Eduard Mörike
Maler Nolten
Eduard Mörike

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Der Himmel hatte sich erschöpft, der Regen hörte auf, hie und da traten die Sterne hervor. Die angenehme Luft, das Tropfen der erquickten Bäume, ein sanftes Wetterleuchten am dunkeln Horizont machte die Szene nun erst recht einladend. Die junge Schwägerin, nach ihrer unsteten Art, war indes weggelaufen, um mit des Fräuleins Zofe zu kurzweilen, einer muntern Französin, in der sie einen unerschöpflichen Schatz von Geschichten und Späßen, eine wahre Adelschronik entdeckt hatte. Agnes bemühte sich, in Noltens Gedanken einzugehen, sein Schweigen tröstlich aufzulösen. Sie erinnerte sich jener Worte, welche der Maler im ersten Schmerz auf die entsetzliche Todesnachricht im Gasthof etwas vorschnell gegen sie hatte fallenlassen, wornach sie sich dem Toten auf eine besondere Weise persönlich verpflichtet glauben mußte. Ihre Fragen deshalb hatte Nolten nachher nur ausweichend und so allgemein wie möglich beantwortet, auch diesmal ging er schnell darüber hin und sie beharrte nicht darauf. Nun aber sprach sie überhaupt so ruhig, so verständig von dem Gegenstand, aus ihren einfachen Worten leuchtete so ein reines und sicheres Urteil über die innerste Gestalt jenes verunglückten Geistes hervor, daß Theobald ihr mit Verwunderung zuhörte. Zugleich tat sie ihm aber weh, in aller Unschuld. Denn freilich mußte sich in einem weiblichen Gemüt, auch in dem liebevollsten, die Denk- und Handlungsweise eines Mannes wie Larkens, nach ihrem letzten sittlichen Grunde, um gar viel anders spiegeln als in den Augen seines nächsten Freundes, und Nolten konnte im Räsonnement des Mädchens, wie zart und herzlich es auch war, doch leicht etwas entdecken, wodurch er dem Verstorbenen zu nahegetreten sah, ohne daß er Agnesen auf ihrem Standpunkt zu widerlegen hoffen, ja dieses auch nur wagen durfte. »Du kennst, du kennst ihn nicht!« rief er zuletzt mit Eifer aus, »es ist unmöglich! O daß er dir nur einmal so erschienen wäre, wie er mir in zwei Jahren jeden Tag erschien, du würdest einen andern Maßstab für ihn finden, vielmehr du würdest jedes hergebrachte Maß unwillig auf die Seite werfen. Ja, liebstes Herz« (er stockte, sich besinnend, dann rief er ungeduldig:) »Warum es dir verhalten? was ängstigt mich? O Gott, bin ich es ihm nicht schuldig? Du sollst, Agnes, ich will's, du mußt ihn lieben lernen! dies ist der Augenblick, um dir das rührendste Geheimnis aufzudecken. Du bist gefaßt, gib deine Hand, und höre, was dich jetzt, versteh mich Liebste, jetzt, da wir uns ganz – so selig ungeteilt besitzen, nicht mehr erschrecken kann. Wie? hat denn das Gewitter, das mit entsetzlichen Schlägen noch eben jetzt erschütternd ob deinem Haupte stand, uns etwas anderes zurückgelassen, als den erhebenden Nachhall seiner Größe, der noch durch deine erweiterte Seele läuft? und überall die Spuren göttlicher Fruchtbarkeit? die süße, rein verkühlte Luft? Wir können vom Vergangenen gelassen reden, ohne Furcht, daß es deshalb mit seiner alten Pein aufs neue gegen uns aufstehen werde. Wäre es nur Tag, nun würde rings die Gegend vom tausendfachen Glanz der Sonne widerleuchten! Doch, sei es immer Nacht! Mit tiefer Wehmut weihe sie ein jedes meiner Worte, wenn ich nunmehr von alten Zeiten zu dir rede, wenn ich längst heimgeschickte Stürme vom sichern Hafen der Gegenwart aus anbetend segne, hier an deiner Seite, du Einzige, du Teure, ach schon zum zweitenmal und nun auf ewig Mein-Gewordene! Ja, in den seligen Triumph so schwer geprüfter Liebe mische ich die sanfte Trauer um den Freund, der uns – du wirst es hören – zu diesem schönen Ziel geleitet hat.

