Eduard Mörike
Maler Nolten
Eduard Mörike

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Dergleichen Vorstellungen, worin sich der Rest seiner Neigung zu jenem verkannten liebenswürdigen Kinde nun auf dem durch Krankheit und Schwäche erweichten Grunde seines Gemütes sonderbar und lebhaft abspiegelte, wiederholten sich immer häufiger und waren um so weniger abzuweisen, da sie ihm zunächst durch einen seltsamen Zufall von außen aufgedrungen worden waren. Denn eines Morgens erwachte er vor Tag aus einem unruhigen Halbschlafe an einem weiblichen Gesang, der aus der Küche des Wärters unter seinem Fenster zu kommen schien. Der Inhalt des Lieds, sowenig es ihm selber gelten konnte, traf ihn im Innersten der Seele, und die Melodie klang unendlich rührend durch das Schweigen der dunkeln Frühe, ja die Töne selber nahmen in seiner Einbildung eine wunderbare Ähnlichkeit mit der Stimme Agnesens an.

Früh, wenn die Hähne krähn,
Eh die Sternlein verschwinden,
Muß ich am Herde stehn,
Muß Feuer zünden.

Schön ist der Flammen Schein,
Es springen die Funken,
Ich schaue so drein,
In Leid versunken.

Plötzlich da kommt es mir,
Treuloser Knabe!
Daß ich die Nacht von dir
Geträumet habe.

Träne auf Träne dann
Stürzet hernieder,
So kommt der Tag heran –
O ging' er wieder!

Zum ersten Male seit undenklicher Zeit fühlte Theobald wieder die Wohltat unaufhaltsamer Tränen. Die Stimme schwieg, nichts unterbrach die Ruhe des langsam andämmernden Morgens. Der Kranke barg das Gesicht in die Kissen, ganz der Süßigkeit eines – dennoch so bittern! Schmerzens genießend.

 

An demselben Morgen bekam Larkens, da er kaum das Bett verlassen hatte, von Leopold, dem Bildhauer, einen Besuch, der eigentlich Theobalden bestimmt war; auf die Nachricht vom Pförtner jedoch, daß der Kranke nach einer erträglichen Nacht soeben noch ruhig schlummere, wagte der Freund keine Störung und ließ sich das Zimmer des Schauspielers aufschließen. Er fand den letztern in der traurigsten Stimmung, worein ihn die Sorge um Nolten versetzte, und Leopold, gleichfalls heftig bewegt, hatte Mühe, ihn zu trösten.

Nach einiger Zeit fing der Bildhauer an: »Nun muß ich Ihnen eine Eröffnung machen, die freilich zunächst für Nolten gehörte, sie betrifft einen Vorfall, womit ich mich schon drei Tage herumtrage, ohne daß ich Gelegenheit erhalten konnte, ihn einem oder dem andern von Ihnen mitzuteilen; denn der Obrist schlug mir die Bitte zweimal ab, zumal da der Arzt den Kranken sowenig als möglich durch Gesellschaft beunruhigt wissen will; gestern bekam ich mit Not auf eine Stunde Erlaubnis; die Angst um Nolten und, ich darf wohl sagen, auch meine Neuigkeit ließ mir nicht Rast noch Ruhe mehr. Das was ich mitzuteilen habe, ist unerhört, ist ganz unbegreiflich, für Nolten taugt es unter gegenwärtigen Umständen auf keinen Fall.«

»Nun, nur um Gottes willen kein Unglück!« sagte der Schauspieler verdrießlich lächelnd über den langen Eingang; »ich meine schon von einer neuen Resolution hören zu müssen, daß wir armen Tropfen am Ende noch Karren schieben werden bei Wasser und Brot?«

»Nichts! Setzen wir uns, und hören Sie. Es war an dem Abend unserer neulichen Zusammenkunft; ich und Ferdinand hatten Sie kaum verlassen, das Schloß lag hinter uns, ich wollte soeben in die Prinzenstraße einlenken, so zeigt mir ein zufälliger Seitenblick in die leere Kastanienallee, wo wir vorüber mußten, ein weibliches Wesen ganz ruhig an einen der Bäume gelehnt. Das Auge der Unbekannten begegnete dem meinigen. Ich kam fast von Sinnen beim Anblick dieser Physiognomie, denn – doch zuvor muß ich fragen – Sie erinnern sich wohl des tollen Gemäldes von Nolten?«

»Welches?«

»Der Organistin.«

»Ganz wohl.«

»Und wenn ich Ihnen nun sage, diese war's, werden Sie mir glauben?«

»Nicht, bis ich erst ausgerechnet, wie viel Bouteillen wir damals getrunken.«

»Spaßen Sie; es war heller Mondschein, ich sah das Gesicht deutlich wie am Tage, und was meine Nüchternheit betrifft –«

