Fanny Lewald
Italienisches Bilderbuch
Fanny Lewald

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Der Goethesche »Faust« als Ballett auf der Scala

Ich habe gesagt, daß uns die Unachtsamkeit und das Sprechen des Publikums während der Oper auffallend gewesen sei, noch mehr aber befremdete uns die tiefe Stille, welche gleich nach der Introduktion des Balletts eintrat. Kein Laut regte sich, es war viel stiller als in der Kirche und aller Augen, namentlich aber die Perspektive der Männer, mit wirklicher Inbrunst auf die Bühne gerichtet, als werde dort eine neue Verkündigung vor sich gehen. Ich habe Italiener nie so aufmerksam gesehen, so von dem Gegenstande ganz und gar gefesselt als während des Balletts. Es ist mir vorgekommen, als habe die Leidenschaft für dieses dem Interesse für Musik wesentlichen Abbruch getan.

Das Ballett, ganz nach der Idee des Goetheschen »Faust« geschaffen, trug den Namen »Cardenuto« und hatte einen Signor Antonio Montirini zum Verfasser.

Daß das Trauerspiel dabei eine Umwandlung erleiden mußte, war in doppelter Hinsicht notwendig. Einmal liegt den Italienern der Gedanke fern, daß jemand sich so unglücklich fühlen könne als Faust, nur weil er das All in seiner Gesamtheit nicht erfassen, weil er den Rätseln des Daseins nicht die Lösung abgewinnen kann. Den Völkern des glücklichen, heiteren Südens sind jene Qualen ziemlich fremd, die, von innerem Zerwürfnisse ausgehend, gleichgültig machen gegen den Genuß der irdischen Erscheinungen. Die Idee eines Goetheschen »Faust« konnte nur in Deutschland erwachsen, in dem tiefsinnigen, träumerischen Lande, in dem so viele vor Denken und Sehnen das Genießen und Leben vergessen.

Zweitens bot in technisch-theatralischer Hinsicht der Goethesche »Faust« für das Ballett nicht genug Gelegenheit, theatralische Pracht zu entwickeln. In Fausts bescheidenem Studierzimmer, in Gretchens stillem Gemache konnte nicht all der Glanz entfaltet werden, den das Ballett erfordert. So entstand folgende Umwandlung.

Der geisteskräftige, männliche Faust ward in einen alten, hinfälligen Bildhauer Cardenuto verwandelt, nach dem das Ballett eben heißt. Cardenuto, verlassen von der Fähigkeit zu schaffen, kann in sich das Ideal des Schönen nicht mehr finden. Da zeigt ihm der Teufel, den er beschwört, in einer Vision Helena, Tochter der Prinzessin von Magdeburg, die von der Mutter dem Vormos, einem Verwandten des Herzogs von Braunschweig, versprochen und ihm bereits verlobt ist. Cardenuto-Faust findet in ihr das Ideal wieder, entbrennt in Liebe für das schöne Mädchen und unterzeichnet um den Preis ihres Besitzes den Pakt, welchen Mephisto – hier Mugraby, Genius des Bösen, genannt – ihm vorlegt. Der alte, hinfällige Bildhauer wird in den schönsten Ritter verwandelt, geht an den Hof der Fürstin von Magdeburg, der glücklicherweise in Deutschland nicht als zweiunddreißigster souveräner Hof vorhanden ist, verrichtet Wunder der Tapferkeit, gewinnt die Liebe der Helena und begehrt sie zur Frau.

Nun tritt aber Vormos, der Verlobte Helenas, auf und mit ihm ein Bruder derselben, der Prinz Adolfo, die beide von der neuen Verlobung nichts hören wollen. Auch der alte Braunschweiger und die Magdeburger Prinzessinmutter verlangen, daß Helena ihr Wort halte, was von den ehrenwerten deutschen Verwandten sehr recht ist.

Indes Cardenuto und Helena finden dies nicht. Es kommt zu einem Zweikampfe zwischen Cardenuto und dem Bruder Adolfo, in dem dieser erstochen wird. Der Mord des Sohnes macht die Mutter noch abgeneigter und vermehrt die Hindernisse; da gibt Mugraby dem Cardenuto ein Fläschchen Gift, mit dem Helena die Mutter tötet.

Helena erscheint im Kerker, Cardenuto und Mugraby kommen, sie zu befreien, aber sie wirft sich vor der Tür einer Kapelle nieder, welche sich im Kerker befindet, und erwartet das Gericht. Mugraby führt den Cardenuto fort, und zum Schlusse erscheint Helena im himmelblauen bengalischen Feuer in den Wolken, während der arme Cardenuto zu ebener Erde in brennendem Feuerrot mit den Dämonen ringt, die ihn in die Unterwelt hinabziehen. So geschieht diesen und der Kirche ihr Recht, und kaum der Goethesche Faust hat sich zu beklagen, denn das Ballett ist vortrefflich arrangiert.

