Fanny Lewald
Italienisches Bilderbuch
Fanny Lewald

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Die Christnacht

Es war der 24. Dezember, als mich ein Spaziergang am Nachmittage nach dem Lateran führte und ich auf dem schönen Vestibüle stehenblieb, die Gegend und die Szenen vor mir zu betrachten.

Zwischen den mittelalterlichen Stadtmauern öffnete sich die Porta San Giovanni, an die ein Stück der alten Wasserleitungen sich lehnt, reich überwuchert von den großen Blättern des glänzend grünen Efeus. Aus den benachbarten Villen zeichneten dunkle, hohe Zypressen und breite Pinien sich an dem klaren Himmel ab, während in langen Linien sich jenseits der Mauern die weite, bräunliche Ebene der Campagna hinzog und die weichen Formen der Albanerberge mit den schneebedeckten Gipfeln, in glühendes Violett getaucht, die sonnenhelle Winterlandschaft abschlossen.

Zur Rechten des Lateran, in der Vorhalle des Battisterio, rutschten Landleute mit Frauen und Kindern, alle in italienischer Nationaltracht, die heilige Treppe hinan, die man nur kniend erklimmen darf, weil es dieselbe ist, welche der Heiland zum Gerichtssaal im Hause des Pilatus hinauf- und hinabgestiegen ist. Bürgerfrauen aus der Stadt, ein paar Mönche und ein Abbate, in einen großen Mantel gehüllt, befanden sich unter den Büßenden.

Eine Prozession der Grauen Schwestern zog vorüber, welche den Dienst in den Fieberhospitälern versehen, und mußte haltmachen, weil die Post unter Karabinierieskorte aus Neapel kam. An einer Osterie standen Pifferari vor einem Madonnenbilde und bliesen den Weihnachtsgruß.

Die Pifferari sind Hirten aus der Campagna, welche um Weihnachten nach Rom kommen und auf Dudelsäcken und Schalmeien vor jedem Madonnenbilde eine wundersam rührende, uralte Melodie blasen. Sie sagen, es sei der Gesang, mit dem die Hirten die Geburt des Christkindes begrüßten. Von früh bis spät kann man die Pifferari sehen, Greise, Männer und Knaben, in kurze, braune Tuchmäntel gehüllt, den spitzen Hut mit Bändern und Federn geziert, die Füße mit Sandalen bekleidet, ihre Melodien spielend hier und dort, wie jetzt am Lateran, obgleich eine scharfe Tramontane es empfindlich kalt machte.

Dazwischen fuhren zweirädrige Karren, mit Öl- und Weinfässern beladen, geführt von den Campagnarden in Kitteln von braunem Ziegenfell, rote Gürtel um die Hüften und die steifen Ledergamaschen mit zehn, zwölf blanken Schnallen befestigt. Mönche von allen Nationen, an ihren Physiognomien deutlich zu unterscheiden, wandelten langsam vorüber; zwischen ihnen, immer zu Paaren, die schwarzröckigen Jesuiten. Neben einer eleganten Engländerin ging ein Mann im schottischen Plaid; ein greiser Kardinal mit rotem Mantel und rotem Hut wankte hinfällig einher, begleitet von seinem Kaplan und mehreren Dienern in Livree, denen die rote, federgeschmückte Staatskarosse folgte. Kinder und Frauen drängten sich zu ihm, seine Hand zu küssen und seinen Segen zu empfangen, den er im Hinschreiten mit edler Handbewegung erteilte.

Weiter hinab, als wir den Weg nach Santa Maria Maggiore einschlugen, um heimzukehren, saß eine prächtige Römerin vor ihrer Türe, nähend beim letzten Tageslichte, während eine andere Frau ihr das reiche Haar in Zöpfe flocht. Ein Bettelmönch, ein Kapuziner, stand mit der Tabaksdose in der Hand neben ihnen, und alle drei schwatzten quer über die Straße mit einem friggitore, Höker, der auf eisernem Ofen Kastanien briet und Brokkoli siedete.

Immer neue Bilder, immer neue malerische Szenen boten sich uns dar, bis die Dunkelheit sie unsichtbar machte und wir unsere Wohnung erreichten zu der Stunde, in der man in Deutschland von den Türmen die Christnacht einläutet.

Alle Erinnerungen glücklicher Kinderjahre tauchten in mir auf; Sehnsucht nach dem Vaterhause und den Meinen, der ganze Zauber der Christnachtspoesie, wie ich ihn als Kind empfunden hatte, wurden wieder in mir wach. Ich hörte wieder die Melodie, welche die Stadtmusikanten am Weihnachtsabend in den Straßen von Königsberg blasen, ich saß wieder mit meinen Geschwistern in dem kleinen Stübchen des Entresol und harrte in freudiger und doch wehmütiger Spannung auf den Laut der Klingel, die uns hinabrief zu dem funkelnden Weihnachtsbaume in dem festlich geschmückten Wohnzimmer.