»Schon gut!« unterbrach ihn Larkens aufstehend und ging einigemal nachdenklich auf und ab, indessen Leopold fortfuhr. »Noch muß ich Ihnen gleich eine Schwachheit bekennen, lieber Larkens, und Sie mögen mich immerhin darüber ausschelten, aber wer in aller Welt ist ganz vorm Aberglauben sicher, sonderlich unter solchen Umständen? Kaum war mir vorgestern gesagt worden, Theobald habe sich gefährlich krank gelegt, so deutete ich mein Begegnis mit der gespenstischen Orgelspielerin urplötzlich als ein Omen aus, denn mir fiel ein, was man von Trauerfällen sagt, welche auf ähnliche Weise angekündigt worden. Und dieser dummen Furcht bin ich noch heute nicht ganz los, obwohl ich recht gut weiß, daß die Erscheinung keine Vision, noch Gespenst oder dergleichen, sondern ein ordentliches Menschenkind gewesen.«

»Aufrichtig gesprochen, mein Bester«, sagte Larkens, »ich zweifle an dieser Apparition so gar nicht im mindesten, daß ich Ihnen vielleicht selber den Schlüssel zu dem Rätsel geben kann. Doch, schweigen Sie darüber gegen unsern Freund, versprechen Sie mir reinen Mund zu halten.«

»Gewiß, wenn Sie's für nötig finden.«

»Nun denn – aber zuvor wär ich begierig, wie Ihr Abenteuer abgelaufen. Sie sprachen die Person?«

»Mein Gott, nicht doch! denn (beinahe schäme ich mich, es zu bekennen) die Erscheinung bestürzte mich dergestalt, daß ich mich wohl drei- viermal im Ring herumwirbelte, und während ich nach meinem zurückgebliebenen Begleiter umsah, war das Nachtbild schon verschwunden, auch mit aller Mühe nicht mehr aufzufinden. Das einzige erfuhren wir des andern Tages zufällig von Theobalds Bedientem, daß eine Bettlerin, deren Beschreibung mit jener Person vollkommen zusammenstimmte, sich tags vorher in Noltens Hause eingefunden und auf die Versicherung, er sei auf längere Zeit abwesend, sich wieder fortgeschlichen. Alles mein Fragen und Forschen blieb fruchtlos.«

»Also« – fing Larkens an – »merken Sie auf. Zwei Tage vor der letzten Neujahrsnacht, die Ihnen hoffentlich noch im Gedächtnis ist, traf ich auf meinem Hausflur ein Mädchen an, dessen Äußeres mich gleich frappierte, und zwar eben auch in der von Ihnen angegebenen Beziehung. Es war eine Zigeunerin, hoch, schlank gewachsen; nicht mehr ganz jung, aber immer noch eine wirkliche Schönheit, kurz die Ähnlichkeit mit jenem Bilde bis auf wenig zwischenliegende Jahre vollkommen. Ein Korb mit hölzerner Schnitzware hing ihr am Arme, allein meine erste Ahnung, daß sie wohl in anderer Absicht als des Verkaufs wegen hiehergekommen, bestätigte mir bald ihre Frage nach einem Maler, der hier wohnen sollte; sie zog einen Brief hervor, es war die Handschrift von Noltens Braut, doch lautete die Adresse, ich weiß nicht mehr warum, an mich, die Sendung selbst gehörte für Nolten. Es hatte nämlich die Zigeunerin auf ihren Streifzügen auch Neuburg berührt und einen Gruß mit hiehergenommen. Mir war die Person nach mehrfältigen Erzählungen Theobalds nichts weniger als fremd, aber je genauer ich um ihre frühere Berührung mit unserm Freunde wußte, desto bedenklicher fand ich's, so ohne weiteres zur Erfüllung ihres Wunsches beizutragen, welcher dahin ging, den »schönen herrlichen Jungen«, wie sie ihn nannte, einmal wiederzusehen. Wenigstens, dacht ich, müßte der herrliche Junge vorbereitet werden, und bei näherer Betrachtung schien mir die Hintertreibung einer solchen Zusammenkunft das Sicherste und Zweckmäßigste. Ich gebrauchte allerlei Finten, sie ein für allemal von jedem Versuche abzuschrecken; da indessen das närrische Ding darauf bestand und ihr Verlangen ebenso gerecht als arglos und treuherzig erschien, so sann ich auf Mittel, wie Nolten ihr gezeigt werden könnte, ohne daß jedoch er sie gewahr würde. Das ließ sich nun wohl auf verschiedene Weise machen. Mir gefiel aber, wie ich gern gestehen will, ein etwas romantisch seltsamer Weg besser als etwa ein simples Gucken durch Spalt und Schlüsselloch, kurz, die Neujahrsmaskerade kam mir eben recht zu statten und –«

