Eduard Mörike
Maler Nolten
Eduard Mörike

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»Nicht einen letzten Blick der Neigung, kein Auge des Mitleids sollen Sie diesem Blatte gönnen, das von dem jammervollsten, ach zugleich von dem unwürdigsten Weibe kommt; denn (davon hatten Sie bis diesen Augenblick noch keine Ahnung) so wie mein Unglück, ist auch meine Schuld ohne Grenzen. Nie kann ich hoffen, Sie mir zu versöhnen, ja wäre das möglich, ich kann keine Vergebung, auf ewig keine, von mir erhalten. Aber die Strafe, die ich schrecklich genug im eigenen Bewußtsein trage, bin ich im Begriff aufs höchste zu schärfen, indem ich meinen Frevel vor Ihnen enthülle, indem ich freiwillig Ihre ganze Verachtung, Ihren gerechtesten Haß auf mich ziehe. Was hält mich ab vom entehrendsten Bekenntnis? Ist man noch eitel, ist man noch klug, sucht man ängstlich noch einigen Schein für sich zu bewahren, wenn man einmal sich selbst zu verachten einen verzweifelten Anfang gemacht hat? Gleichgültig verzicht ich auf die kleinen Künste, womit wir Armen sonst in solchen Fällen der Bedrängnis uns vor uns selbst und vor Ihrem Geschlechte beschönigen. Hinweg damit! Dem besten, dem edelsten Manne zeige sich, ganz wie es ist, das elende Geschöpf, das ihn so unerhört betrogen. – Erfahren Sie's also, Constanze war's, durch deren Tücke Ihnen Ihr harmloser Anteil an jener letzten Abendunterhaltung in unserem Hause so schwer zu stehen kam, und – so wollte es die Wut eines Weibes, dessen entschiedene Liebe sich beispiellos hintergangen wähnte – ich hätte vielleicht, o ich hätte gewiß, wär es in meiner Macht gestanden, die Grausamkeit aufs äußerste getrieben. Der Himmel fand noch zeitig ein wunderbares Mittel, mich einzuschrecken, mich zu züchtigen. Nun auf einmal zum törichten Kinde verwandelt, von Göttern und Geistern verfolgt, eilt ich in meiner Herzensnot, Sie zu befreien. Es gelang, und durch dieselbe Hand zwar, an die ich Sie zuerst verraten. O Schande, Schande! mein kurz gemeßnes Leben reicht nicht hin, sie zu beweinen, wie sie es verdient, und – nein ich schweige; daß Sie nicht etwa denken, ich gehe darauf aus, durch übertriebne Selbstanklagen mir einen Funken gerührter Teilnahme zu erschleichen, so entsag ich der Wollust, mich jetzt im Staube vor Ihnen zu winden. Aber hassen Sie, verdammen Sie mich keck, ja dürft ich mein ganzes Geschlecht wider mich aufrufen, möchten die Besten desselben mich fremd aus ihrer Mitte weisen! das härteste Gericht, dürft ich's erdulden, damit ich doch den einzigen Trost genösse, meine Buße vollendet zu sehen, eh mein beflecktes Dasein sein Ende erreicht! Gott, du Gerechter, weißt, ob ich mich solcher Missetat je fähig halten konnte, bevor du mir diese Versuchung bereitet! Doch daß ich sie so schlecht bestand, das öffnet mir schaudernd die Augen über mich selbst, über mein gesamtes Wesen. Die schönen Stunden auch, wo mich die Liebe mit Hoffnungen der glücklichsten Zukunft täuschte und eine fromme Weihe über mein kommendes Leben harmonisch zu verbreiten schien – mit Tränen sag ich mir, daß selbst der Wert so reiner Augenblicke, so himmlischer Entschlüsse, nichtswürdig in jenem ungeheuern Abgrunde verschwindet, den dieses Herz, sein selbst unkundig, mir bis daher verbarg. Nun ich mich aber kenne, nun, Gott sei gepriesen, weiß ich auch, wohin mein Trachten gehen muß. Doch davon red ich Ihnen nicht, ich habe das mit einem Höhern.

