Eduard Mörike
Maler Nolten
Eduard Mörike

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Man ging nun scherzend weiter und das Fräulein fing wieder an: »Vom guten Henni sind wir ganz abgekommen, so heißt der Blinde, eigentlich Heinrich. Weil seine vorhin genannten Talente einigermaßen zweideutig sind, so muß man ihm bei den andern desto mehr Gerechtigkeit widerfahren lassen. Er hat viel mechanisches Geschick und seltne musikalische Anlagen. In einer leeren Kammer des linken Schloßflügels, welche vor nicht sehr langer Zeit noch zur Hauskapelle der frühern Besitzer eingerichtet war, steht eine Orgel, die lange kein Mensch ansah. Sie befand sich im schlechtesten Zustande, bis Henni vor anderthalb Jahren sie entdeckte. Er hatte nun nicht Rast noch Ruhe, das verwahrloste staubige Werk, Klaviatur, Pedal und Blasbälge, samt den fehlenden und zerbrochenen Stäbchen, Klappen und Drähten, deren Zahl beiläufig hundert und eines sein mag, wieder ordentlich herzurichten. Oft hörte man ihn bei Nacht operieren, klopfen und sägen, und es war sonderbar, ihn dann so ohne alles Licht in der einsamen Kammer bei seiner Arbeit zu denken. Was ihm aber kein Mensch geglaubt hätte: nach weniger als vier Wochen war er wirklich mit allem zustande gekommen. Sie müssen ihn einmal, ohne daß er's weiß, auf der Orgel phantasieren hören; er behandelt sie auf eine eigene Art und nicht leicht würde ein anderes Instrument das eigentliche Wesen dieses Menschen so rein und vollständig ausdrücken können. Ich hätte billig unter seinen Vorzügen zuerst von seiner Frömmigkeit gesprochen, doch wird Ihnen diese nach dem bisher Gesagten um so wahrer und zärter erscheinen, und ich brauche jetzt desto weniger Worte davon zu machen. – Klavierspielen hatte er schon früher ohne Anleitung auf einem schlechten Pantalon gelernt, mein Vater versprach, ihm auf seinen Geburtstag ein ordentliches Instrument zu schenken. Solange wir in der Stadt wohnen, laß ich auch wohl zuweilen den Schlüssel in dem meinigen stecken und mag mir gerne denken, daß er sich ein Stündchen nach Herzenslust darauf ergehe, derweil seine Mutter die Zimmer reinigt. Er lobte mir neulich den Ton des Flügels mit solchem Feuer, daß er sich mit seinem Geheimnis verschnappte, er wurde plötzlich blutrot und ich hätte fürwahr viel gegeben, um einen Augenblick selbst zu erblinden und kein Zeuge dieser Beschämung zu sein. Es blieb nichts übrig, als ihn aufzufordern, sogleich eine Sonate mit mir zu probieren, die er mir und meinem Bruder abgehört hatte. Nichts geht ihm über das Vergnügen, vierhändig zu spielen. Das Stück, wovon ich rede, ist eines von den schwerern, allein es ging durchweg fast ohne Anstoß.«

Der Präsident stand eben mit dem Maler auf der rechten Seite des Schlosses, als die Mädchen gegen den Hof herkamen; sie sprachen dort über eine gewisse Baukuriosität, der wir gelegentlich auch einen Blick schenken müssen. Es endigte sich nämlich jener Flügel mit einer breitstufigen Steintreppe, welche vor den Fenstern des oberen Stocks ein Belvedere ansetzte und, hüben und drüben mit einem Geländer versehen, auf steinernen Bogen herablief. Mit der letzten Stufe an der Erde trat man in ein niedliches Rosengärtchen, welches im Viereck von einer niedern, künstlich ausgehauenen Balustrade umgeben, einerseits auf den Abhang des Schloßbergs hinuntersah, andererseits durch ein eisernes Gatter in die Allee einführte. Alles das fand sich in den gleichen Verhältnissen auch auf der entgegengesetzten Flanke des Gebäudes, jedoch meist nur von Holz und auf den Schein berechnet. Altan und Treppe waren dort verwittert und ohne Gefahr nicht mehr zu betreten.

