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Wir hatten uns aufgemacht, nach der Brücke Carignano zu gehen, welche, über eine Felsschlucht gebaut, eine fahrbare Straße, zwei Stadtteile miteinander verbindet. An ihrem Ende liegt auf einem freien Platze die Kirche Carignano.
Der Abwechselung wegen wählten wir statt des gewöhnlichen Weges durch die Stadt einen Umweg durch die kleinen Straßen am Freihafen, in denen sich auch der Fischmarkt befindet. Einer unserer Gefährten, der als Zoologe berühmte Staatsrat von Baer von der Petersburger Akademie, war in diesem Quartier wohlbekannt, und ich hatte ihn schon früher hinbegleitet, um mir die Seefische anzusehen. Ein Fischmarkt am Meere ist eine Wassermenagerie und als solche höchlich interessant, weil man sie nicht überall sehen kann.
Da hängt neben dem dicken, ungeschlachten Thunfisch der schlankere Schwertfisch, der wohl auch klüger sein muß als jener; denn Fischer auf Ischia haben mir später erzählt, daß die Züge der Thunfische immer von einem Schwertfisch angeführt werden und daß man deshalb sich in der Zeit der Wanderung sehr hütet, einen Schwertfisch zu fangen. Geschieht es dennoch, so wirft man ihn in das Meer zurück, um den Thunfischen, die folgen könnten, nicht ihren Führer und die Direktion zu nehmen. Delphine und Haie, Seeteufel und Zitteraale liegen nebeneinander, und wie die Schlächter in den Schlachtbänken, mit großen Messern und Gewichten, hantieren und tranchieren die Fischhändler an den gewaltigen Tieren umher.
Neben der kolossalen Massenhaftigkeit dieser Thun- und Schwertfische nehmen sich die weichen, gallertartigen Seetiere noch unorganischer und widriger aus. Der Tintenfisch gleicht vollkommen einem Klumpen von Eingeweiden und scheint sowenig konsistent als die Mollusken, obgleich er geröstet ein schmackhaftes Fleisch und auch im frischen Zustande eine gewisse Festigkeit hat. Manche Seetiere sehen wie ganz kleine Vogellebern aus; andere sind nur ein Klümpchen Gallert mit einer Röhre zum Einatmen und Ausspeien des Wassers. Man begreift nicht, daß sie nicht schon bei dem Fangen und bei der Berührung zergehen. Dies ganze unförmliche, unorganische Wesen zuckt und zappelt durcheinander, lebt und genießt auf seine Weise des Geschaffenseins. Man staunt es an, bewundert es, erschrickt davor und erfreut sich nach diesem unschönen Anblick doppelt an der Tüchtigkeit der großen, braunen Hummern, der Schaltiere, Austern und Muscheln, welche auf großen Wein- und Kukuzzenblättern sauber ausgebreitet daliegen und von den Italienern mit dem gemeinsamen Namen frutti di mare – Seefrüchte – bezeichnet werden.
Knaben, welche den Staatsrat von Baer hier täglich gesehen und ihm verschiedene Seetiere für seine zoologischen Forschungen geliefert hatten, umringten uns gleich und priesen mit italienischer Lebhaftigkeit ihre frischen Waren an. Sie wußten vollkommen gut, was er brauchen könne, was nicht; sie gaben die verständigste Auskunft über die Dauerbarkeit der einzelnen Spezies und waren wie alle Italiener so anstellig, brauchbar und freundlich im Dienen, daß es eine Lust war.
Durch die volkreichen, von den ärmeren Klassen bewohnten östlichen Teile der Stadt geht der Weg nach der Brücke Carignano, die uns durch ihre Bauart nicht sehr überraschte, da wir schon in Lausanne den wundervollen Brückenbau gesehen hatten, der in drei übereinanderliegenden Etagen an drei verschiedenen Höhenpunkten der Berge Fahrstraßen zwischen den beiden Stadtteilen bildet.
Die Kirche Carignano ist von der Familie Sauli gebaut infolge eines Streites mit den Fieschi, die ganz in der Nähe eine kleinere Kirche besaßen, welche ebenfalls noch existiert. Die Fieschi hatten nämlich einer Tochter aus dem Hause Sauli den Weg durch ihr Terrain nach ihrer Kirche verweigert, in der bis dahin auch die Familie Sauli ihren Gottesdienst verrichtet hatte. Tief beleidigt kehrte die junge Dame zu den Ihrigen zurück, klagte die ihr widerfahrene Kränkung, und noch an dem Tage gelobte ihr Vater, eine Kirche zu bauen, die durch Größe und Pracht das Gotteshaus der Fieschi beschämen solle.