Agnes! nimm diesen Kuß! gib ihn mir zurück! Er sei statt eines Schwurs, daß unser Bund ewig und unantastbar, erhaben über jeden Argwohn, in deinem wie in meinem Herzen stehe, daß du, was ich auch sagen möge, nicht etwa rückwärts sorgend, dir den rein und hell gekehrten Boden unsrer Liebe verstören und verkümmern wollest.

Ein anderer an meinem Platz würde mit Schweigen und Verhehlen am sichersten zu gehen glauben, mir ist's nicht möglich, ich muß das verachten, o und – nicht wahr? meine Agnes wird mich verstehen! – Was ich von eigner Schuld zu beichten habe, kann in den Augen des gerechten Himmels selbst, ich weiß das sicher, den Namen kaum der Schuld verdienen; und doch, so leicht wird die rechtfertige Vernunft von dem schreckhaften Gewissen angesteckt, daß noch in tausend Augenblicken und eben dann, wenn ich den Himmel deiner Liebe in vollen Zügen in mich trinke, am grausamsten, mich das Gedächtnis meines Irrtums, wie eines Verbrechens befällt. Ja, wenn ich anders mich selbst recht verstehe, so ist's am Ende nur diese sonderbare Herzensnot, was mich zu dem Bekenntnis unwiderstehlich treibt. Ich kann nicht ruhn, bis ich's in deiner liebevollen Brust begraben, bis ich durch deinen Mund mich freudig und auf immer losgesprochen weiß.«

Der Maler wurde nicht gewahr, wie dieser Eingang schon die Arme innig beben machte. In wenigen, nur schnell hervorgestoßenen Sätzen war endlich ein Teil der unseligen Beichte heraus. Aber das Wort erstirbt ihm plötzlich auf der Zunge. »Vollende nur!« sagt sie mit sanftem Schmeichelton, mit künstlicher Gelassenheit, indem sie zitternd seine Hände bald küßt, bald streichelt. Er schwankt und hängt besinnungslos an einem Absturz angstvoll kreisender Gedanken, er kann nicht rückwärts, nicht voran, unwiderstehlich drängt und zerrt es ihn, er hält sich länger nicht, er zuckt und – läßt sich fallen. Nun wird ein jedes Wort zum Dolchstich für Agnesens Herz. Otto – die unterschobenen Briefe – die Verirrung zu der Gräfin – alles ist herausgesagt, nur die Zigeunerin, ist er so klug, völlig zu übergehn.

Er war zu Ende. Sanft drückte er ihre Hand an seinen Mund; sie aber, stumm und kalt und versteinert, gibt nicht das kleinste Zeichen von sich.

»Mein Kind! o liebes Kind!« ruft er, »hab ich zuviel gesagt? hab ich? Um Gottes willen, rede nur ein Wort! was ist dir?«

Sie scheint nicht zu hören, wie verschlossen sind all ihre Sinne. An ihrer Hand nur kann er fühlen, wie sonderbar ein wiederholtes Grausen durch ihren Körper gießt. Dabei murmelt sie nachdenklich ein unverständliches Wort. Nicht lang, so springt sie heftig auf – »O unglückselig! unglückselig!« ruft sie, die Hände überm Haupt zusammenschlagend, und stürzt, den Maler weit wegstoßend, in das Haus. Vor seinem Geiste wird es Nacht – er folgt ihr langsam nach, sich selbst und diese Stunde verwünschend.

 

Margot kam erst den andern Vormittag zurück von der Stadt. Sie war verwundert, eine auffallende Verstimmung unter ihren Gästen sogleich wahrnehmen zu müssen. Bescheiden forschte sie bei Nannetten, doch diese selbst war in der bängsten Ungewißheit. Agnes hielt sich auf ihrem Zimmer, blieb taub auf alle Fragen, alle Bitten, und wollte keinen Menschen sehn. Das Fräulein eilt hinüber und findet sie angekleidet auf dem Bett, den Bleistift in der Hand, sinnend und schreibend. Sie ist sehr wortarm, nach allen Teilen wie verwandelt, ihr Aussehn dergestalt verstört, daß Margot im Herzen erschrickt und sich gerne wieder entfernt, nicht wissend, was sie denken soll. – Nannette bestürmt den Bruder mit Fragen, er aber zeigt nur eine still in sich knirschende Verzweiflung. Zu deutlich sieht er die ganze Gefahr seiner Lage; er fühlt, wie in dem Augenblick das Herz des Mädchens aus tausend alten Wunden blutet, die seine Unbesonnenheit aufriß: und nun soll er dastehn untätig, gefesselt, sie rettungslos dem fürchterlichen Wahne überlassend? er soll die Türe nicht augenblicklich sprengen, die ihn von ihr absperrt! Einmal übers andre schleicht er an ihre Schwelle; ihm wird nicht aufgetan. Zuletzt erhält er ein Billett von ihr durch seine Schwester; der Inhalt gibt ihm zweideutigen Trost; sie bittet vorderhand nur Ruhe und Geduld von ihm. Sie sei, hinterbrachte Nannette, mit einem größeren Briefe beschäftigt, gestehe aber nicht, an wen er gehe.