Die Gesellschaft begab sich ins Innere des Hauses, und bis zum Abendessen trieb ein jedes was ihm beliebte. Der Präsident ließ seinen Gästen Zeit, es sich bequem zu machen. Gleich anfangs hatte er den Grundsatz erklärt, es müsse neben den Stunden der gemeinsamen Unterhaltung und des unmittelbaren Beieinanderseins durchaus auch eine Menge Augenblicke geben, die, sozusagen, den zweiten und indirekten, gewiß nicht minder lieblichen Teil der Geselligkeit ausmachen, wo es erfreulich genug sei, sich miteinander unter einem Dache zu wissen, sich zufällig zu begegnen und ebenso nach Laune festzuhalten. Unsern beiden Frauenzimmern, welche dem Hausherrn gegenüber doch immer etwas von Schüchternheit bei sich verspürten, kam eine solche Freiheit zu ganz besonderm Troste, dem Maler war sie ohnehin Bedürfnis, und sogleich gab der Präsident das Beispiel, indem er sich noch auf ein Stündchen ins Arbeitskabinett zurückzog.

Die Tischzeit versammelte alle aufs neue, und als man sich zuletzt gute Nacht sagte, trat jedem der Gedanke erstaunend vor die Seele, durch was für eine ungeheure Fügung sich die fremdesten Menschen dergestalt haben zusammenfinden können, daß es schon heute schien, als hätte man sich immerdar gekannt, als wäre man zusammengekommen, um niemals wieder Abschied zu nehmen.

Nachdem wir von der Stellung der Personen, sowie von deren häuslicher und ländlicher Umgebung insoweit den Begriff gegeben haben, besorgen wir noch kaum, daß unsre Leser ein vollständiges Journal von den Unterhaltungen der nächsten Tage von uns erwarten möchten.

Was außerhalb des Schloßbezirks nur immer Anlockendes zu Pferd und Wagen zu erreichen war, und was das Eigentum des Präsidenten, zumal eine sehr reichhaltige Bibliothek, zur Unterhaltung darbot, ward abwechselnd genossen und versucht. Der Präsident liebte die Jagd, und obgleich Theobald weder die mindeste Übung, noch auch bis jetzt einigen Geschmack daran hatte, so war ihm in seiner gegenwärtigen Verfassung der Vorteil dieser Art sich zu bewegen, wobei sowohl Leib als Seele in kräftiger Spannung erhalten wird, gar bald sehr fühlbar und bei einigem Glück mit den ersten Versuchen sogar ergötzlich geworden. Er kehrte an so einem Abend auffallend erheitert und lebhaft nach Hause. Auch hatten die Mädchen bereits ihren Scherz mit ihm, indem Margot behauptete: es könnte wohl nicht leicht ein Maler die schönste Galerie der seltensten Kunstwerke mit größerem Interesse durchlaufen, als er die Gewehrkammer ihres Vaters, worin er wirklich stundenlang verweilte. Gewiß aber war auch weit und breit eine solche Sammlung nicht anzutreffen. Gewehre aller Art, vom ersten Anfang dieser Erfindung bis zu den neuesten Formen des englischen und französischen Kunstfleißes, konnte man hier aufs schönste geordnet in fünf hohen Glaskästen sehen. Die Freunde bemerkten mit Lächeln, wie Nolten jedesmal eine andere Flinte für sich aussuchte, denn mit jeder hoffte er glücklicher zu sein, und endlich griff er gar nach einem alten türkischen Geschoß, welches zwar prächtig und gut, doch für den Zweck nicht passend und deshalb von dem schlechtesten Erfolg begleitet war.

