Fanny Lewald
Italienisches Bilderbuch
Fanny Lewald

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Mailand

Der Dom

Es gibt Anschauungen von Gegenden und Gebäuden, die durch Kupferstiche und sonstige Bildwerke so tausendfältig verbreitet sind, daß ein jeder denkt, die Wirklichkeit müsse ihm als ein Bekanntes entgegentreten. Zu diesen Vorstellungen gehört bei den meisten Menschen der Mailänder Dom.

Unser erster Ausgang am Morgen sollte ihm gelten. Wir hatten uns ziemlich früh auf den Weg gemacht, um im Dom die Messe zu hören, aber der Reiz, in einer großen, fremden Stadt umherzuwandern, verlockte uns, bald in diese, bald in jene Straße hineinzugehen, vor diesem Laden, vor jener Anzeige stehenzubleiben, um versuchsweise sich ein Bild der Stadt einzuprägen, soweit der erste Eindruck dieses gestattet.

Der Charakter Mailands, wie er mir an jenem Morgen erschien und sich mir später immer mehr herausstellte, ist der einer ruhigen, modernen Vornehmheit, wie man sie in deutschen Residenzen findet. Man sieht weder Handel noch Gewerbe, es ist reinlich und verhältnismäßig still für die Menschenmasse, die sich in den Straßen bewegt.

In den Hauptstraßen ist die Mehrzahl der Häuser groß und stattlich, mit Höfen in der Mitte, um welche die Häuser im regelmäßigen Viereck gebaut sind. Die Gebäude sind wohlerhalten, die Fenster nach der Straße mit Vorhängen geschlossen, während wir, in das Innere hineinblickend, schöne Frauen an den Balkontüren und häusliches Treiben oder elegante Dienerschaft auf den Höfen sahen. Diese geschlossenen Fenster geben der Stadt etwas Unbelebtes, das durch die Stille erhöht wird.

Die Straßen sind mit kleinen Kieseln gepflastert, für die Fußgänger Trottoirs, für die Wagen Reihen von großen Sandsteinquadern, auf denen sie geräuschlos dahinrollen.

Einzelne Weltgeistliche und Mönche zogen an uns vorüber, Blumenverkäuferinnen nahmen ihre Plätze an den Straßenecken ein, und Frauen mit Schleiern über dem reichen, dunkeln Haar gingen teils nach dem Marktplatze, teils in eine der Kirchen zur Messe. Die Leute bewegten sich so leise und schweigend, als ob sie in einem Krankenzimmer wären.

Von dem Corso Francese, wo wir unsere erste Umschau gehalten hatten, gingen wir in einige der zahllosen engen und kurzen Straßen, die sich ganz unregelmäßig durchkreuzen und in denen die alten Häuser unabgeputzt und mit kleinen Fenstern dastehen, wie sie so seit Jahrhunderten gestanden haben mochten. Dort fühlte man sich behaglicher und freier, weil ein frisches Alltagsleben hier sein Wesen trieb. In dem Hämmern und Klopfen der Gewerbtreibenden, in dem schnellen, rüstigen Einherschreiten der Beschäftigten lebte man wieder auf und empfand sich in einer volkreichen Stadt. So verging die Zeit schnell, und es war fast Mittag geworden, als wir den Dom erreichten. Aber wie sehr überstieg dessen Größe und Schönheit alles, was ich mir davon vorgestellt hatte.

