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In Rom werden der Sonntag und die Feiertage sehr heilig gehalten. Man besucht die Kirchen, und alle Läden sind geschlossen, denn es wäre Sünde, Handel und Wandel zu treiben am Feiertage.
Nur der Papst, der sich alle Sünden selbst vergeben darf, treibt seine merkantilischen Geschäfte auch an Feiertagen, und wenn alle Magazine geschlossen bleiben, sind die Tabakhandlungen und die Läden, in denen man die Nummern zum Lotto besetzt, geöffnet. In müßiger Weile schafft der böse Geist! Und so mögen wohl grade am Feiertage die meisten Zigarren geraucht und die meisten Nummern besetzt werden.
Das Lotto ist ganz die alte Zahlenlotterie, wie sie früher auch in Deutschland das Verderben des Volkes war. Es besteht aus neunzig Nummern. Fünf davon werden gezogen. Der Spieler besetzt drei Zahlen, welche zwischen eins und neunzig liegen. Sind in den fünf gezogenen Nummern die drei vom Spieler besetzten enthalten, so gewinnt er das Große Los, viele tausend Scudi. Zwei Nummern – eine Ambe – gewinnen zwölfhundert Scudi. Eine einzelne Nummer nützt gar nicht, und man sieht, daß die Aussicht zu gewinnen sehr gering ist. Dafür ist der Vorteil der Regierung, den sie aus dieser demoralisierenden Steuer erntet, aber auch um so sichrer, und sie bietet alles auf, ihn recht groß und das Lotto recht verlockend für das Volk zu machen.
In jeder Straße sieht man über drei, vier verschiedenen Häusern Aushängeschilde mit den Worten: Prenditorio per il Lotto. Ein Tisch, auf dem die neunzig Nummern Orgelpfeifen gleich aufgestellt sind, steht auf dem Trottoir, eine Puppe mit langem Barte, im Kostüme eines Zauberers, in schwarzem Talar, blutroter Schärpe, die Wünschelrute in der Hand, beschützt ihn. Abends wird es beleuchtet, und die Lotterieläden sind noch geöffnet und besucht, tief in der Nacht, wenn alle andern längst geschlossen wurden. Da man mit ein paar Bajochi – einem Groschen – die Nummern besetzen kann, so ist dem Ärmsten die Möglichkeit gegeben, den sauer erworbenen Gewinn des Tages allabendlich auf die Gunst des Zufalls zu wagen, und leider geschieht dies nur zu oft.
Wenn der Handwerker, der Tagelöhner zehn, zwölf Stunden rastlos gearbeitet hat, und das tut er in Italien ebenso emsig und für ebenso geringen Lohn als im Norden, wenn er müde und erschöpft nach dem Ave-Maria in seine dunkle Wohnung schleicht mit dem Bewußtsein, der folgende Tag und alle kommenden werden schwere Arbeitstage sein, dann fahren den Corso entlang die prächtigen Equipagen der Reichen, die sich in der Abendkühle vom Müßiggange des Tages erholen. Vor den Cafés halten sie still. Der heimkehrende Arme sieht bei dem blendenden Lichte, das aus den erleuchteten Sälen fällt, wie die Reichen bequem daliegen in den wohlgepolsterten Wagen; wie die betreßten Diener das Eis herausbringen, wie Männer, Frauen und Kinder es mit Genuß verzehren und wie das Geld dafür auf das silberne Teebrett fällt. Es ist mehr, als er mit der Arbeit eines ganzen Tages erworben hat.
Der Italiener, auch der geringste, fühlt sich als Mensch. Er könnte auch so daliegen in der Karosse, seiner Frau und seinen Kindern würde das Eis ebenso trefflich munden, aber wenn er Tag und Nacht durcharbeitet, er kann es ihnen nicht gewähren, wenn nicht ein Gott ein Wunder tut. Mutlos, erbittert geht er heim. Seine Seele ist düster, es ist Nacht in ihm. Da blitzt ein Licht auf. Er blickt hin, er sieht den Zauberer, der die neunzig Nummern bewacht. Der Gott, der ihm helfen könnte, ist der Zufall! Das Lotto ist seine Hoffnung, und um die Möglichkeit, einst schwelgen zu können mit den Seinen, opfert er das Brot, das sie heute ernähren sollte.
