Eduard Mörike
Maler Nolten
Eduard Mörike

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Das Spiel war beendigt. Das Pianoforte machte nach einigen erhebenden Triumphpassagen zuletzt einen wehmütigen beruhigenden Schluß, der den übriggebliebenen Eindruck vom Grame Thereilens mild verklingen lassen sollte. Die Gesellschaft erhob sich unter sehr geteilten Empfindungen. Einige, besonders die Männer, klatschten den herzlichsten Beifall, drei oder vier Gesichter sahen zweifelhaft aus und erwartungsvoll, was andere urteilen würden. Schon während der Vorstellung war hin und wieder ein befremdetes, deutelndes Flüstern entstanden, jetzt schienen ein paar hochweise unglückverkündende Frauennasen nur auf Constanzens Miene und Äußerung gespannt, aber sie zogen sich eilig wieder ein, als die liebenswürdige Frau ganz munter und arglos, bald dem Schauspieler, bald Theobalden das ungeheucheltste Lob erteilte, wobei die Mehrzahl der Männer und Damen fröhlich mit einstimmte. Endlich konnten die Bedenklichen sich doch der bescheidenen Frage nicht enthalten, ob nicht irgend etwas Politisches, Satirisches, Persönliches dem Stücke zugrunde liege? irgendein versteckter Sinn? denn für das, was es nur obenhin an Poesie prätendiere, könne man es doch nicht einzig nehmen.

»Und warum denn nicht, meine Gnädigste?« fragte Larkens die Hofdame, indem er jenes schneidend scharfe Gesicht zeigte, das einem durch die Seele ging.

»Weil – weil – ich meinte nur –«

»Aber wie? wenn ich Sie alles Meinens und Vermutens überhebe, wenn ich Sie versichere, es ist ein reines Kindermärchen, womit ich Sie zu unterhalten wagte? Doch Sie vermissen die Pointe dabei – ja, so ist der Dichter eben ein ruinierter Mann!«

»Er mag nur sorgen, daß er kein solcher wird, wenn man die Pointe wirklich herausgefunden haben sollte«, raunte der Baron von Vesten einem Geheimenrat ins Ohr und zog ihn beiseite, »merken Sie denn nicht, daß das Ganze ein Pasquill auf unsern verewigten König und seine Geschichte mit der Fürstin Viktorie ist?«

»Was sagen Sie? Ja, wahrlich, jetzt geht mir ein Licht auf! Mir deucht, die Figur im Schauspiel hatte Ähnlichkeit mit den Zügen des Höchstseligen –«

»Allerdings! allerdings! nun? ist das aber nicht ein ungeziemender Spaß? ist es nicht impertinent von diesem Larkens? aber ich hielt ihn von jeher für einen maliziösen Menschen.«

»Fein und edel wär's auf keinen Fall, ich muß sagen, wenn es sich wirklich so verhielte. Denn, was man auch behaupten mag, der Verewigte war doch ein geistreicher, vortrefflicher Mann. Es ist seine Schuld nicht, daß er in der Folge krank und elend wurde, daß er zum Verdruß gewisser Patrioten ein übermäßiges Alter erreichte, daß ihn die Fürstin – nun! könnten wir uns aber nicht etwa täuschen, wenn wir diese Beziehungen –«

»Täuschen? täuschen? Gerechter Gott! Sind Sie blind, Exzellenz? Stieß ich denn nicht nach dem zweiten Auftritt gleich meine Frau an? und fiel es ihr nicht auch plötzlich auf? Treffen nicht die meisten Umstände zu? Daß der Vogel sich dann wieder hinter andere unwesentliche Züge versteckte, das hat er schlau genug gemacht, aber er mag sich wahren; es gibt Leute, die die Lunte riechen, und ich tue mir in der Tat etwas darauf zugute, daß ich die Bemerkung zuerst gemacht.«

»Jedoch, nur das noch, Baron! mir deuchte doch, der alte Narr in der Piece da, er benimmt sich, wenigstens der Absicht des Poeten nach, immer recht nobel, besonders vis-à-vis der Hexe oder was es ist, und es widerfährt ihm, wie mir's vorkam, zuletzt noch gleichsam göttliche Ehre.«

»Spott! Spott! lauter infame Ironie! ich will mich lebendig verbrennen lassen, wenn es was anders ist.« »Und wie gemein mitunter«, lispelte die bleichsüchtige Tochter Vestins, hinzutretend, »wie pöbelhaft!«