Nehmen Sie meinen Dank für die Mitteilungen an die Niethelm; sie sind mir treulich zugekommen. Ich wäre verloren gewesen ohne sie; drum tausend, tausend Dank für die Barmherzigkeit!

Aber mit welchen Empfindungen hab ich zugleich in die Wege blicken müssen, in denen Ihr Geschick Sie führte! Nur eine Heilige, wie Agnes, wird mit Kinderhänden den wunderbaren Schleier lüpfen, der über Ihrem Schicksal liegt. In diesem herrlichen Geschöpf fürwahr ist Ihnen die Befriedigung Ihres höchsten Strebens aufbehalten. – Leben Sie wohl! wohl! Ach aus dem tiefsten Grund der Seele wünsch ich, fleh ich, es möge Ihnen wohl ergehen. Welch einen Trost ich darin für mich suche, ahnet Ihnen kaum. Und dürft ich nur einmal im Leben Agnesen umarmen, den Engel, den ich preise! Sie ist die Glücklichste auf Erden, ich aber bin die erste, die dieses Glück ihr gönnt. Lebt beide wohl, Ihr Teuren, und laßt mich Ärmste für Euch beten.«

 

Wir lassen nun über dem bisherigen Schauplatze von Noltens Leben den Vorhang fallen, und wenn er jetzt sich aufs neue hebt, so treffen wir den Maler bereits seit zweien Tagen auf der Reise begriffen. Wohin er seinen Weg nehme, fragen wir nicht erst. Wir denken uns übrigens wohl, daß eben nicht die leidenschaftliche Wonne des Liebhabers, wie man sie sonst bei solchen Fahrten zu schildern gewohnt ist, auch nicht die bloße kühle Pflicht es sei, was ihn nach Neuburg führt; es ist vielmehr eine stille Notwendigkeit, die ihn ein Glück nur leise hoffen heißt, welches leider jetzt noch ein sehr ungewisses für ihn ist. Denn eigentlich weiß er selbst nicht, wie alles werden und sich fügen soll. Beharrlich schweigt sein Herz, ohne irgend etwas zu begehren, und nur augenblicklich, wenn er sich das Ziel seiner Reise vergegenwärtigt, kann ein süßes Erschrecken ihn befallen.

Er hat mit seinem muntern Pferde schon in der vierten Tagreise das Ende des Gebirgs erreicht, das die Landesgrenze bezeichnet und von dessen Höhe aus man eine weite Fläche vor sich verbreitet sieht. Es war ein warmer Nachmittag. Gemächlich ritt er die lange Steige hinunter und machte am Fuß derselben Halt. Er führte sein Pferd seitwärts von der Straße, band es an eine der letzten Buchen des Waldes, wo zwischen kleinem Felsgestein ein frisches Wasser vorquoll. Er selber setzte sich auf eine erhöhte, mit jungem Moos bewachsene Stelle und schaute auf die reiche Ebene, welche in größerer und kleinerer Entfernung verschiedene Ortschaften und die glänzende Krümmung eines ansehnlichen Flusses zeigte. Ein Schäfer zog pfeifend unten über die Flur, überall wirbelten Lerchen, und Schlüsselblumen dufteten in nächster Nähe.

Den Maler übernahm eine mächtige Sehnsucht, worein sich, wie ihm deuchte, weder Neuburg, noch irgendeine bekannte Persönlichkeit mischte, ein süßer Drang nach einem namenlosen Gute, das ihn allenthalben aus den rührenden Gestalten der Natur so zärtlich anzulocken und doch wieder in eine unendliche Ferne sich ihm zu entziehen schien. So hing er seinen Träumen nach, und wir wollen ihnen, da sie sich von selbst in Melodieen auflösen würden, mit einem liebevollen Klang zu Hülfe kommen.

    Hier lieg ich auf dem Frühlingshügel,
Die Wolke wird mein Flügel,
Ein Vogel fliegt mir voraus.
– Ach sag mir, alleinzige Liebe,
Wo du bleibst, daß ich bei dir bliebe!
Doch du und die Lüfte haben kein Haus.

    Der Sonnenblume gleich steht mein Gemüte offen,
Sehnend
Sich dehnend
In Lieben und in Hoffen.
Frühling, was bist du gewillt?
Wann werd ich gestillt?