»Was?« rief Leopold verwundert, »am Ende wird noch der Nachtwächter vom Albaniturm aus der Geschichte hervorspringen!«

»Das errät sich nun leicht; so hören Sie kurz noch den Hergang. Nachdem ich das Mädchen mit meinem Plane bekannt gemacht, den sie anfangs freilich gar nicht fassen wollte; nachdem sie mir ferner auf eine mir unvergeßlich rührende Weise das Versprechen gegeben, mit Willen schlechterdings nichts gegen meine genaue Instruktion zu tun oder merken zu lassen, so diktiert ich ihr einige Seiten, welche sie zu meiner größten Freude mit fremden Zeichen schrieb, da sie unsere Buchstaben nur sehr schlecht zu machen wußte. Aber es kostete immer noch Mühe genug, bis ich ihr meine Worte geschickt in die Feder gegeben und noch mehr, bis sie sich die Rolle einigermaßen angeeignet hatte. Sodann schafft ich die nötige Kleidung, und wahres Vergnügen gewährte mir die naive Miene, womit sie sich selbst in ihrer idealischen Vermummung betrachtete. Sie behandelte das Ganze mit einer gewissen Feierlichkeit und gefiel sich gar wohl dabei; ihre Rezitation freilich war hart und trocken, allein ihr Begriff von dieser poetischen Figur so ziemlich richtig. Sämtliche Vorbereitungen geschahen in einem abgelegenen Zimmer außer dem Hause, wo ich Schauspielern beiderlei Geschlechts zuweilen Unterricht erteilte, so daß mein jetziges Geschäft niemandem auffiel. Wie anständig das Mädchen seine Sache machte, haben Sie ja gesehen, und ich selbst verwunderte mich im stillen über die glückliche Ausführung.«

Leopold ward kaum fertig, sein Erstaunen auszudrücken, indem er sich die Einzelheiten der Neujahrsfeier auf dem Turme zurückrief. Da er nun um so mehr Verlangen bezeugte, über die sonderbare Person der Zigeunerin und ihr früheres Verhältnis zu Theobald eines näheren belehrt zu werden, zeigte sich der Schauspieler nicht ungerne bereit; er wollte soeben seine Erzählung beginnen, als er sich bedenkend innehielt und endlich sagte: »Wissen Sie was, mein Lieber? Sie erfahren die kurze Geschichte am besten aus einigen Blättern, worin ich dasjenige, was mir Nolten im Anfange unserer Bekanntschaft vertraute, treulich darzustellen gesucht habe, da mir die Begebenheit gar wohl der Aufbewahrung wert geschienen; besonders merkwürdig ist das mit dem Ganzen verflochtene Schicksal eines gewissen längst gestorbenen Verwandten der Noltenschen Familie, in dessen Leben überhaupt ich die prototypische Erklärung zur Geschichte unseres Freundes zu finden glaube. Vor mehreren Wochen entlehnte ein Bekannter das Heft von mir, ich gebe Ihnen einige Zeilen an ihn mit und er wird es Ihnen einhändigen. Durchläuft man dies Bruchstück aus unsers Noltens Leben mit Bedacht, und vergleicht man damit seine spätere Entwicklung bis auf die Gegenwart, so erwehrt man sich kaum, den wunderlichen Bahnen tiefer nachzusinnen, worin oft eine unbekannte höhere Macht den Gang des Menschen planvoll zu leiten scheint. Der meist unergründlich verhüllte, innere Schicksalskern, aus welchem sich ein ganzes Menschenleben herauswickelt, das geheime Band, das sich durch eine Reihe von Wahlverwandtschaften hindurchschlingt, jene eigensinnigen Kreise, worin sich gewisse Erscheinungen wiederholen, die auffallenden Ähnlichkeiten, welche sich aus einer genaueren Vergleichung zwischen früheren und späteren Familiengliedern in ihren Charakteren, Erlebnissen, Physiognomieen hie und da ergeben (so wie man zuweilen unvermutet eine und dieselbe Melodie, nur mit veränderter Tonart, in demselben Stücke wiederklingen hört), sodann das seltsame Verhängnis, daß oft ein Nachkomme die unvollendete Rolle eines längst modernden Vorfahren ausspielen muß – dies alles springt uns offener, überraschender als bei hundert andern Individuen hier am Beispiel unseres Freundes in das Auge. Dennoch werden Sie bei diesen Verhältnissen nichts Unbegreifliches, Grobfatalistisches, vielmehr nur die natürlichste Entfaltung des Notwendigen entdecken. Die Spitze des Ganzen besteht aber in der Art und Weise, wie unser Freund als Knabe zur innigsten Vermählung mit der Kunst geleitet worden, deren ursprünglicher Charakter sich noch heute in einem großen Teil seiner Gemälde erkennen läßt. Genug, Sie mögen selbst urteilen. Aber ach! was werden Sie bei dieser Lektüre fühlen, wenn Sie denken, daß eben derjenige, dessen ahnungsvolle Knabengestalt Ihnen in den Blättern begegnet, nunmehr als Mann von der sinnlosen Faust eines fremdartigen Geschickes aus seiner eigenen Sphäre herausgestoßen, und noch ehe er die Hälfte seiner Rechnung abgeschlossen, hier in diesen Mauern eilig verwelken und vergehen soll! Denn, o mein Freund! ich fürchte alles, und dieser Kummer wird mich aufreiben, wird mich noch vor ihm töten – und möchte er nur! Sehen Sie mich an; ich glaube zu fühlen und mein Spiegel sagt es mir, daß der Gram dieser drei Tage mich um doppelt soviel Jahre älter gemacht hat. Still; ich muß abbrechen, wenn ich nicht von Sinnen kommen will. Gehen Sie hinüber zu dem Armen und drücken ihm die Hand im Namen des Larkens. Ach, möchte ich ihn wenigstens einmal wieder von Angesicht sehen! und doch – ich fürchtete mich davor.«