Die übrigen hatten sich inzwischen wieder in das vordere Zimmer begeben. Man unterhielt sich noch eine Weile über das sonderbare Stück, allein bald stockte das Gespräch; ein vorsichtiges Ansichhalten, eine gewisse Verlegenheit teilte sich auch dem Unbefangensten mit, es glaubten endlich mehrere, es müsse jemand aus der Gesellschaft beleidigt worden sein, und man sah einander lauschend an. Wer sich allein nicht irremachen ließ, das war die schöne Wirtin des Hauses, und dann Larkens selbst, welcher nur desto mehr schwatzte, lachte, dem Wein zusprach, je kälter das Benehmen der übrigen war, das er im stillen gutmütig mehr nur als eine verzeihliche Gleichgültigkeit gegen sein fremdartiges Produkt, denn als Spannung auslegte.

Da es übrigens schon spät war, ging man in kurzem auseinander. Constanze beehrte den verkannten Schauspieler noch auf der Schwelle mit der Bitte, sein Manuskript zu nochmaliger Erbauung dabehalten zu dürfen, und Freund Nolten bekam eine, wie ihm schien, ungewöhnlich freundliche »Gute Nacht« mit auf den Weg.

 

Im Heimgehen machte Theobald seinen Begleiter auf jene Störung aufmerksam. »Gott weiß«, antwortete Larkens, »was die Fratzen im Kopf hatten! Am Ende war's nur Unbeholfenheit, was sie zu dem exotischen Ding sagen sollten; wären wir doch lieber damit zu Hause geblieben oder hätten ihnen eine gutbürgerliche Komödie gegeben – Ei aber ein verdammter Streich müßt es doch sein, wenn sie eine Neckerei mit der alten Majestät darunter suchten!«

»Das fürcht ich«, erwiderte Nolten, »und riet ich dir nicht damals schon, wie du mich mit der Sache bekannt machtest, es lieber bei dir zu behalten, weil für keine Mißdeutung zu stehen sei? Es war vorauszusehen. Denn daß dir der alte Nikolaus und die Mätresse bei der ganzen Komposition vorgeschwebt, gestehst du selber und hat sich heute nur zu sehr gerechtfertigt –«

»Zumal«, unterbrach der andere ihn mit Gelächter, »zumal, wenn es wahr sein sollte, daß dir selbst der Teufel auch einigemal in den Pinsel gefahren ist, weil du, wie du sagtest, den herrlichen Kopf des Alten auf dem Porträt über meinem Schreibtisch länger als rätlich war, ins Auge gefaßt!«

»Leid genug auf alle Fälle sollte mir's sein«, gestand Nolten nach einigem Besinnen, »man weiß nicht, wie so was umkommt und sich in der Leute Mund verunstaltet.«

»Was da!« rief der andere, »wer wird so abgeschmackt sein und etwas Böses da herauskombinieren wollen? weißt du mir was Tolleres? Gar zu klein fänd ich es schon, wenn diese Kreaturen, die sich Gebildete nennen, überhaupt einem fremden Gedanken dabei Raum geben und über das Poetische der schlichten Fabel hinausgehen konnten. Aber das ist ganz in der Art eines schöngeistigen Klubs, das weiß man ja lange. Lassen wir's halt gut sein; werden uns den Prozeß nicht machen.«

So kamen die beiden in ihrer Wohnung an. Theobald, ganz nur in der heimlich entzückten Erinnerung an die Güte der Geliebten schwelgend, ließ sich den ärgerlichen Gegenstand wenig anfechten, er freute sich auf die Stille seines Zimmers, wo er ungestört mit seinem Herzen weiterreden konnte. Larkens pfiff wie gewöhnlich, wenn er bei der Nachhausekunft den Schlüssel in die Türe steckte, seine fröhliche Arie, und so überließ sich denn jeder sich selber.

Dem Leser aber mag zum Verständnisse des Obigen Folgendes dienen.

