Eduard Mörike
Maler Nolten
Eduard Mörike

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»Nun, meine Tochter war etwa zehn Jahre, zur Zeit, da Ihr Herr Bruder, der Herr Oberforstmeister, von Ihren Reisen zurückkamen, und die Gnade hatten, manchmal in meinem Hause davon zu erzählen. Dieser Herr, nachdenklich und ernsthaft, aber freundlich und gut gegen Kinder, machte auf das Mädchen einen besondern Eindruck, der ihr lange geblieben ist. Nun kommt sie einmal (die Gesellschaft war gerade weggegangen) von ihrem Sitz hinter dem Ofen, wo sie eine Zeitlang ganz still gesessen und gestrickt hatte, hervor, stellt sich vor mich hin, sieht mir scharf ins Gesicht und lacht mich an, wie über etwas, das mir schon bewußt sein müßte, und dabei fährt sie mir mit der Stricknadel schalkhaft über die Stirn. Auf meine Frage, was dies zu bedeuten habe, gibt sie keine deutliche Antwort und geht wieder an ihren Platz. So treibt sie's zu verschiedenen Zeiten ein paarmal. Zuletzt ward ich doch ungeduldig und fuhr sie etwas hart an, da fiel sie in ein Weinen, indem sie sagte: ›Gesteht es nur Papa, daß es die Länder und Städte gar nicht gibt, von denen Ihr alls redet mit dem Herrn; ich merke wohl, man tut nur so, wenn ich um den Weg bin, ich soll wunder glauben, was alles vorgehe draußen in der Welt, und was doch nicht ist; deswegen laßt Ihr mich auch nie weiter als bis nach Weil, nach Grebenheim und Neitze. Zwar daß unsers Königs Land sehr groß ist, und daß die Welt noch viel viel weiter geht, auch noch andre Völker sind, weiß ich wohl, aber Paris, das ist gewiß kein Wort, und London, so gibt es keine Stadt; Ihr habt es nur erdacht und tut so bekannt damit, daß ich mir alles vorstellen soll.‹ – So ungefähr schwatzte das einfältige Ding; halb ärgert's mich, halb mußt ich lachen. Ich gab mir Mühe, ihr alles klar auseinanderzusetzen, wies ihr auch die Karten, die sie übrigens schon oft gesehen hatte; dabei lauschte sie immer auf meine Miene, und der kleinste Zug von Lachen brachte sie fast zur Verzweiflung. Nun, die Kaprice verlor sich bald, und als ich sie vor etlichen Jahren wieder dran erinnerte, lachte sie sich herzlich selber drüber aus, erklärte deutlicher, wie's ihr gewesen, und sagte – ich weiß nicht was alles.« »Kurz«, nahm Theobald das Wort, »es läuft darauf hinaus, daß sie sich als Mittelpunkt und Zweck einer großen Erziehungsanstalt betrachtete, die auf jene Weise allerlei lebhafte Ideen in des Kindes Kopfe habe in Umlauf setzen und seinen Gesichtskreis durch eine Täuschung erweitern wollen, deren Nutzen sie zu ahnen glaubte, doch nicht begriff. Sie vermutete, man wisse überall, wohin sie komme, wer ihr da und dort begegnen werde, und da seien alle Worte abgekartet, alles auf das sorgfältigste hinterlegt, damit sie auf keinen Widerspruch stoße. Übrigens hatte sich die Grille durchaus nicht so festgesetzt, daß sie nicht dazwischen hinein wieder längere Zeit ganz frei davon gewesen wäre, sie schien sich selbst nicht recht dabei zu trauen. Ich habe sie nie darüber fragen mögen.«

»Indessen«, sagte der Baron nach einigem Besinnen, »bei näherer Betrachtung zeigt sich doch, es gehört dieser skeptische Kasus, der allerdings höchst merkwürdig bleibt, nicht ganz in unser voriges Kapitel. Lassen Sie uns noch einen Augenblick zu jenem glücklichen Mystizism des Knabenalters zurückkehren! denn eigentlich sind es doch nur die Knaben, nicht aber die Mädchen, bei denen er sich findet. Das wollt ich noch sagen: denken Sie wohl, daß Subjekte von dieser angenehm phantastischen Komplexion – wozu ich überdies, was nicht notwendig dabeisein muß und bei den wenigsten ist, eine größere Portion Geist überhaupt zusetze – daß, sag ich, solche Individuen jedesmal zu Dichtern und Künstlern geboren sind? ich sollte nicht meinen.«