Leopold griff nach dem Hute und erbat sich noch die Anweisung zu dem merkwürdigen Heft; da eben der Schließer eintrat, säumte er nicht länger, um vor allem den geliebten Patienten zu besuchen. Mit heißen Blicken sah ihm der Schauspieler nach, eine unbegrenzte Sehnsucht nach Theobald übermannte ihn, aber umsonst, die Türe zog sich zu und drüben hörte er das Schloß zum Zimmer des Geliebten rauschen.

So stand nun der Bildhauer vor dem Bette Noltens, und heimlich entsetzt über das äußerst elende Aussehen des Kranken mußte er alle Fassung aufbieten, um seine Bewegung nicht zu verraten. Den Gemütszustand Noltens konnte er im ganzen nicht gewahr werden, er sprach wenig und nur angestrengt mit matter Stimme. Einmal fragte er den Wärter, wer doch des Morgens in aller Frühe unten in der Küche so hübsch zu singen pflege? Etwas kleinlaut erwiderte der Alte: »Meine Tochter. Ich will's ihr aber untersagen, es schickt sich nicht; und ach! das Gesinge ist noch ihr einzig Leben.« Theobald bat sehr, man möge das Mädchen ja nicht irremachen in diesen Unterhaltungen; er fragte, wie es komme, daß sie nur ernste traurige Lieder zu kennen scheine? »Der Henker weiß«, war die Antwort, »woher sie all das Zeug herkriegt; sie war von Kindheit auf ein närrisches Ding, nicht auch lustig und rasch wie die andere Jugend, aber fleißig und verständig, und besorgt mir alles in der Haushaltung seit ihrer Mutter Tod.« Da der Alte sofort über den Verlust seiner Frau, deren Tugend er nicht genug rühmen konnte, in die beweglichsten Klagen ausbrach, auch zuletzt immer wärmer und aufrichtiger werdend eine unglückliche Liebschaft seines Kindes auseinanderzusetzen anfing, konnte man leicht bemerken, wie angreifend solche Dinge auf Nolten wirkten, daher Leopold dem Erzähler einen Wink gab. Endlich schied der Bildhauer mit ungewissem beklommenem Herzen. Er eilte, nachdem er sich zuvor das bewußte Manuskript verschafft, allein aus dem Geräusche der Stadt, einen selten betretenen Weg verfolgend. Ein warmer, sonnenheller Tag schmolz vollends die letzten Reste Schnee und Eis hinweg, eine erquickende Luft schmeichelte bereits mit Vorgefühlen des Frühlings. So gelangt unser ernster Fußgänger, eh er sich's versah, in die ländlichste Umgebung, ein freundliches Dorf lacht ihm entgegen. Dort sucht er nach einem stillen Garten hinter dem nächsten besten Wirtshause und findet auch bald ein hübsches erhöhtes Plätzchen zwischen Weinbergen mit Tisch und Bank, von wo man die angenehmste Aussicht hat. Er bestellt eine Flasche Wein, setzt sich und holt jene Schrift hervor, deren Inhalt wir dem Leser nicht vorenthalten können.


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