Der seit etwa zwei Jahren mit Tod abgegangene König Nikolaus, Vater und Vorfahrer des regierenden, galt bis in sein späteres Alter für einen ausnehmend schönen und auch sonst sehr begabten Mann. Er hatte mit einer ungleich jüngeren Dame aus einem anverwandten Fürstenhause ein zärtliches Verhältnis, das die letztere mit einiger Aufdringlichkeit und – so glaubte man – aus eigennützigen, politischen Absichten auch dann noch fortzusetzen wußte, als der Monarch für die Reize der Jugend bereits abgestorben sein sollte, oder ihnen auch wirklich schon entsagt hatte. Aber Schwäche des Charakters, oder eine Verbindlichkeit, der er nicht ausweichen konnte, machten ihn gegen die Zauberin nachgiebiger, als wohl seinem Rufe dienlich war. Eine beschwerliche Nervenkrankheit, aber mehr noch die Sorge, er genüge als Regent seinem Volke nimmer, verbitterte ihm vollends das Leben, er sehnte sich mit einer Ungeduld, deren Ausbrüche oft schauerlich gewesen sein sollen, dem Tod entgegen, und man wollte wissen, daß er einen mißlungenen Versuch zum Selbstmorde gemacht. Bekannt genug war die Anekdote, wonach er einst in einem Anfall von Verzweiflung bitter scherzend ausgerufen: »Der Himmel will einen neuen Methusalah aus mir haben, und Viktorie zerrt mich mit Gewalt in die Jünglingsjahre zurück.« Diese Worte klangen um so komischer, je mehr man der boshaften Meinung einiger Spötter trauen wollte, daß die schneeweißen Locken Seiner Majestät sich noch immer nicht ungerne von den Rosen der jungen Fürstin schmeicheln ließen. Wie dem auch gewesen sein mag – unter denjenigen, welchen das Gedächtnis dieses merkwürdigen, früher sehr wohltätigen Regenten höchst ehrwürdig, ja heilig blieb, war auch unser Larkens, und zwar abgesehen von der persönlichen Gunst des Königs gegen ihn als Schauspieler, war Nikolaus in seinen Augen ein großartiges tragisches Rätsel der Menschennatur, eine mächtige graue Trümmer an dem uralten Königspalast. Geschmäht von dem Geschmacke einer frivolen Zeit, angestaunt von wenigen edleren Geistern, hätte sich die herrliche Säule, wie sie bereits mit halbem Leibe schon in die Erde eingesunken war, gramvoll lieber vollends unter den Boden verborgen mit ihren für dieses Geschlecht unlesbar gewordenen Chiffern, aber es war anders mit ihr beschlossen, und so konnte oder wollte sie auch den Trost nicht von sich abwehren, daß ein jugendlicher Efeu sich liebevoll an ihr hinanschlinge.

Zu entschuldigen ist es nun, wenn der Freund einen Teil jener Idee mit frommem Sinne auf ein Gebilde seiner Phantasie übertrug, und gewissermaßen eine Apotheose jenes unglücklichen Fürsten liefern wollte, ohne weder zu hoffen noch zu fürchten, daß andere, denen er seinen Versuch vorgeführt, auch nur entfernterweise geneigt sein könnten, irgendeine – würdige oder unwürdige – Deutung zu machen.

 

Es war eine überaus klare und schöne Winternacht. Die Glocke schlug soeben eilf. Im Zarlinschen Hause war alles schon stille geworden, nur das Schlafzimmer der Gräfin finden wir noch erhellt. Constanze, im weißen Nachtgewande, allein vor einem Tischchen bei dem Bette sitzend, ist beschäftigt, die schönen Haare loszuwickeln, das Ohrgehänge und die schmale Perlschnur abzulegen, die ihrem Halse immer so einfach reizend gestanden. Sie hob die Schnur nachdenklich spielend am kleinen Finger gegen das Licht, und wenn wir recht auf ihrer Stirne lesen, so ist es Theobald, an den sie gegenwärtig denkt. Scheint es doch, als wüßte sie, daß sie ihm diese Gabe verdanke, daß das Geschenk nur vermittelst eines künstlichen Umwegs aus seiner Hand durch eine dritte in die ihre gelangt war! – aber, in der Tat, sie wußte es nicht; und doch wiederholte sie sich heute nicht zum erstenmal jene Worte, die er einst, im Anschaun ihrer Gestalt verloren, gegen sie hatte fallenlassen. »Perlen«, sagte er, »haben von jeher etwas eigen Sinn- und Gedankenvolles in ihrem Wesen für mich gehabt, und wahrlich, diese hier hängen um diesen Hals, wie eine Reihe verkörperter Gedanken, aus einer trüben Seele hervorgequollen. Ich wollte, daß ich es hätte sein dürfen, der das Glück hatte, Ihnen das Andenken umzuknüpfen. Es liegt ein natürliches unschuldiges Vergnügen darin, zu wissen, daß eine Person, die wir verehren, der wir stets nahe sein möchten, irgendeine Kleinigkeit von uns bei sich trage, wodurch unser Bild sich ihr vergegenwärtigen muß. Warum dürfen doch Freunde, warum dürfen entferntere Bekannte sich einander nicht allemal in diesem Sinne beschenken? muß das edlere Gefühl überall der Konvenienz weichen?«