Soll ich einmal ein Bild brauchen, das einer Frau naheliegt, so möchte ich sagen, der Mailänder Dom sieht aus wie ein riesiges, überaus zartes Spitzengewebe, das die Hand eines Zauberers plötzlich zu Stein verwandelt hätte. Die Zeit hat dem Marmor, aus dem er ganz und gar erbaut ist, eine leichte, gelblichbraune Färbung gegeben, die, wie mich dünkt, seiner Schönheit zustatten kommt, weil das ursprüngliche Weiß des Marmors wohl etwas Kaltes in der Farbe gehabt haben mag. Filigranartig leicht, in schlanken, zierlichsten Arabesken steigt der schöne Bau empor, an dem jede Statue, jedes Blättchen mit der Sauberkeit gearbeitet ist, mit der man die zierlichsten Vasen von Alabaster gemacht sieht. Man fühlt, welch ein Hebel in dem Leben der Völker die Religion gewesen ist, man versteht, über welche Mittel die Kirche zu gebieten haben mußte, damit solche Bauten, deren Vollendung in der damaligen Zeit Jahrhunderte erforderte, möglich wurden.

Das Innere des Domes entspricht dem schönen Äußeren vollkommen. Er ist so groß und so frei, daß die Seele sich dadurch erhoben fühlt. Nicht ein Ziegel, nicht ein Stück Holz ist an dem ganzen Bau, alles Marmor und alles in höchster Vollendung ausgeführt. Schöne, alte Glasmalereien auf den Fenstern verbreiten ein zauberisches, mystisches Halbdunkel in dem Dome und werfen bunte Lichter auf die hellen Marmorsäulen. Es lag eine tiefe Feierlichkeit über den weiten, von den Tönen einer Messe durchzitterten Hallen.

War der Eindruck dieser Pracht für mein an protestantische Einfachheit gewöhntes Auge groß und imponierend, so war der Anblick des Treibens in der Kirche mir befremdlich.

Die Kirchen in Italien haben keine Bänke, sondern man bedient sich geflochtener Rohrstühle, die in einer Ecke des Schiffes von einem Pächter aufgestapelt und dem Publikum für die kleinste Münze vermietet werden. Dies verursacht, da jeder nicht mehr benutzte Sessel fortgeräumt wird, damit sich kein anderer ohne Bezahlung desselben bediene, ein unablässiges Hin- und Hertragen der Stühle und einen fortdauernden Lärm, denn die Beter kommen und gehen nach Belieben. Ferner entsteht dadurch eine Art von Rangverschiedenheit zwischen den Betenden, die sich einen Sessel zu mieten vermögen, und denen, die auf der Erde knien.

Aber nicht dies allein ist auffallend für den Protestanten, der die Kirche nur in sonntäglicher Feiertagskleidung besucht, zwei Stunden der Andacht weihet und sich dann mit seinem äußeren Gottesdienste bis zur nächsten Woche abgefunden zu haben meint. Hier traten Männer aus dem Volke in der Arbeitsjacke herein, das Handwerkszeug in den Händen, um das Gebet in aller Eile zu verrichten. Frauen aus dem Volke stellten die Vorräte an Gemüse und Lebensmitteln, die sie vom Markte gebracht hatten, neben sich zur Erde, um sich niederzuwerfen und ein paar Kreuze zu schlagen. Daneben kniete ein hübscher, eleganter Abbate mitten in dem Schiffe des Domes auf dem Marmorboden, eifrig betend und anscheinend der Messe folgend, während er mehrmals eine kleine, sehr zierliche Uhr aus der Soutane nahm und, wenn er diese zu Rate gezogen hatte, gespannt nach der Tür der Kirche blickte. Damen, die ihm zunächst auf den Stühlen saßen oder sie umgelegt zum Knien benutzten, sahen ihm verstohlen und lächelnd zu. Zwei Stutzer mit wohlgepflegten Bärten, eine Wolke von süßlichem Parfümduft um sich verbreitend, nahmen auf Stühlen dicht vor mir Platz und plauderten französisch ziemlich laut über Frauen, denen sie am Tage vorher begegnet waren. Ein großer Hund lagerte sich still zu den Füßen des einen.

Dazwischen klang das Glöcklein, der Diakonus intonierte die Messe, die Responsorien gingen ruhig ihren Gang, und Chorknaben schwangen die Weihrauchbecken, aus denen das feine Arom durch die Kirche schwebte.