Ein Teil der Meinen lebte noch in dem Vaterhause, wir andern waren zerstreut an fernen Orten, und ganz allein feierte ich mein Christfest in Rom in tiefster Erschütterung der Seele.

In einer befreundeten deutschen Familie war neben der Kinderfreude auch für die Großen gesorgt. Der mit vergoldeten Orangen geschmückte Lorbeerbaum hatte noch außerdem Geschenke für alt und jung, und man blieb traulich bis gegen elf Uhr beisammen, um dann in die Kirchen zu fahren, in denen die Gläubigen die Nacht zubringen.

Es war uns geraten worden, zuerst San Luigi de' Francesi zu besuchen. Brennende Pechfackeln flammten auf der Vorhalle, die Kirche war tageshell erleuchtet, so daß man den Glanz nach der Dunkelheit der Straßen fast unerträglich fand. Ich war mit einer liebenswürdigen Russin und ihrem Bruder hingefahren, der das offenste Herz hat für das Volk und seine Not.

Engländer in schwarzem Frack und weißer Krawatte, die festlich gekleideten Ladies am Arme, wanderten bei dem Takte der heitern Musik, sich rücksichtslos Platz schaffend, auf und nieder, als wären sie in einem Ballsaale. Sie waren unbequem für die italienischen Frauen, deren viele auf den Stühlen saßen und Gebetbücher in den Händen hielten, obgleich hier von Andacht nicht die Rede sein konnte. Ein lautes Schwirren des buntesten Sprachengewirres übertönte fast die Musik. Die Lorgnetten der umherwandernden Männer waren in unausgesetzter Beschäftigung, und achtlos stieß man das Volk, das kniend auf der Erde lag, und die Krüppel, welche sich vorsichtig an die Pfeiler zurückgezogen hatten. Die Kirche war in einen Salon verwandelt, in dem einmal der Abwechslung wegen die vornehme Gesellschaft bei Kirchenmusik kokettierte. Mein russischer Freund sah es mit ebensolchem Widerwillen als ich selbst. »Ce maudit grand monde a tout envahi«, sagte er, »il ne laisse plus rien aux pauvres, pas même la petite place dans son eglise, pour y prier en repos!«

Wir sehnten uns fort aus dem Gewühl, aus dem Lichtglanz und der heißen Atmosphäre und fuhren hinauf nach Aracoeli, der Kirche, welche hoch oben auf dem Kapitolinischen Hügel gelegen ist. Ein dämmriges Halbdunkel empfing uns und schwebte geheimnisvoll in dem mächtigen Schiffe der Kirche. Sie war kaum zur Hälfte gefüllt. An den verschieden geformten Säulen, die das Gewölbe tragen und aus verschiedenen heidnischen Tempeln herrühren, brannten einzelne Lampen. Am Hochaltare ward eine Vigilie gelesen.

Landleute, ganze Familien, von den Großeltern abwärts bis zu dem Säugling, der an der Brust seiner Mutter schlummerte, lagen um die Säulen umher. Die Häupter der Kinder waren niedergesunken zum Schlafe; viele der Erwachsenen knieten neben den Kleinen, den Rosenkranz betend, oder saßen schweigend da in stillem Sinnen. Eine feierliche Ruhe herrschte in der Kirche, die Glocke des Gottesdienstes klang hell durch das Gewölbe, und bald darauf schlug die Uhr des Klosters die zwölfte Stunde.

Der Morgen des Christfestes begann, man feierte den Tag, an dem es Licht geworden auf Erden, an dem der Heiland erschienen war, der mit seinem Tode die Wahrheit der Erlösung des Geistes von jeder Knechtschaft besiegeln wollte.

An einem der Pfeiler in dem dunkelsten Teile der Kirche hing, hell beleuchtet von einer kleinen Lampe, ein schlichtes Christusbild, das blutende Herz auf dem weißen Gewande, und davor kniete ein armer Mann in Lumpen gehüllt und die schlanke, hohe, adlige Gestalt einer uns befreundeten vornehmen Frau, deren Leben unsägliche Schmerzen zerrüttet. Wir blickten uns an, und jeder von uns hatte ein blutendes Herz in der Brust, und jeder hatte zu beten um Kraft, das Leben zu leben, um einen Stern der Überzeugung, das Dunkel für uns zu erhellen.


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