Besonders angenehm erschienen immer nach dem Abendessen die ruhigen gemeinschaftlichen Lesestunden. Der Maler hatte anfangs unmaßgeblich eine Lektüre vorgeschlagen, welche man in doppelter Hinsicht willkommen hieß. Unter den schriftlichen Sachen, die er vorläufig aus Larkens' Nachlasse an sich gezogen, befand sich zufälligerweise ein dünner, italienischer Quartband, die »Rosemonde« des Ruccelai enthaltend, wovon ihm der Schauspieler, teils wegen der Seltenheit der alten ursprünglichen Venezianer-Ausgabe, teils weil eine angenehme Erinnerung für ihn dabei war, vormals mit besonderer Liebe gesprochen und gelegentlich erzählt hatte, daß er als fünfzehnjähriger Knabe das Buch aus der Sammlung eines Großonkels nebst einigen andern Werken verschleppt habe, natürlich ohne es zu verstehen, nur weil die schön vergoldete Pergamentdecke ihn gereizt. Einige Zeit hernach habe von ungefähr ein Kenner es bei ihm erblickt und es für einen außerordentlichen Schatz erklärt; hiedurch sei er auf den Inhalt neugierig worden, um so mehr, da seine Neigung zu Schauspielen und Tragödien schon damals bis zur Wut entzündet gewesen. Nun habe er der Rosemonde – der unbekannten Geliebten – zu Gefallen mit wahrhaft ritterlichem Eifer sich stracks dem Italienischen ergeben, und nachdem er die Süßigkeit der Sprache erst verschmeckt, für gar nichts anderes mehr Aug und Ohr gehabt, in kurzem auch, ein zweiter Almachilde (so hieß Rosemondens Liebhaber und Retter), der armen Königstochter sich völlig bemächtigt.

War aber dieses Stück, als ein verehrter Zeuge der schönen Kindheit des tragischen Theaters der Italiener schon an und für sich merkwürdig genug, so setzte sich nun unser Zirkel, des Mannes eingedenk, von dem es herkam, mit einer Art von Andacht zu dem Trauerspiel, wiewohl es während des Lesens und Verdeutschens an munteren Bemerkungen nicht fehlte, entweder weil die Übersetzung zuweilen stocken wollte, oder weil man nicht umhin konnte, die im ganzen herrliche Charakteristik in der Dichtung mitunter etwas hart und holzschnittartig zu finden. Außer Agnes und Nannetten war allen die Sprache bekannt; man übersetzte wechselweise, am liebsten aber sah man immer das Buch in Margots Hände zurückkehren, welche mit eigener Gewandtheit die Verse in Prosa umlegte und meistens ein paar Szenen im voraus zu Papier gebracht hatte, da denn wirklich der Ausdruck an Kraft, Erhabenheit und Rundung nichts mehr zu wünschen übrig ließ, so daß man, obgleich alles sehr treu gegeben war, etwas ganz Neues zu hören glaubte und den Dichter in seiner ursprünglich grandiosen Natur vollkommen gerechtfertigt sah. Dem in gewisser Hinsicht unbefriedigenden Schlusse der Handlung half das Fräulein, einem glücklichen Fingerzeig ihres Vaters folgend, durch Einschaltung einer kurzen Szene auf, worin die Vereinigung des liebenden Paares, welche der Dichter nur anzudeuten, bei seinem höhern Zwecke kaum für der Mühe wert gehalten, zum Troste jedes zart besorgten Lesers klärlich motiviert war. Man bedauerte nur, mit der Lektüre so schnelle fertig geworden zu sein, und weil jedermanns Ohr nun schon von den südlichen Klängen gereizt und hingerissen war, so brachte der Präsident einen italienischen Novellisten hervor, indessen der Maler gereimte Gedichte gern vorgezogen hätte, aus einem Grunde zwar, den er nicht allzu lebhaft geltend machen wollte: er war entzückt, wie Margot Verse las; er glaubte einen solchen Wohllaut kaum je von Eingeborenen gehört zu haben, und wenn es manchen Personen als ein liebenswürdiger Fehler angerechnet wird, daß sie das R nur gurgelnd aussprechen können, wie denn dies eben bei dem Fräulein der Fall war, so schien diese Eigentümlichkeit der Anmut jenes fremden Idioms noch eine Würze weiter zu verleihen. Agnes entging es nicht, mit welchem Wohlbehagen Freund Theobald am Munde der Leserin hing, allein auch sie vermochte demselben Zauber nicht zu widerstehen.