Endlich, nachdem die Messe beendet war, trat ein junger, schöner Priester auf die Kanzel, eine Predigt zu halten, denn es war das Fest eines Heiligen. Während er sich räusperte, rückte das Auditorium die Stühle unten näher zusammen. Alle Blicke hoben sich gespannt und erwartungsvoll zu dem Geistlichen empor, der mit zufriedener Heiterkeit, ohne jenen Anschein pflichtmäßiger Sammlung und Innerlichkeit, den unsere Prediger, wenn sie die Kanzel besteigen, allsonntäglich nach dem Frühstück annehmen, auf seine zahlreichen Zuhörer herabblickte. Der Priesterornat, das schwarze Gewand, der weiße Meßrock und die dunkelrote Stola standen ihm vortrefflich. Er gefiel sich und den anderen.

Mit schöner Bruststimme und edler Gestikulation sprach er von den Versuchungen zur Sünde. La tempestà del core, der Sturm des Herzens, spielte eine Hauptrolle in dem ersten Teile der Predigt. Er schilderte, wie die kleinste Abweichung vom Pfade der Pflicht zu den furchtbarsten Taten führen könne, wie Ehebruch und Mord oft die Folgen eines augenblicklichen Leichtsinnes wären. Er ermahnte im zweiten Teile die Zuhörer, streng über sich zu wachen, um sich vor dem ersten Schritte auf dem bösen Pfade zu hüten und nicht zu verzweifeln, wenn sie schon Sünde auf ihr Gewissen geladen hätten, sondern sich an Christus zu wenden, der den Sündern zurufe: Kehret zu mir zurück, denn Buße und Reue erwirken Gnade. Die Predigt war edel in der Ausdrucksweise, mild und verständlich in der Gesinnung und hielt sich mehr an Tatsachen als an abstrakte Begriffe. Diese Art zu predigen, die ich später in Italien fast bei allen katholischen Geistlichen gefunden habe, ist viel wirksamer auf das Gemüt und für das Verständnis der großen Masse als die theoretische Abstraktion, zu der unsere Prediger die Menschen zu erheben wähnen.

Trotzdem hatte die Art und Weise des jungen Mannes etwas, das unablässig an Goethes »Ein Komödiant könnt einen Pfarrer lehren« erinnerte. Wenn er von dem Sturm des Herzens sprach, wenn er mit emporgehobenen Händen, Abscheu in allen Mienen, von der Verlockung der Sünde sich abwendete und erzählte, wie mild Christus die Verlorenen zu sich zurückrufe, so klang das »Ritorna! Ritorna da me!« so süß und schmeichelnd wie das Liebesflöten irgendeines Primo Tenore in irgendeiner Arie, die, statt wie die Predigt mit Justitia divina, mit Gloria e vittoria oder mit einem pathetischen Adio! schließt.

Dazwischen kamen lateinische Zitate aus dem heiligen Augustin oder Bernardin, die den Hörern durch ihre Unverständlichkeit sicher ebenso imposant waren als mir, und mit der Verweisung auf die Justitia divina schloß denn die Predigt auch. Der Geistliche nahm sein Barett grüßend vom Haupte, verließ die Kanzel und wir den Dom, während die Gemeinde sich erhob und einzelne plaudernd wie an jedem anderen öffentlichen Orte in Gruppen zusammentraten.

Im Herausgehen sahen wir an entfernten Pfeilern hie und da einen Mann oder eine Frau in einsamer Andacht hingeworfen ihr Gebet verrichten. Dort mochte sich manch stiller Schmerz, manch ungehörte Klage dem Himmel anvertrauen. Und leise schritten wir an ihnen vorüber mitten unter den geputzten Herren und Damen, die kaum jene Betenden bemerkten, so sehr war die Mehrzahl dem sonnigen Tage zugewendet, der seitwärts durch die schweren, dickgepolsterten Ledervorhänge vor den geöffneten Türen in den Dom hineinguckte.


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