»Keineswegs!« versetzte Nolten. »Ich habe mir bei einem Manne, der scheinbar nicht hieher gehört, bei Napoleon, einige geheime Eigenschaften gemerkt, welche sich sehr gut an gewisse Fädchen von Lichtenbergs eigenster Natur anknüpfen lassen; sie berühren zwar nicht eben das, wovon wir jetzo reden, aber sie hängen mit einer Gattung Aberglauben zusammen, der ein Grenznachbar aller Idiosynkrasien ist.«

»Napoleon!« rief der Baron aus, »als wenn nicht auch sein Aberglaube nur angenommene Maske wäre!«

»Machen Sie mir ihn nicht vollends zum seichten Verbrecher!« entgegnete Nolten. »Er war nüchtern überall, nur nicht in dem tiefsten Schachte seines Busens. Nehmen Sie ihm nicht vollends die einzige Religion, die er hatte, die Anbetung seiner selbst oder des Schicksals, das mit göttlicher Hand ihm einen Spiegel vorzuhalten schien, worin er sich und die Notwendigkeit seiner Taten erblickte.«

»Wir lassen das gut sein«, versetzte der Baron, »soweit ich Sie aber verstehe, haben Sie vollkommen recht. Das Schicksal verwendet die Kräfte, welche verschränkt in einem Menschen liegen können, gar mannigfaltig, und aus einer Mischung von Poesie, bald mit politischem Verstand, bald mit philosophischem Talent, mit mathematischem Sinn u.s.f., in einem und demselben Subjekte springen die wunderbarsten, die größten Resultate hervor, vor denen die Gelehrten gaffend und kopfschüttelnd stehn und wodurch das lahme Rad der Welt auf lange hinein wieder einen tüchtigen Schwung erhält. Da scheint denn die Natur vor unsern eingeschränkten Augen sich auf einmal selbst zu widersprechen oder wenigstens zu übertreffen, sie tut aber keines von beiden. Zwei heterogen scheinende Kräfte können sich wunderbar einander stärken, und das Trefflichste hervorbringen. Doch ich verirre mich. – Ich wollte von Ihren kindischen Geständnissen aus nur auf den Punkt kommen, wo der Philister und der Künstler sich scheiden. Wenn dem letztern als Kind die Welt zur schönen Fabel ward, so wird sie's ihm in seinen glücklichsten Stunden auch noch als Mann sein, darum bleibt sie ihm von allen Seiten so neu, so lieblich befremdend.

Am meisten als Enthusiast hat Novalis (der mir übrigens dabei nicht ganz wohl macht) dieses ausgesprochen, soweit es den Dichter angeht –«

»Ganz recht!« fiel Nolten ein; »aber wenn dem wahren Dichter bei dieser besondern Anschauungsweise der Außenwelt jene holde Befremdung durchaus eigen sein muß, selbst im Falle sie sich in seinen Produktionen nicht ausdrücklich verraten sollte, so kann dagegen die Vorstellungsart des bildenden Künstlers ganz entfernt davon sein, ja sie ist es notwendig. Auch der Geist, in welchem die Griechen alles personifizierten, scheint mir völlig verschieden von demjenigen zu sein, was wir soeben besprechen. Ihre Phantasie ist mir hiefür viel zu frei, zu schön und, möcht ich sagen, viel zu wenig hypochondrisch. Ein Totes, Abgestorbenes, Fragmentarisches konnte in seiner Naturwesenheit nichts Inniges mehr für sie haben. Ich müßte mich sehr irren, oder man stößt hier wiederum auf den Unterschied von Antikem und Romantischem.«

Nun kam das Gespräch auf Theobalds neuste Arbeiten, und da es hierauf abermals eine gewisse allgemeine Wendung nehmen wollte, sagte der Baron, indem er auf die Uhr sahe: »Damit wir nun aber nicht unversehens in den unfruchtbarsten aller Dispute hineingeraten, denn wir sind auf dem Wege, was nämlich stärkender sei, ionische Luft einzuatmen, oder den süßesten Himmel, wo er den Umriß einer Madonnawange berührt, so entlassen Sie mich, damit ich meinen gewohnten Marsch antrete. Auf den Abend hoffe ich Sie bei mir zu sehn, und Sie sagen mir dann mehr von Ihrem angefangenen Narziß.« Da Nolten wußte, daß der alte Herr morgens gerne allein auf seinen Gütern herumging, so drang er seine Begleitung nicht auf. Er bat Agnesen zu einem Gang ins Gärtchen; sie befahl der Magd einige Geschäfte, ging in ihre Kammer, ein Halstuch zu holen, und Theobald folgte ihr dahin.