Überhaupt lernten die Mädchen nach und nach immer neue Talente an dieser Margot kennen; das meiste brachte nur der Zufall an den Tag, und weit entfernt, es auf eine falsche Bescheidenheit anzulegen, oder im Gefühl ihrer Meisterschaft den Unkundigen gegenüber die Unterhaltung über gewisse Gegenstände vornehm abzulehnen, teilte sie vielmehr die Hauptbegriffe sogleich auf die einfachste Weise mit und machte durch die Leichtigkeit, womit sie alles behandelte, den andern wirklich glauben, daß das so schwere Sachen gar nicht wären, als es im Anfang schien; sogar legte sie einmal das liebenswürdige Geständnis ab: »Wir Frauen, wenn uns der Fürwitz mit den Wissenschaften plagt, krebsen mitunter bloß, wenn wir zu fischen meinen, und freilich ist es dann ein Trost, daß es den Herren Philosophen zuweilen auch nicht besser geht. – Sehn Sie aber«, rief sie aus und schob die spanische Wand zurück, die in der Ecke ihres Zimmers einen großmächtigen Globus verbarg, »sehn Sie, das bleibt denn doch eine Lieblingsbeschäftigung, wo man auf sicherem Grund und Boden wandelt. Der Vater hat mich drauf geführt, er ließ die hohle hölzerne Kugel mit Gips und feiner Farbe weiß überziehen, ich zeichne die neuesten Karten darauf ab und mache ohne Schiff und Wagen mit Freuden nach und nach die Reise durch die ganze Welt. Die eine Hälfte wird bald fertig sein, und hier die neue Welt steigt auch schon ein wenig aus dem leeren Ozean.« Agnes bewunderte die Schönheit und Genauigkeit der Zeichnung, die zierliche Schrift bei den Namen, die breit lavierte Schattierung des Meeres an den Küsten herunter; Nannette aber rief: »Will man den Weibern einmal nichts anderes lassen, als das beliebte Nähen, Stricken, Bandmalen oder Sticken, und was damit verwandt sein mag, so sollte man mir gegen eine Arbeit wie diese, wenn ich es je bis dahin brächte, die Nase wahrhaftig nicht rümpfen, denn die Strickerin wollt ich doch sehen, die schönere Maschen und künstlichere Filets vorweisen könnte, als Sie, mein Fräulein, hier bei diesen Linien und Graden gemacht haben!«

Sofort erklärte Margot dies und jenes, und wenngleich Nannette immer diejenige war, welche die Sachen am begierigsten auffaßte, am schnellsten begriff und am besten zu schmeicheln verstand, so blieb doch Margots Aufmerksamkeit, obwohl nicht unmittelbar, denn sie fürchtete durch eine direkte und vorzugsweise Belehrung Agnesen zu verletzen, dennoch am ersten auf diese gerichtet. Überhaupt hatte ihre Neigung zu dem stillen Mädchen etwas Wunderbares, man darf wohl sagen, Leidenschaftliches. Man sah sie, zumal auf dem Spaziergange, nicht leicht neben Agnes, ohne daß sie einen Arm um sie geschlagen, oder die Finger in die ihrigen hätte gefaltet gehabt. Zuweilen machte diese Innigkeit, dies unbegreiflich zuvorkommende Wesen das anspruchslose Kind recht sehr verlegen, wie sie sich zu benehmen, wie sie es zu erwidern habe.

Inzwischen hatte man die Nachbarschaft des Guts ziemlich kennengelernt, die Stadt ohnehin schon mehrmals besucht. Unter anderm rief Theobald die Publikation des Larkensschen Testaments dahin. Es fand sich ein bedeutendes Vermögen. Ohne alle Rücksicht auf entfernte Familienmitglieder (nähere aber lebten überall nicht mehr), hatte der Verstorbene vorerst einige öffentliche Benefizien, zumal für seinen Geburtsort gestiftet; sodann betrafen einzelne Legate nur eine kleine Zahl von Freunden, darunter eine Dame, deren Name und Charakter außer dem Maler niemand erfuhr. Der letztere selbst und seine Braut waren keineswegs vergessen. Bemerkenswert ist die ausdrückliche Verfügung des Schauspielers, daß niemand sich beigehen lassen solle, sein Grab – gleichgültig übrigens wo es sei – auf irgendeine Weise ehrend auszuzeichnen.