Das Lotto ist eine Leidenschaft bei dem Italiener. Ich habe selbst erlebt, wie sehr es seine Seele erfüllt, und trotz dem Komischen, das in dem Zuge liegt, den ich erzählen will, kann ich nicht ohne Schauer daran denken.
Man brachte mir jeden Morgen aus einem benachbarten Café das Frühstück und setzte es im Wohnzimmer hin, während ich noch in der Schlafstube war. Ein paarmal hatte ich dem Diener, wenn ich ihn kommen hörte, eine Frage nach dem Wetter zugerufen, und er hatte sich daraus die Pflicht gemacht, mir allmorgendlich, wenn er das Teebrett auf den Tisch setzte, die interessante Wetternachricht zuzurufen, ohne daß ich danach fragte. Bald hieß es: »Bel tempo, Signora!«, bald: »E sciroccoso!«, dann wieder: »Tira vento!« – kurz, ich war immer im voraus unterrichtet von dem, was mir bevorstand. Da tritt er eines Morgens wieder ein und ruft: »Oggi si fa il giuoco!« (Heute wird das Lotto gezogen!) Wie entsetzlich bezeichnend und wie komisch zugleich dieser Ausruf war, das läßt sich kaum beschreiben.
Ein andermal sagte ich morgens scherzend zu der Frau, die den Dienst im Hause verrichtete: »Padrona, mir hat die ganze Nacht von Blumen geträumt, was bedeutet das?«
»Man muß die Smorfia nachsehen«, entgegnete sie.
»Die Smorfia? Was ist das?«
»Sie wissen nicht, was die Smorfia ist? Aber wie hilft man sich denn in Ihrem Lande beim Lotto? Die Smorfia ist ja eben das Traumbuch, nach dem man die Zahlen besetzt.«
»Haben Sie eine Smorfia?«
»Gewiß! Die hat jeder so gut wie ein Meßbuch – bisogna aver una –, man muß eine haben.«
Ich bat sie, mir das Buch zu bringen. Ihr Mann war ein Neapolitaner, dort hatte er die Smorfia gekauft; unter der Zensur und dem Schutze der neapolitanischen Regierung ist dieses Diktionär des Wahnsinns gedruckt.
Man denke sich nicht etwa ein Heftchen wie »Lieder von diesem Jahre« in Deutschland. Es ist ein vollständiger, achtzehn Bogen starker Oktavband. Der Titel lautet: »Nuova Smorfia del Giuoco del Lotto di Giuseppe Romeo di Luca«. Es war von 1839, und zwar die sechste Auflage. Das Buch ist gegen den Nachdruck gesichert. Es heißt auf dem Titelblatte: »Nach der Vorschrift der bestehenden Gesetze und der königlichen Verordnungen ist das gegenwärtige Buch unter ihren Schutz gestellt, und man wird als Nachdruck all diejenigen Kopien betrachten und ihre Herausgeber gerichtlich verfolgen, die nicht mit dem Stempel des Autors versehen sind.«
Das Buch beginnt mit einer Vorrede an die »Liebhaber« (dilettanti) des Lottospiels, in der ihnen die hohe Nützlichkeit und die durch Erfahrung bewährte Zuverlässigkeit der Smorfia bewiesen wird. Dann fängt das Diktionär an, von dessen Vollständigkeit folgender Beweis. » Abba. Abbate secolare 6 – abbate regolare 43 – abbate qualunque 38 – abbate predica 45 – abbate con sposa 44 – abbate travestito 89 – abbate al confessionale 70 – abbate benedice 47 – abbate in funzione 18 – abbate fugge 14 – abbate con stola 87 – abbate morto 31« usw.