    Die Wolke seh ich wandeln und den Fluß,
Es dringt der Sonne goldner Kuß
Mir tief bis ins Geblüt hinein;
Die Augen, wunderbar berauschet,
Tun als schliefen sie ein,
Nur noch das Ohr dem Ton der Biene lauschet.

    Ich denke dies und denke das,
Ich sehne mich, und weiß nicht recht, nach was;
Halb ist es Lust, halb ist es Klage.
Mein Herz, o sage,
Was webst du für Erinnerung
In golden grüner Zweige Dämmerung?
    Alte, unnennbare Tage!

Aber nicht allzulange konnte sich das Gefühl unseres Freundes in so allgemeinem Zuge halten. Er nahm eine alte Locke Agnesens vor sich, es lag neben ihm im Grase blitzend das kostbare Kollier der Gräfin (denn dies war der Inhalt jenes zierlichen Futterals), der Brief des Schauspielers ruhte auf seiner Brust. Zärtlich drückte er alle diese Gegenstände an seinen Mund, als hätten sie sämtlich gleiches Recht an ihn.

Ein leichter Regen begann zu fallen und Theobald erhob sich. Wir lassen ihn seine Straße ungestört fortziehn und sehen ihn nicht eher wieder, bis er mit dem vierten Sonnenuntergang im letzten Dorfe angelangt ist, wo man ihn versichert, daß er von hier nur noch drei kleine Stündchen nach Neuburg habe. Auf dieser letzten Station wollte er übernachten, sich zu stärken, sich zu sammeln. Er tat dies nach seiner Art mit der Feder in der Hand und legte sich sodann beruhigt nieder. Der Morgen graute kaum und der Mond schien noch kräftig wie um Mitternacht, als Theobald den Ort verließ. So wie der Tag nun unaufhaltsam vordrang, zog sich die Brust des Freundes enger und enger zusammen; aber der erste Blitz der Sonne zuckt jetzt im roten Osten auf und entschlossen wirft er allen Kleinmut von sich. Mit einer unvermuteten Wendung des Wegs öffnet sich ein stilles Tal, das gar kein Ende nehmen will, aus ihm entwickelt sich ein zweites und drittes, so daß der Maler zweifelt, ob er das rechte wähle; doch ritt er zu, und die Berge traten endlich ein wenig auseinander. »Herz, halte fest!« ruft er laut aus, da er auf einmal den Rauch von Häusern zu entdecken glaubt. Er irrte nicht, schon konnte man des Försters heitere einstockige Wohnung mit ihren grünen Läden, einzeln an die Seite des Bergs hinaufgerückt, unweit der Kirche, liegen sehn. »Herz, halte fest!« klingt es zum zweitenmal in seinem Innern nach, da ihn die Gassen endlich aufnahmen. Er gab sein Pferd im Gasthof ab, er eilte zum Forsthaus.

»Herein!« rief eine männliche Stimme aufs Klopfen an der Tür. Der Alte saß, die Füße in Kissen gewickelt, im Lehnstuhl und konnte vor Freudeschrecken nicht aufstehn, selbst wenn das Podagra es erlaubt hätte. Wir sagen nichts vom hellen Tränenjubel dieses ersten Empfangs und fragen mit Nolten sogleich nach der Tochter.

»Sie wird wohl«, ist die Antwort, »ein Stückchen Tuch drüben auf den Kirchhof zur Bleiche getragen haben; die Sonne ist gar herrlich außen; gehn Sie ihr nach und machen ihr gleich die köstliche Überraschung! Ich kann nicht erwarten, euch beieinander zu sehn! Ach mein Sohn! mein lieber trefflicher Herr Sohn! sind Sie denn auch noch ganz der alte? Wie so gar stattlich und vornehm Sie mir aussehen! Agnes wird Augen machen! Gehn Sie, gehn Sie! Das Kind hat keine Ahnung. Diesen Morgen beim Frühstück sprachen wir zusammen davon, daß heute wohl ein Brief kommen würde, und nun!« – Theobald umarmte den guten Mann wiederholt und so entließ ihn der Alte. Im Vorbeigehn fiel sein Blick zufällig in die Kammer der Geliebten, er sah ein schlichtes Kleid von ihr, das er sogleich wiedererkannte, übern Sessel hängen; der Anblick durchzückte ihn mit stechender Wehmut, und schaudernd mußte sein Geist über die ganze Kluft der Zeiten hinwegsetzen.