Am Abend desselben Tags, da diese Dinge in der Stadt bereinigt werden mußten, gab ein Konzert, von welchem alle Freunde der Musik lange vorher mit großer Erwartung gesprochen, einen höchst seltenen Genuß. Es war der Händelsche Messias. Der Maler, dem ein hiesiger Aufenthalt oft eine Art von Überwindung kostete, weil er sich eine reine Totentrauer durch unvermeidliche Zerstreuung fast jedes Mal vereitelt und zersplittert sah, fand heute in dem frommen Geist eines der herrlichsten Tonstücke den übervollen Widerklang derjenigen Empfindungen, mit denen er vom Grabe des Geliebten kommend unmittelbar in den Musiksaal eintrat. Er hatte sich etwas verspätet und mußte ganz entfernt von seiner Gesellschaft, in einer der hintersten Ecken sich mit dem bescheidensten Platze begnügen, den er jedoch mit aller Wahl nicht besser hätte treffen können. Denn ihn verlangte herzlich, die süße Wehmut dieser Stunde bis auf den letzten Tropfen rein für sich auszuschöpfen, er sehnte sich, dem Sturme gottgeweihter Schmerzen den ganzen Busen ohne Schonung preiszugeben. – Spät in der Nacht fuhr er mit den drei Frauenzimmern (der Präsident war diesmal nicht dabei) im schönsten Mondenschein nach Hause. Es hatte jenes Meisterwerk dermaßen auf alle gewirkt, daß es in der ersten Viertelstunde, wo sie sich wieder im Gefährt befanden, beinahe aussah, als hätte man ein Gelübde getan, auf alles und jedes Gespräch darüber zu verzichten; und als das Wort endlich gefunden war, galt es dem teuren Larkens fast ausschließlich. Das Fräulein offenbarte sich bei der Gelegenheit zum erstenmal entschiedener von seiten des Gefühls, was wenigstens dem Maler gewissermaßen etwas Neues war, da es ihn manchmal deuchte, als stünde diese Eigenschaft bei ihr unter einer etwas zu strengen und jedenfalls zu sehr bewußten Vormundschaft des mächtigern Verstandes. Das Wahre aber ist: Margot verbot sich, bei aller übrigen Lebendigkeit, von jeher den kecken Ausdruck tieferer Empfindung, vielmehr – er verbot sich von selber bei ihr, da sie ihr Leben lang nie einen Umgang gehabt, wie ihn das Herz bedurfte. Es wäre nicht leicht zu bezeichnen, was es eigentlich war, das einem so trefflichen Wesen von Kindheit an die Gemüter der Menschen, oder doch ihres Geschlechts, entfremden konnte. In der Tat aber, so wenig kannte sie das Glück der Freundschaft, daß sie ihre eigene Armut auch nur dunkel empfand, und daß ihr von dem Augenblick ein durchaus neues Leben, ja ein ganz anderes Verständnis ihrer selbst aufgegangen zu sein schien, da sie in Agnesen vielleicht die erste weibliche Kreatur erblickte, welche sie von Grund des Herzens lieben konnte und von der sie wiedergeliebt zu werden wünschte. Nolten las heute recht in ihrer Seele, obgleich auch jetzt noch ihre Worte etwas Gehaltenes und Ängstliches behielten, so daß sie, was niemals erhört gewesen, mitten in der Rede ein paarmal stockte, oder gar abbrach.

Zu Hause angekommen, glaubten alle aus der lichten Wolke eines frommen und lieblichen Traumes unvermutet wieder auf die platte Erde zu treten, doch fühlte jedes im sanft und freudig bewegten Innern, daß dieser Abend nicht ohne bedeutende Spuren, sowohl in dem Verhältnis zueinander als im Leben des einzelnen werde bleiben können.


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