Freilich ist ein Abbate ein Wesen, das man in Rom so häufig sieht als in Deutschland Sperlinge, aber man muß auch gestehen, daß der Verfasser der Smorfia sein Kapitel gründlich durchgearbeitet hat. In gleicher Ausführlichkeit geht das Register 180 Seiten fort.
Dann kommen:
Erstens. Die Monatstage angegeben, an denen es gut ist zu spielen.
Zweitens. Eine Kabbala der Sibylla mit Beispielen.
Drittens. Der goldene Schlüssel oder der wahre Schatz Fortunas.
Dies letztere Kapitel hebt also an: »Mittelst dieses kostbaren Buches kann ein jeder für wenig Geld große Reichtümer erlangen. Ich selbst bin davon ein leuchtendes Beispiel.«
So, in immer gleichem Wahnsinn, geht das ganze Buch vorwärts. Man glaubt das Hexen-Einmaleins des Goetheschen »Faust« zu hören, und mich überkam ein tiefer Zorn gegen die Regierungen in Italien. Nicht genug, daß sie aus fluchwerter Habsucht ihre Untertanen – die Kinder, deren Väter sie sich nennen – plündern und sie durch das Lotto in ein Verderben stürzen, dem sie sie entreißen sollten; nicht genug, daß sie durch die strengste Zensur jede Aufklärung des Volkes unmöglich machen; nein! sie geben noch Privilegien auf Bücher, die diesen Raub systematisch befördern und die Nacht des Aberglaubens noch dunkler machen. Von jedem Einfuhrartikel der andern italienischen Staaten wird, als ob es fremde Länder wären, eine Steuer erhoben. Die Staaten sind getrennt, solange es den Vorteil des Volkes betrifft. Aber zum Schaden des Volkes reichen alle italienischen Fürsten sich brüderlich die Hände, und obgleich man in Rom weder Florentiner noch Neapolitaner Seidenstoffe unbesteuert erhält, so liest man überall: »Heut wird die Lotterie für Toscana gezogen!« – »Heute bis Mitternacht kann man für Lucca setzen.« – »Heute endet das Lotto für Neapel.« Wie mag nur ein Fürst, der solches Unrecht duldet, sich mit seinem Gewissen abfinden?
Ich hatte immer daran gedacht, einmal einer Ziehung des Lotto beizuwohnen, die zu den Dingen gehört, bei welchen in Rom die Öffentlichkeit nicht gefürchtet wird. Endlich am 17. April kam es dazu.
Auf Monte Citorio liegt ein großer Palast, welcher der Regierung gehört. Er hat in der Mitte einen Balkon, der an jenem Tage mit rotem Purpur behängt und mit einigen abgenutzten Goldborten ärmlich verziert war. Ein roter Baldachin schützte ihn vor der Glut der Mittagssonne, denn das Lotto scheut, wie gesagt, das Tageslicht nicht. Mit dem zwölften Glockenschlage beginnt die Ziehung.
Eine Masse Volks war auf dem Platze versammelt, Handwerker, Carrettieri, Campagnarden, Gemüseverkäufer; aber die Mehrzahl sah zerlumpt und weniger wohlgekleidet und genährt aus, als es sonst diesen Ständen eigen ist. Alte Männer und Frauen des Bürgerstandes in schäbiger, vernachlässigter Kleidung waren in besonders großer Zahl vorhanden. Lehrburschen, Straßenbuben kletterten an dem Piedestal des Obelisken herum, der die Mitte des Platzes ziert. Ein paar Landgeistliche oder Schulmeister, wahre Typen ihres Standes, hielten sich in einiger Entfernung, sprachen anscheinend gleichmütig mit ihren Nachbarn, waren aber offenbar lebhaft bei dem Lotto beteiligt. Dazwischen gingen Knaben umher, die Kürbiskerne und grüne Mandeln verkauften, mit denen sich die Jugend die Zeit des Wartens vertrieb.