Dem Maler bleibt nichts übrig, als ebenfalls die Feder zu ergreifen. Er bietet alles auf, was ruhige Vernunft und was die treueste Liebe mit herzgewinnenden Tönen in solchem äußersten Falle nur irgend zu sagen vermag. Dabei spricht er als Mann zum krank verwöhnten Kinde, er rührt mit sanftem Vorwurf an ihr Gewissen und schickt jedwedem leisen Tadel die kräftigsten Schwüre, die rührendsten Klagen verkannter Zärtlichkeit nach.

Am Abend kam der Präsident. Zum Glück traf er schon etwas hellere Gesichter, als er vor wenig Stunden noch gefunden haben würde. Die Mädchen hatten dem Maler berichtet: Agnes sei ruhig, anredsam und freundlich und habe nur gebeten, daß man sie heute noch sich selber überlasse; es sei ihr vor, vielmehr, sie wisse sicher und gewiß, daß diese Nacht sich alles bei ihr lösen werde. Der Präsident, der manches zu erzählen wußte, bemerkte etwas von Zerstreuung in den Mienen seiner Zuhörer und vermißte Agnesen. »Schon gut«, gab er Nolten mit Lächeln zur Antwort, als dieser ihm nur leichthin von einem kleinen Verdrusse sprach, den er sich zugezogen, »recht so! das ist das unentbehrlichste Ferment der Brautzeit, das macht den süßen Most etwas rezent. Der Wein des Ehestands wird Ihnen dadurch um nichts schlimmer geraten.«

Das Abendessen war vorbei. Man merkte nicht, wie spät es bereits geworden. Die beiden Herren saßen im Diskurs auf dem Sofa. Nannette und Margot lasen zusammen in einem kleinen Kabinett, das nur durch eine Tür von dem Zimmer geschieden war, wo Agnes schlief.

Die Unterhaltung der Männer geriet indes auf einen seltnen Gegenstand. Der Präsident nämlich hatte gelegentlich von einem üblen Streich gesprochen, den ihm der Aberglaube des Volks und die List eines Pachters hätte spielen können. Es handelte sich um ein sehr wohlerhaltenes Wohnhaus auf einem Bauernhofe, den er, als Bestandherr, noch gestern eingesehn. Das Haus war wegen Spukerei verrufen, so daß niemand mehr drin wohnen wollte. Der kluge Pachter sah seinen Vorteil bei dieser Torheit, er hatte dem Gebäude längst eine andere Bestimmung zugedacht, die der Präsident nicht zugeben konnte, und nährte deshalb unter der Hand die Angst der Bewohner. Mit sehr vieler Laune erzählte nun jener, auf welche Art er die Köpfe samt und sonders zurechtgesetzt und wie er die ganze Sache niedergeschlagen. Dies gab sofort Veranlassung, den Glauben an Erscheinungen, inwieweit Vernunft und Erfahrung dafür und dagegen wären, mit Lebhaftigkeit zu besprechen. Der Maler fand es durchaus nicht wider die Natur, vielmehr vollkommen in der Ordnung, daß manche Verstorbene sich auf verschiedentliche sinnliche Weise den Lebenden zu erkennen geben sollten. Der Präsident schien dieser Meinung im Herzen weit weniger abhold zu sein, als er gestehen wollte; vielleicht auch war ihm nur darum zu tun, das Interesse des Gesprächs durch Widerspruch zu steigern.

»Ich will Ihnen doch«, sagte er endlich, »eine kleine Geschichte mitteilen, für deren Wahrheit ich Bürge bin. Noch aber weiß ich selber nicht, für welchen von uns beiden sie am meisten spricht.

