachel im Gemüte unseres Bäckenbuben; denn er lebte in der Überzeugung, daß er damals von einem Schlaganfalle heimgesucht worden. Nichts konnte ihn mehr beleidigen, als der ausgesprochene Verdacht, daß er weit wahrscheinlicher inmitten seiner Leidenschaft für die schöne Tonerl von einem seiner gewöhnlichen Schlafanfälle überwältigt und auf diese Weise der Geliebten verlustig worden sei.
Schlag zehn Uhr erwachte der Bäckenbub', packte seine Geräte zusammen und begab sich nach dem ersten Stockwerke des Landesgerichtes, wo er abermals eine Stunde schlief. Um elf Uhr bestieg der Schlafwandler das zweite Stockwerk und meldete sich an den verschiedenen Bureauthüren. Hier hatte er täglich dieselben Träume: daß nämlich die eine oder die andere Thür sich öffnete und jemand nach Gebäck und Würsteln verlangte; oder daß unbekannte Personen, deren Gesichtszüge und Gestalt sehr verschwommen waren, zu ihm mit einem ähnlichen Begehren hintraten; oder daß eine Stimme nach langer, langer Zeit die Bemerkung machte, der Korb sei ja vollständig leer. Wenn dies gesagt wurde, suchte ein dankbarer Blick des Bäckenbuben den Sprecher. Jetzt kam der herrliche, ungestörte Mittagsschlaf, aus dem ihn häufig erst die Ermahnung, den Korridor zu räumen, weckte.
Wir alle dachten, er sei einer der Gerechtesten unter den Bäckenbuben, nichts beschwere sein Gewissen. Aber wir hatten uns auch in ihm getäuscht, wie schon in Zweien seiner Vorgänger. Der eine hatte im Laufe seiner Gerichtspraxis nicht weniger als 40,000 Semmeln gestohlen, der andere ein Päckchen Banknoten, das ein Gerichtsdiener auf dem Gange verloren, zu sich gesteckt und unterschlagen. Auch der dritte, der blasse Schläfer, war kein Ehrenmann, wie wir zu unserem Schmerze erfahren mußten. Er hatte seinem Dienstherrn nach und nach 102 Gulden veruntreut, wovon allerdings mehr als die Hälfte gutgemacht wurde. Eines Tages erschien unser Bäckenbub' ohne Korb und ohne Kessel im Landesgericht und verlangte zur Staatsanwaltschaft geführt zu werden. Dort machte er die Selbstanzeige. Bald darauf stand er vor dem Erkenntnisgerichte. Bei dieser Gelegenheit erfuhren wir zu unserer erheblichen Überraschung, daß der Bäckenbub' bereits fünfundzwanzig Jahre zähle. Franz***, so sein Name, vermochte uns nicht lange über den Grund seiner Selbststellung im Unklaren zu erhalten. Nachdem sein gutmütiger Meister versichert hatte, es wäre ihm niemals eingefallen, die Sache vor Gericht zu bringen, war es unzweifelhaft: unser Bäckenbub' hatte den Anlaß wahrgenommen, sich für einige Wochen eine Stätte zu sichern, wo sich ungestört Tage und Nächte lang schlafen ließe – nämlich die Untersuchungszelle. Er sah in der That zum erstenmale recht ausgeschlafen aus, bekannte seine Schuld eifrig ein und war höchst zufrieden, als ein Monat Kerkerhaft über ihn verhängt wurde. Er schien förmlich zu schwelgen in der Vorstellung von weiteren dreißig Nächten, die er schlafend zubringen dürfe.
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