Die meisten Knaben mochten wohl nur als Zuschauer hergekommen sein. Sie amüsierten sich, wie im Theater Zeichen der Ungeduld zu geben, zu rufen, es solle anfangen, zu schelten, daß es nicht anfange. Ihnen war das Ganze ein Scherz. Die ältern Personen waren still und in wachsender Spannung. Ich kannte nur einen Menschen in der Masse. Es war der Geselle eines Schuhmachers, der in unseren Hause wohnte. Der letztere, das Muster eines braven Handwerkers, hatte ihn mir bei einem Anlasse als einen liederlichen, nichtsnutzigen Burschen bezeichnet. Von der Not solcher Menschen zieht der Staat Vorteil.
Etwa eine Viertelstunde vor zwölf Uhr trat das Lotteriedirektorium auf den Balkon. Ein Monsignore im Violettgewande, das weiße Chorhemde übergeworfen, war die Hauptperson dabei. Er stand in der Mitte, rechts und links zwei schwarzgekleidete Männer und ein Knabe in der weißen Dominikanertracht.
Endlich schlug es zwölf Uhr. Ein wiehernder Jubel der Straßenjugend begrüßte das Ereignis. Trompetenschall vom Balkone aus kündete den Anfang der Ziehung an. Komisch genug bliesen die Musikanten jene in Rom wohlbekannte Fanfare, mit der die Kunstreiter ihr Erscheinen oder die Gaukler den Anfang eines neuen Stückes einleiten.
Der Reihe nach zählte der eine schwarzgekleidete Herr dem Monsignore die neunzig Nummern zu, der sie einzeln laut ausrief, sie dem andern Schwarzen übergebend, damit er sie in den Kasten stecke. Dies dauerte eine ganze Weile. Die Ungeduld und Spannung der Menge wuchsen immer mehr. Es handelte sich ja um eine ganze Zukunft! um Verwandlung von Not und Elend in sorgenfreien Lebensgenuß!
Die neunzig Nummern lagen in dem silbernen Kasten. Der Monsignore verschloß ihn, überreichte ihn seinem Nachbar, der ihn hoch über sich in die Höhe hob und so heftig schüttelte, daß ich die Nummern darin klappern hörte. Tiefes Schweigen lagerte sich über der Menge.
Der kleine Dominikaner trat hervor. Der Monsignore machte das Zeichen des Kreuzes über ihm, denn in Rom geschieht alles im Namen des Herrn! Selbst das Lotto steht unter seinem besondern Schutze und ist hier ein christliches Institut. Der Kleine griff in den Kasten, zog die erste Nummer heraus, reichte sie dem Monsignore, und dieser rief mit tönender Stimme – einundzwanzig!
Ich wendete den Kopf nach dem Platze zurück, um die Spieler anzusehen. Fast alle hielten Zettel in den Händen, ein beklemmender, angstvoller Ernst lag auf den Gesichtern. Sie sahen gespannter aus als die Spieler, die ich sonst in Bädern an den privilegierten Banken ihr Geld verlieren sah. Dies ist natürlich. Dort pointiert die wohlerzogene Welt, die es gelernt hat, über die tiefsten Erschütterungen ihrer Seele den kühlen, aschgrauen Schleier äußerer Gleichgültigkeit zu legen. Hier spielt das Volk, und ein südliches, lebhaftes Volk, dessen Mienenspiel schon an und für sich ein heftiges, bewegtes ist.
Fünfmal wiederholte sich das Bekreuzen des Knaben, die Trompetenfanfare, das Ziehen der Nummern, die der Monsignore ausrief. Die Blicke der Spieler wurden immer düsterer. Nicht in einem Gesichte sah ich Freude oder Hoffnung; nicht in einem! Kein einziger hielt seinen Zettel jubelnd wie ein Glückspfand in die Höhe. Und als die letzte Nummer gezogen, als die Ziehung beendet war, als das Direktorium, das sicher wohlbesoldete Direktorium, schwatzend und lachend beisammen stehenblieb, da schlichen unten Hunderte mit getäuschten Hoffnungen davon, Hunderte von Betrogenen, mit deren letztem Bajocho die Betrüger sich bereichern.