»Hier sieh auch einen Mädchenkram!« sagt sie, indem sie die Schublade herauszieht, wo eine Menge Kästchen, Schächtelchen, allerlei bescheidner Schmuck bunt und nett beieinanderlag. Sie nahm ein rotes Schatullchen auf, drückte es an die Brust, legte die Wange darauf und sah Theobalden zärtlich an: »Deine Briefe sind's! mein bestes Gut! Einmal hast du mich diesen Trost lange entbehren lassen, und dann, als du gefangen warst, wieder; aber gewiß, ich habe mich nicht zu beklagen.« Unserm Freund ging ein Stich durchs Herz und er erwiderte nichts. »Dein neuestes Geschenk« (es war eine kleine Uhr), »siehst du«, fuhr sie fort, indem sie eine zweite Schublade zog, »soll hier seinen Platz nehmen, es gehört ihm eine vornehme Nachbarschaft. Aber, Seele! was hast du damals gedacht? Das ist der Putz für eine Gräfin, nicht für unsereine!« (Sie zeigte einen geschmackvollen Spenzer von dunkelgrünem Sammet, reich mit goldnen Knöpfchen und zarten Ketten, statt der Litzen, besetzt; Larkens hatte ihr das Maß auf eine feine Weise abzulisten gewußt, und so das Kleidungsstück ganz fertig gesendet.) Theobald stand geblendet, vernichtet von der Großmut seines Freundes. Er spielte in Gedanken mit einem Strauß italienischer Blumen, ohne zu merken, wie jämmerlich seine Finger ihn zerknitterten; Agnes zog ihm das Bouquet sachte aus der Hand: er lächelte, die Tränen standen ihm näher. Das Kollier der Gräfin fiel ihm ein; er wagte immer noch nicht, damit hervorzurücken. Wie alles, alles ihn verletzte, quälte, entzückte! ja selbst der reizende Duft, der den Putzschränken der Mädchen so eigen zu sein pflegt, schien ihm auf einmal den Atem zu erschweren; es war Zeit, daß er sich losmachte und auf sein Zimmer ging, wo er sich elend auf den Boden warf, und allen verdrungenen Schmerzen Tür und Tor willig eröffnete.

In kurzem klopft Agnes außen: er kann nicht aufschließen, er darf sich in diesem Zustand nicht vor ihr sehen lassen. »Ich kleide mich an, mein Kind!« ruft er, und leise geht sie wieder den Gang zurück.

Nach einer Weile, da er sich gefaßt hatte, kam der Vater. »Auf ein Wort!« sagte er, als sie allein waren, »das wunderliche Ding, das Mädchen, jetzt geht es ihr im Kopf herum, sie hätte Ihnen vorhin spielen sollen; sie fürchtet sich davor und wird sich fürchten, bis es einmal überwunden ist; nun fiel's ihr ein, sie wolle sich geschwinde entschließen.« – »Nur jetzt nicht!« rief Nolten, »ich bitte Sie um Gottes willen, Papa, nur diesen Morgen nicht!« »Warum denn?« versetzte der Alte, in der Meinung, Theobald wolle nur das Mädchen geschont wissen, »wir müssen den Augenblick ergreifen, sonst machen wir sie stutzig; sie ist ganz guten Muts: ich riet ihr, zugleich in dem neuen Anzug zu erscheinen und Sie zu überraschen, das schien ihr die Aufgabe zu erleichtern, denn sie kann sich einbilden, das wäre nun die Hauptsache. Lassen Sie's zu diesmal! Sie wird gleich fertig sein und Sie kommen dann hinüber.« So mußte Nolten nachgeben, der Alte ging und rief ihn in kurzem.

Da stand sie nun wirklich! glänzend, schön, einer jungen Fürstin zu vergleichen. Innig verwundert und erfreut ward Theobald durch den Anblick. Es war ihm so fremd, sie so geschmückt zu sehen, und doch schien ein solcher Anzug ihrer einzig würdig zu sein. Ein weißes Kleid stand gar gut zu dem prächtigen Spenzer und einige Blumen zierten das Haar. Wie lebhaft empfängt er die Verschämte in seinen Arm! wie selig blickt sie ihm in die Augen!