Constanze erinnerte sich gar wohl, wie sie damals errötete, und was sie scherzhaft zur Antwort gab. Ach, seufzte sie jetzt vor sich hin, wüßte er, wie tief ich sein Bild im Innersten des Herzens bewahre, er würde den Geber dieser armen Zierde nicht beneiden.

Unruhig stand sie auf, unruhig trat sie ans Fenster und ließ den herrlich erleuchteten Himmel mit aller seiner Ahnung, mit all seiner Hoheit auf ihre Seele wirken. Die Liebe zu jenem Mann, von ihren ersten unmerklichen Pulsen bis zu dem bestürzten Zustande des völligen Bewußtseins, von der Zeit an, wo ihr Gefühl bereits zur Sehnsucht, zum Verlangen ward, bis zu dem Gipfel der mächtigsten Leidenschaft – alles durchlief sie in Gedanken wieder und alles schien ihr unbegreiflich. Sie sah unter leisem Kopfschütteln, mit schauderndem Lächeln in die reizende Kluft des Schicksals hinab. Die Augen traten ihr über wie damals in der Grotte, wo die noch getrennten Elemente ihrer Liebe, durch Noltens unwiderstehliche Glut aufgereizt, zum erstenmal in volle süße Gärung überschlugen und alle Sinne umhüllten. Sie hatte nichts zu beweinen, nichts zu bereuen, es waren die Tränen, die dem Menschen so willig kommen, wenn er, sich selbst anschauend, das Haupt geduldig in den Mutterschoß eines allwaltenden Geschicks verbirgt, das die Waage über ihm schweben läßt; er betrachtet sich in solchen Momenten mit einer Art gerührter Selbstachtung, die höhere Bedeutsamkeit einer Lebensepoche macht ihn in seinen eigenen Augen gleichsam zu einem seltenen Pflegekinde der Gottheit, es ist, als fühlte er sich hoch an die Seite seines Genius gehoben.

Lange, lange noch starrte Constanze, stillversunken, einer Bildsäule gleich an die Fensterpfoste angelehnt, hinaus in die schöne Nacht. Jetzt überwältigte sie der Drang ihrer Gefühle; sie sank unwillkürlich auf die Kniee nieder, und indem sie die Hände faltete, wußte sie kaum, was alles in ihrem Innern durcheinanderflutete; und doch, ihr Mund bewegte sich leise zu Worten des brünstigen Dankes, der innigsten Bitten.

Nachdem sie sich wieder erhoben, glaubte sie, der Himmel wolle ihr in der ruhigen Heiterkeit, wovon ihre Seele jetzt wie getragen war, Erhörung ihres Gebets ankündigen. In der Tat, jetzt war sie auch beherzt genug, um endlich nicht länger die Frage abzuweisen: was denn zuletzt von dieser Liebe zu hoffen oder zu fürchten sei? was es mit Theobald, was es mit ihr werden solle? Sie stellte sich aufrichtig alle Verhältnisse vor, sie verschwieg sich keine Bedenken, keine Schwierigkeit, sie wog jegliches gegeneinander ab, und mehr und mehr vertraute sie der Möglichkeit einer ehrenvollen und glücklichen Vereinigung, ja, wenn sie sich genauer prüfte, so fand sie diese Hoffnung längst vorbereitet im Hintergrund ihrer Seele gelegen. Aber nicht allzukühn durfte sie ihr sich überlassen, denn schon der nächste Augenblick wies ihr so manches Hindernis, worunter der Adelstolz der Familie keineswegs das geringste war, in einem strengeren Lichte, als es ihr noch kaum vorher erschien. Es bemächtigte sich ihrer eine nie empfundene Angst; sie wollte sich für heute der Sache ganz entschlagen, sie griff nach einem Buche: umsonst, kein Gedanke wollte haften; Mitternacht war vorüber; sollte sie sich niederlegen, schlafen? Es wäre unmöglich gewesen, so bang, so heiß und unbehaglich wie ihr war.


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