Es beginnt mit Mephisto-Mugrabys Besuch auf dem Blocksberge, wo die sieben freien Künste, schöne griechische Göttergestalten, mit den höllischen Mächten um die Seele des armen Cardenuto ringen. Dies ist ein wahrhaft schöner und poetischer Gedanke, daß die Kunst als Bewahrung vor der Sünde dem bösen Prinzip entgegengesetzt wird. Cardenuto, eine jämmerliche Eremitengestalt, wird, während Sangrida den Verjüngungstrank braut, von den verschiedenen Parteien handgreiflich hin und her gezogen. Es geht sehr stürmisch in der Versammlung zu, und man bekommt einen Begriff, wie hoch eine menschliche Seele anzuschlagen sei, wenn man sieht, wie viele Götter und Dämonen eifrig darum ringen.

Mitten in der Verwirrung des Kampfes erscheint in einer Felsengrotte Helena in arkadischer Kleidung, von ihren Gespielinnen umgeben, und verschwindet, sobald Cardenuto sie erblickt hat. Von Sehnsucht entbrannt, kehrt er vom Blocksberge in sein einsames Gemach zurück, in dem ein altes Spinett und ein paar Büsten sein bisheriges, der Kunst geweihtes Leben andeuten. Alle freien Künste und Mugraby besuchen ihn nochmals und plädieren für ihre Sache. Mugraby siegt. Die Büsten werden umgeworfen, die Künste entfliehen händeringend, der Bildhauer trinkt den Verjüngungstrank, die Kutte fällt, der neue Ritter ist da, und Mugraby entführt ihn, »damit er, losgebunden, frei, erfahre, was das Leben sei«.

Dieser erste Teil des Balletts scheint mir ein Muster von Szenerie zu sein. Schnell und immer neu wechseln die Bilder, Szenen und Gruppierungen auf dem Blocksberge. Man ist kaum imstande, ein Bild festzuhalten, man kommt zu keiner Überlegung. Wie im Kaleidoskop verschwimmen die Erscheinungen ineinander, und dem Zuschauer bleibt nur die Empfindung, er habe Unglaubbares, Märchenhaftes gesehen. Das ist wohlberechnet und von poetischer Wirkung. Nur indem man die Phantasie verwirrt, bringt man sie dahin, das Unglaubliche anzunehmen, zu glauben, und einmal bis zu diesem Grade erregt, füllt sie selbsttätig alle Lücken aus, welche die Darstellung lassen könnte. Hier benutzt ein Priester der Kunst die Regel, welche alle Priester aller Religionen seit Menschengedenken mit so glücklichem Erfolge angewendet haben.

Die Prachtaufzüge des Hofhaltes, die Märsche, die Feste ließen nichts zu wünschen übrig, und Helena und Mugraby waren vortrefflich. Ich glaube nicht, daß es möglich sei, den Mephisto durch bloße Pantomime und überhaupt ihn besser darzustellen, als es Signor Effisio Catte tat, der ihn spielte. Unsere berühmtesten Darsteller des Mephisto hätten viel von ihm lernen können. Er hatte ganz unübertreffliche Momente. Eine Szene, in der Helena voll heißer Liebe dem Cardenuto in die Arme sinken und doch ihn fliehen möchte, war von so vollendeter, ergreifender Wirkung, wie man sie dem Ballett kaum zutrauen dürfte. Freilich kam die schöne, weibliche Anmut der Signora Galetti, die ein echt mädchenhaftes Gretchen darstellte, dem Mugraby sehr zu Hilfe.

Als Cardenuto sehnsuchtsvoll die Arme nach Helena ausbreitet und diese voll Liebe und Gewissensangst bald ihn meiden, bald ihm ans Herz stürzen und endlich dennoch im letzten, schweren Siege der Tugend ihn fliehen will, da vertritt ihr Mugraby durch eine fast unmerkliche Wendung den Ausweg und zeigt ihr den verzweifelnden Geliebten. Sie bleibt erschreckt, gefesselt stehen; ein neuer Kampf beginnt in ihr. Immer näher tritt Mugraby an sie heran; um diesem zu entgehen, wendet sie sich dem Geliebten wieder zu, und als nun der volle Strahl seiner liebeflehenden Blicke sie trifft, als er ihr nochmals seine Augen öffnet und sie festgebannt steht zwischen dem Geliebten und dem Bösen, da wirft sie sich mit einer Fülle des Gefühls, mit einer Hingebung an Cardenutos Brust, die als der vollendete Triumph weiblicher Liebe selbst Goethe zufriedengestellt haben würde. Über der Gruppe der Liebenden, die einen Augenblick in seliger Vergessenheit Brust an Brust ruhen, breitet Mugraby satanisch lächelnd die Hände aus, wie ein Stoßvogel wollüstig schwebend sich in der Luft erhält über dem Opfer, das ihm nicht mehr entgehen kann. Es war meisterhaft aufgeführt und konnte in der Tat eine lebhafte Vorstellung von den Absichten des deutschen Dichters geben.