Ich wohnte in England bei einer Verwandten, einer Witwe ohne Kinder. Sie war mit ihrem Manne gegen den Willen beider verheiratet worden, sie lebten nur wenige Monate zusammen und er starb nach einigen Jahren im Auslande. Mein Aufenthalt in London fiel eben in die Zeit, als die schöne Frau sich zum zweiten Male, und entschieden nach Neigung mit einem reichen Kaufmann aus Deutschland verlobte. Religiöse Schwärmerei, eben dasjenige, wodurch sie in der ersten Ehe so unglücklich gewesen, machte hier neben einer natürlichen Leidenschaft das wesentliche Band der Herzen aus. Ich erinnere mich seiner noch ganz wohl, als eines Mannes von hoher und zugleich sehr zarter Gestalt, anziehend und geheimnisvoll in seinen Manieren. Er ging lange Zeit im Haus der Witwe aus und ein, sie sollen gemeinschaftlich die heimlichen Versammlungen einer gewissen Sekte besucht haben, deren Grundsätze man eigentlich nicht kannte, kurz, er war erklärter Bräutigam; aber niemand begriff, warum es mit der Hochzeit nicht vorangehn wollte, von der sich die Familie eines der glänzendsten Feste versprach. Indessen ward er veranlaßt, eine sehr weit aussehende Reise in Geschäften nach Nordamerika zu tun, und nun zweifelte man gar nicht mehr, daß er die Verbindung in der Stille werde ausgehn lassen; man bemitleidete die Braut, die ihn jedoch ganz ruhig und getrost sich einschiffen sah, und soviel man bemerken konnte, bald einen lebhaften Briefwechsel mit ihm unterhielt. Ich war zugegen, als einsmals eine Kiste mit ausgewählten Geschenken anlangte, welche die Lady mit einem feierlichen Wohlgefallen ausbreitete, wobei sie mir vertraute: es wäre dies die Morgengabe ihres Gatten. Ich verstand sie nicht und sie erklärte sich auch nicht deutlicher. Späterhin erst ward mir das Rätsel gelöst. Das wundersame Paar hatte sich nämlich verpflichtet, die Vermählung auf eine höchst mysteriöse und völlig geistige Weise vollziehen zu lassen. Indem sie so viele hundert Meilen durch Land und Meer geschieden waren, sollte jedes in seinem eigenen Hause, zu einer und derselben Stunde, hier zwischen Aufgang, dort zwischen Untergang der Sonne, feierlich von zwei besondern Priestern eingesegnet werden. Nachdem also die Braut ganz im geheimen aufs festlichste gekleidet und mit Blumen geschmückt, welche man gegen die Morgendämmerung im Garten gebrochen, die halbe Nacht sich mit Gebet auf die wichtige Handlung vorbereitet hatte, erschien der Geistliche, von dreien Glaubensbrüdern begleitet. Ein kleiner Saal war sparsam erleuchtet, ein Tisch, worauf zwei Kerzen brannten, zum Altare aufgeputzt. Als nun der Geistliche in seiner Liturgie an die Stelle kam, wo im Namen des Abwesenden mit dem Ja geantwortet werden sollte, verlöschte plötzlich eins der Lichter von selbst, zum Erstaunen der Gegenwärtigen und zum größten Schrecken der Braut, die indessen dadurch getröstet wurde, daß man sie in diesem Zufall ein erfreuliches Zeichen sehen ließ; sie richtete sich beruhigt von ihren Knieen auf und fühlte sich mit dem Geliebten innig und geheimnisvoll verbunden. Als man sie sofort allein gelassen, bestieg sie, der Vorschrift gemäß, ein hochzeitlich verziertes, mit süßen Wohlgerüchen besprengtes Lager, worin sie den Vormittag hinter dicht verschloßnen Fensterladen zubrachte. Mit was für Bildern sich ihre Träume beschäftigten, ob sie mit dem himmlischen Bräutigam oder dem irdischen verkehrt habe, laß ich dahingestellt sein – wahrscheinlich mit beiden zugleich, und keiner hatte somit Ursache zur Eifersucht. Genug von dieser tollen Zeremonie, deren raffiniert sinnliche Heiligkeit jeden empört. Merkwürdig bleibt nur, daß bald nachher die Nachricht vom Tode des Kaufmanns einlief. Er war, nach kurzem Krankenlager, einige Tage vor der Hochzeit gestorben, an welcher er, wenn man der armen Wachskerze glauben will, wenigstens geistweise teilgenommen. Was halten Sie von dieser Manifestation eines Abgeschiedenen, mein lieber Maler?«


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