Der Weg zum Kirchhof hinter dem Pfarrhaus zwischen den Haselhecken hin, wie bekannt und fremd war ihm alles! Das kleine Pförtchen in der Mauer stand offen; er trat in den stille grünenden Raum, der mit seinen ländlichen Gräbern und Kreuzen die bescheidene Kirche umgab. Begierig und schüchtern sucht er die Gestalt Agnesens; hinter jedem Baum und Busch glaubt er sie zu erspähen; umsonst; seine Ungeduld wächst mit jedem Atemzug; ermüdet setzt er sich auf eine hölzerne Bank unter den breiten Nußbaum und überschaut den friedsamen Platz. Die Turmuhr läßt ihren festen Perpendikeltakt vernehmen, einsame Bienen summen um die jungen Kräuter, die Turteltaube gurret hie und da, und, wie es immer keinen unerfreulichen Eindruck macht, wenn sich unmittelbar an die traurigen Bilder des Todes und der Zerstörung die heitere Vorstellung eines tätig regsamen Lebens anknüpft, so war es auch hier wohltuend für den Beschauer, mitten auf dem Felde der Verwesung einzelne Spuren des alltäglichen lebendigen Daseins anzutreffen. Dort hatte der benachbarte Tischler ein paar frisch aufgefärbte Bretter an einen verwitterten Grabstein zum Trocknen angelehnt, weiter oben blähten sich ein paar Streifen Leinwand in der lustigen Frühlingsluft auf dem Grasboden, und von ganz eigener Rührung mußte Theobald ergriffen werden, wenn er dachte, welche Hände dieses Garn gesponnen und sorglich es hieher getragen, wie manche Stunde des langen Tages und der langen Nacht das treuste der Mädchen unter wechselnden Gedanken an den Entfernten, in hoffnungsreichem Fleiße, mit dieser Arbeit hingebracht, während er, in übereiltem Wahne, mit sündiger Glut eine fremde Neigung pflegte.

Jetzt hatte er kein Bleibens mehr an diesem Ort; und doch konnte er den Mut auch nicht finden, Agnesen geradezu aufzusuchen; er trat unschlüssig in den Eingang der Kirche, wo ihn eine angenehme Kühle und, trotz der armeseligen Ausstattung, ein feierlicher Geist empfing. Haftete doch an diesen braunen abgenützten Stühlen, an diesen Pfeilern und Bildern eine unendliche Reihe frommer Jugendeindrücke, hatte doch diese kleine Orgel mit ihren einfachen Tönen einst den ganzen Umfang seines Gemüts erfüllt und es ahnungsvoll zum Höchsten aufgehoben, war doch dort, der Kanzel gegenüber, noch derselbe Stuhl, wo Agnes als ein Kind gesessen, ja den schmalen Goldstreifen Sonne, der soeben die Rücklehne beschien, erinnerte er sich wohl an manchen Sonntagmorgen gerade so gesehen zu haben; in jedem Winkel schien ein holdes Gespenst der Vergangenheit neugierig dem Halbfremden aufzulauschen und ihm zuzuflüstern: Siehe, hier ist sich am Ende alles gleichgeblieben; wie ist's indessen mit dir gegangen?

Zur Emporkirche stieg er nun auf; er sah ein altes Bleistiftzeichen wieder, das er einst in einem bedeutenden Zeitpunkt, abergläubisch, gleichsam als Frage an die Zukunft, hingekritzelt hatte – aber wie schnell bestürzt wendet seine Aufmerksamkeit sich ab, als ihm durch die bestäubten Glasscheiben außen eine weibliche Figur auffällt, über die er keinen Augenblick im Zweifel bleiben kann. Agnes ist es wirklich. Sein Busen zieht sich atemlos zusammen, er vermag sich nicht von der Stelle zu bewegen, und um so weniger, je treffender, je rührender die Stellung ist, worin eben jetzt ihm das Mädchen erscheint. Er öffnet behutsam den Fensterflügel um etwas und steht wie eingewurzelt.


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