»Nun aber lache mich nicht aus!« sprach sie, während sie sich nach der Mandoline umsah und man sich setzte. »Ich will dir erzählen, wie es eigentlich zuging, daß ich's lernte. Ich habe dich einmal, weißt du noch? an dem Abend, wo wir die Johanniskäfer in das gläserne Körbchen sammelten, da hab ich dich von ungefähr gefragt, ob es dir nicht leid wäre, daß ich so gar nichts von den hübschen Künsten verstehe, die dir so wert und wichtig sind, nicht auch ein bißchen von Musik oder eine Blume hübsch zu malen oder dergleichen, was wohl andre Mädchen können. Du sagtest: das vermissest du an deiner Braut gar nicht. Ich glaubt's auch, wie ich dir denn alles glaube, und dankte dir im Herzen für deine Liebe. Weiter sagtest du dann: die paar Jägerliedchen, die ich zuweilen sänge, die wären dir lieber als alles. Zwei Tage darauf kamen wir nach Tisch ins Pfarrhaus zu Besuch. Die älteste Tochter spielte den Flügel, und so schön, daß wir uns kaum satt hörten, du besonders. Aber eins hat mich damals verdrossen, an der jüngern, an Augusten. Du mußt dich erinnern. Lisette war kaum aufgestanden vom Klavier, so fordert die Schwester mich auf, meine Stimme auch hören zu lassen; ich ahnte nichts Unfeins von dem Mädchen und fing das nächste beste an. Aber auf einmal werd ich befangen und rot, denn Auguste hält sich ein Notenpapier vor den Mund, ihr Lachen zu verbergen; der Ton zitterte mir in der Kehle, und wie ich mich wenigstens zum letzten Verse noch ermannen will, guckt Auguste spottend durch die Rolle wie durch ein Fernrohr auf mich, daß ich vollends konfus ward und mit kleiner Stimme kaum noch zum Ende schwankte. Indes ihr andern weiter spieltet und sangt, hatt ich am Fenster genug zu tun und zu wischen mit Weinen. Später, du warst schon fort, fing mich der Vorfall an zu wurmen; ich hätte gern auch etwas gegolten, ich grämte mich innig um deinetwillen; überdem kam meine Krankheit; ich glaube noch bis auf die Stunde, ich wäre schneller genesen, hätt ich mir mit Musik manchmal die Zeit vertreiben können; indessen ging's gottlob auch so vorüber. Um diese Zeit besuchte uns der Vetter zuweilen aus der Stadt und« – (sie stockte und streifte verlegen über das Instrument hin) »nun, also dieser lehrte mich's.«

»Eins von den lustigen zuerst!« fiel der Vater, schnell zu Hülfe kommend, ein. Rasch und herzhaft fing sie nun an, mit einer Stimme, die kräftig und zart, sich doch stets lieber in die Tiefe als in die Höhe bewegte. Ihr Gesang wurde nach und nach immer einschmeichelnder, immer kecker. »Der Herr darf mich wohl ansehn!« sagte sie einmal dazwischen zu Theobald hinüber, der ihren Anblick bisher vermieden hatte. Er zeigte, als das Lied geendigt war, auf ein anderes in ihrem Notenhefte, »der Jäger« überschrieben, dessen Text ihm gefiel, und obwohl es Agnesen nicht ebenso ging, stimmte sie doch sogleich damit an.

Drei Tage Regen fort und fort,
Kein Sonnenschein zur Stunde,
Drei Tage lang kein gutes Wort
Aus meiner Liebsten Munde!

Sie trutzt mit mir und ich mit ihr,
So hat sie's haben wollen;
Mir aber nagt's am Herzen hier,
Das Schmollen und das Grollen.

Willkommen denn, des Jägers Lust,
Gewittersturm und Regen!
Fest zugeknöpft die heiße Brust,
Und jauchzend euch entgegen!

Nun sitzt sie wohl daheim und lacht,
Und scherzt mit den Geschwistern;
Ich höre in des Waldes Nacht
Die alten Blätter flüstern.

Nun sitzt sie wohl und weinet laut
Im Kämmerlein, in Sorgen;
Mir ist es wie dem Wilde traut,
In Finsternis geborgen.

Kein Hirsch und Rehlein überall!
Ein Schuß zum Zeitvertreibe!
Gesunder Knall und Widerhall
Erfrischt das Mark im Leibe. –

Doch wie der Donner nun verhallt
In Tälern in die Runde,
Ein plötzlich Weh mich überwallt,
Mir sinkt das Herz zugrunde.

Sie trutzt mit mir und ich mit ihr,
So hat sie's haben wollen,
Mir aber frißt's das Herze schier
Das Schmollen und das Grollen.

– Und auf! und nach der Liebsten Haus!
Und sie gefaßt ums Mieder!
»Drück mir die nassen Locken aus,
Und küß und hab mich wieder!«

Beide Männer klatschten lauten Beifall. Sie wollte aufstehn. »Aller guten Dinge – weißt du?« rief der Alte, »noch eines!« Also blätterte sie abermals im Heft, unschlüssig, keines war ihr recht; über dem Suchen und Wählen war der Vater aus der Stube gegangen; sie klappte das Buch zu und sprach mit Theobalden, während sie hin und wieder einen Akkord griff. Auf einmal fiel sie in ein Vorspiel ein, bedeutender als alle frühern; es drückte die tiefste rührendste Klage aus. Agnesens Blick ruhte ernst, wie unter abwesenden Gedanken, auf Nolten, bis sie sanft anhob zu singen.


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