Das Entzücken über das Ballett und Signora Galetti, die Aufmerksamkeit und Spannung des Publikums zu schildern ist unmöglich. Die tiefste Stille ward oft durch einen Beifallssturm für Augenblicke unterbrochen, wie mein Ohr ihn noch nie gehört hatte. Von Zeit zu Zeit rang sich ein »Brava«, ein »Bellissima!« für Signora Galetti aus dem chaotischen Tonmeere auftauchend hervor. Zuletzt aber schien es, als hätten sich alle Seelenkräfte in den Augen konzentriert, man war zu entzückt, um noch klatschen oder rufen zu können, und ich hörte nur noch einzelne »Ah!« der höchsten genießenden Seligkeit aus männlichen Kehlen ertönen. Es war mir eine vollkommen fremde Erscheinung, dieser Grad der Ekstase; indes fand ich selbst das Mädchen so poetisch und reizend, daß ich dadurch einen Anknüpfungspunkt für das Entzücken der anderen hatte.

Es wäre zu wünschen, daß dies Ballett seinen Weg auch auf unsere Bühnen fände, wenn es so ausgezeichnete Darsteller dafür gäbe als in Mailand. Mich dünkt, die eifrigsten Verehrer Goethes würden sich davon angezogen und in ihrer Verehrung für dies Meisterwerk unseres größten Dichters nicht verletzt fühlen. Mir wenigstens war diese Umwandlung viel erfreulicher und weniger störend als die melodramatische Behandlung des »Faust«, die in Deutschland so sehr beliebt und doch eigentlich so geschmacklos ist, weil die Musik in den großen Monologen durch die Notwendigkeit, sich ihr anzupassen, den Schauspieler oder Deklamator zwingt, den Rhythmus der vollendet schönen Sprache und selbst den Geist des Vortrags bis zu gewissem Grade zu opfern.

Hier im Ballett versucht eine Kunst, eine untergeordnete Kunst, wenn man den Tanz, die Pantomime, so nennen darf, durch die beschränkten Mittel, welche ihr zu Gebote stehen, den Eindruck eines vollendeten poetischen Kunstwerkes wiederzugeben. Dort, bei der melodramatischen Behandlung des »Faust«, übernimmt die Musik, eine ganz selbständige Kunst, ein Amt, für das es in diesem Falle keine innere Notwendigkeit gibt.

Sie will ein Kunstwerk ergänzen, verklären, heben, das in sich vollendet ist und dieser Hilfe gar nicht bedarf, weil es ohne sie in voller Verklärung strahlt. Die Radziwillsche Bearbeitung des »Faust«, soweit sie über die Komposition der Chöre und Gesänge hinausgeht, ist mindestens ein Pleonasmus und als solcher ein Fehler gegen den guten Geschmack. Die Musik hat die Macht, in uns eine Welt des Gefühls anzuregen. Der »Faust«, dies Produkt schärfsten Denkens, vollendeter Lebensweisheit, verträgt sich mit dem unbestimmten Ahnen nicht. Die Gedanken, welche der »Faust« erregt, sollen sich nicht in verschwimmende Gefühle auflösen. Mich dünkt, der geistreiche Fürst Radziwill habe aus Verehrung für Goethe, trotz der Schönheit seiner Komposition, fast eine größere Sünde an dem Meisterwerke begangen als der italienische Ballettmeister. Dieser begnügt sich bescheiden, das Schöne wiederzugeben, soweit es in seiner Macht steht; jener versucht es, das in sich Vollendete zu verschönen, ohne zu bedenken, daß man dem Vollendeten eben die Vollendung nimmt, wenn man es willkürlich ändert und nicht dazugehörende, außer der Absicht des Schöpfers liegende Elemente hineinbringt. Ich glaube nicht, daß Goethe gedacht hat, Fausts Monologe mit Geigen und Flöten begleiten zu lassen, und es gibt gewiß sehr viele, denen der neue, getanzte »Faust« besser gefallen hätte als der mit Musik verschönte.


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