Der Plan ward in möglichst kurzer Zeit ausgeführt, und jetzt ragt die Kirche Carignano mit ihrer großen Kuppel, die von vier kleineren umgeben ist, hoch am östlichen Ende der Stadt über dem Meere empor. Es ist einer der Punkte, von denen man die schönste Aussicht auf Genua hat. Von der Galerie des mittlern Turmes sieht man zur Rechten die Umgebung der Stadt mit unzähligen Villen und kleinen Häusern besäet; vor uns erstreckt sich Genua in seiner amphitheatralischen Schönheit, und zur Rechten wogte das tiefblaue Meer, mit leisem Wellenschlag das Ufer berührend.
Wir blieben oben, bis die Sonne niedergesunken war und das glühende Violett an den Felsen von Portofino, mondbeleuchtet, in bläuliches Silbergrau verblich. In den Leuchttürmen brannten die wechselnden Lichtflammen auf, hell strahlend durch das schnell eingebrochene Dunkel der Nacht; und ich mußte an das Dunkel denken, das über die hingehenden Menschengeschlechter seine grauen Schleier der Vergessenheit legt, aus denen auch nur einzelne Flammen und Lichter strahlend hervortauchen, zu denen die Nachwelt verehrend die Blicke wendet, sich nach ihnen zu richten und an ihnen zu erbauen.
Als wir durch die dunkle, nur von einzelnen Mondstrahlen erleuchtete Kirche zurückkehrten, in der bei unserer Ankunft Gottesdienst gewesen, war nur der Pförtner noch darin, eine stille, sanfte Greisengestalt. Er machte für meine Seele den Vermittler zwischen der traumstillen Einsamkeit auf jener Höhe und dem rüstigen Menschenverkehr des Alltagslebens, das sich in den Straßen bewegte. Er sah so ruhig und friedlich aus, daß man hätte versucht sein können, ihn um seinen Segen zu bitten. Ruhe und Friede sind so selten geworden unter den Menschen, daß man ihren bloßen Anblick wie einen Talisman betrachtet, unter dessen Schutz man alle wilden Wünsche, alles heiße Kämpfen der eigenen Seele stellen möchte.
Auf dem Wege nach dem öffentlichen Garten, dem Giardino Pubblico all'Acquasola, begegneten uns Scharen junger Männer in weißem Pantalon, einer leichten Jacke von Nanking und Blumensträuße auf den runden Strohhüten. Sie hatten Tambourins mit sich und zogen singend an uns vorüber. Wir fragten, wer sie wären. »Fröhliche Brüderschaften, die vom Tanze heimkehren«, antwortete man uns. Frauen waren nicht dabei; sie leben, wie mir scheint, auch schon in Oberitalien viel weniger auf den Straßen als bei uns und halten sich, ein lebhaftes Augen- und Fächerspiel abgerechnet, in einer sehr anständigen Weise.
Nachdem wir auf der Promenade umherwandernd uns der Musik erfreut, die dort allabendlich zu hören ist, und vor dem einzigen Pavillon der Promenade unser Eis genossen hatten, begegneten wir auf der Heimkehr noch einigen Nachzüglern der fröhlichen Brüderschaft. Zwei von ihnen standen unter dem Schatten eines Baumes, der aus einer Villa seine Äste über die Straße hinüberwiegte. Sie hatten die Köpfe gegeneinandergeneigt, um nicht erkannt zu werden, und sangen, der eine mit einer kräftigen Baßstimme, der andere durch die Fistel, alte Kirchenmelodien, Opernpassagen und Volkslieder, alles durcheinander, mit einem Texte, den sie augenblicklich verabredeten. Soweit ich das Patois erraten konnte, schienen die Worte harmlose Scherze und Liebeständeleien, kleine Zankszenen und dergleichen zu enthalten. Das Volk stand lachend umher, in den Pausen lachten die Sänger selbst und fingen dann immer wieder von neuem an.
In ihrer Nähe saß, in weiße Tücher ganz und gar verhüllt, eine bettelnde Frauengestalt, die ihre kleine Blechbüchse den Vorübergehenden entgegenhielt. Es hatte etwas tief Ergreifendes, daß die Not, zum Fordern gezwungen, sich scheu verbirgt neben diesem Jubel der Glücklichern. Auch ging fast keiner von der fröhlichen Brüderschaft an der verhüllten Frauengestalt vorüber, ohne ihr eine Münze zukommen zu lassen, und diese Menschlichkeit söhnte mit dem Kontraste zwischen Not und Überfluß, zwischen Schmerz und Lust denn doch ein wenig aus und löste die Dissonanz in ein milderes Verklingen auf.