Wilhelm von Kügelgen
Jugenderinnerungen eines alten Mannes
Wilhelm von Kügelgen

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Auszüge aus den Briefen von Wilhelm von Kügelgen.

An einen jugendlichen Brudersohn aus dem Jahre 1849:

»Edler Neffe Otto! Stecke Druckpapier oder Zeitungspapier ohne Leim in Deine Tasche, nimm Deinen Knittel und gang an den Strand. Daselbst sperre Deine runden Augen auf oder blinzle und kneife sie zu, wie Du am besten sehen kannst, und dann spekuliere umher. Vielleicht erblickest Du dann an Hafenpfählen, unter Wasser an Steinen usw. feine, engverfilzte Seegewächse mit grünem oder braunem Schleim überzogen. Sobald Du dergleichen siehst, fährst Du darauf los, schabst mit Deinem Messerlein den Schlamm los, legst ihn zwischen Dein Druckpapier und drückst das Wasser etwas aus. Nachher schlägst Du die Masse zwischen trockenes Papier und steckst es ein. Auch auf ausgetretenen Layen am Strande kann es sich zutragen, daß Du ein braunes Häutchen findest, welches abzuschneiden und ebenso zu behandeln ist. Der beste Fundort wird, denk' ich mir, das stehende Wasser am Hafen sein. Die getrockneten Flocken stellst Du dann Deinem Vater gelegentlich zu, und dieser schickt mir davon prisenweise als Futter für mein Mikroskop. Die kleinen Weichtiere verschwinden und verwesen dann freilich, aber die kieselpanzerigen Tiere, um die es mir eigentlich zutun ist, bleiben unversehrt in Saeculis saeculorum. Daß Du Dir diese Mühe mit mir gibst, kann ich nun zwar eigentlich nicht verlangen, ich hoffe aber von Deiner Großmut alles. Gern würdest Du es tun, wenn ich Dir zeigen könnte, was ich bis jetzt unter dem Mikroskop schon gezeichnet habe, da würde sich Dir eine neue unbekannte Welt eröffnen, so interessant wie der Sternenhimmel. Denke Dir Tiere, von denen fünftausend Millionen in einem Tropfen Wasser Platz finden, und ein jedes ist doch zusammengesetzt aus unzähligen Teilen, und Gott hat ihm eine Seele gegeben. Manche von diesen Infusorien sind auch größer, bis auf 1/30 Linie lang, ja bis 1/2 Linie. Diesen sehe ich bis ins Herz und beobachte deutlich ihre Manieren. Mein Liebling ist das Schweiftierchen, welches in den Wasserschnecken lebt und 1/100 Linie mißt. Es besteht aus einem dicken kugeligen Rumpf und einem langen, dünnen Fadenschwanz. Rumpf und Schwanz haben einen durchaus verschiedenen Willen, indem jedes nach seiner Seite schwimmen will. Der sanguinische Schwanz macht zu dem Ende die verzweifeltsten Anstrengungen, biegt sich zusammen wie eine 8, schnellt sich wieder auseinander und reißt den faulen Rumpf so lange rückwärts, bis er müde wird und dann schlaff hinhängend dem Rumpfe folgen muß. Endlich reißt sich der Schwanz los und führt ein wüstes, wildes Leben im Wasser, worauf er stirbt. Unterdessen treten aus dem Rumpfe die Augen heraus, ziehen die Eingeweide mit sich und führen mit diesen ein ungebundenes Wesen, bis sie tot sind. Während dieser Zeit verwandelt sich der Rumpf in eine unverwüstliche weiße Perle.

Moral: Zuerst wirft der Christ die Sinnlichkeit ab, mit der er in Streit lebte, dann gehen ihm die Augen verloren, d.h. der selbstsüchtige, philosophisch spekulierende Verstand, und nehmen in Gestalt der Eingeweide alle in seinem Willen begründeten ungötttlichen Eigenschaften mit hinweg. Das einzige Unzerstörbare, die glänzende Perle, bleibt nur zurück. – Dies bedenke und lebe wohl.

Dein Onkel Wilhelm.«

»... In der englischen Sonntagsfeier liegt durchaus eine Borniertheit; aber wer wollte sagen, daß sie einem wirklich Gläubigen nicht Segen bringen müßte? Und wenn das ist, so ist solche Torheit die allergrößte Vernunft. Wo es nicht aus dem Glauben geht, da ist es freilich nur ein elendes Werk der Gesetzlichkeit, womit man sich und andere plagt. Madame H. in Petersburg hatte in der Regel Sonntags üble Laune, weil sie nie ganz aus dem Arger über Entheiligung des Tages durch andere herauskam. Soll einer als Christ seines Lebens froh werden, so muß er vor allen Dingen nicht von anderen verlangen, daß sie auch »Christen« sein sollen. Wenn Paulus vermahnt, kein Ärgernis zu geben, so hätte er ebensogut dazu aufmuntern können, keins zu nehmen. Um andere nicht zu ärgern, Sonntags den ganzen Tag die Hände in den Schoß zu legen und etwa jeden Witz hinunterzuschlucken, das ist viel verlangt von einer freien, überlegenen Natur! Und zwar aus dem Grunde, weil diese ein Puppenspiel darin sieht. Mir ist der Sonntag wie ein Geburtstag, der alle Wochen wiederkehrt. Die Juden fürchten sich die ganze Woche davor ...«

»... Mit F. (Fechner) war ich sehr vergnügt. Die Liebenswürdigkeit der Weltleute geht ihm ab, doch ist er angenehm durch gelegentlich überraschenden Witz und vortrefflichen kenntnisreichen Verstand. Er ist ein guter, weicher, rechtlicher Mensch, was der alte V. (Volkmann) mit Bedauern zugesteht, weil er die Tugend eigentlich nur dem christlichen Glauben gönnt. Am besten ist freilich fromm und gutartig zugleich zu sein, soll aber nur eins stattfinden wie gewöhnlich, so scheint mir die Gutartigkeit vorzuziehen. Ich für mein Teil hätte nichts dagegen, mein Leben lang mit lauter Fechner-artigen Subjekten umringt zu sein, ob er sich gleich gewaltig in seinen Ansichten zum gröbsten Materialismus neigt. Z. sieht überall nur Geist und Leben und ist ein ziemlich sinnlicher Mensch. F. sieht überall toten Mechanismus und ist weit geistlicher. Nicht was die Menschen sprechen und denken, sondern was sie sind, das sind sie. Sind sie demütig und bescheiden, so sind sie am besten ...«

»... Von allen Unreinigkeiten ist mir die schriftstellerische am verhaßtesten. Die M. (Mühlbach) hat allerdings sehr fleißige Studien gemacht, aber auch allen Stadt-, Salon- und Memoirenklatsch mit aufgenommen. Daß sie so viel gelesen wird, kommt teils von ihrem Schmutz, teils daher, daß es uns gänzlich an einer leichten, populären Geschichtslektüre fehlt. Sie hat einem wirklichen Bedürfnis genügen wollen ...«

»... Ich kann mich übrigens schwer überzeugen, daß einer ein Christ gewesen sei, der, wenn er auch nach außen hin noch so eifrig wirkte, doch mit seiner Frau nicht im Frieden leben konnte ... Es ist ja doch ein Unsinn, dem Heile fremder Seelen nachzujagen und die Frau laufen zu lassen. Eher kann ich begreifen, daß ein Christ in wilder Ehe lebt, wie Hamann ...«

»... Wenn man Christ ist, sollte man den Ehrgeiz etwas mäßigen und nicht immer auf der Lauer sitzen, ob einem auch genug Respekt bezeigt wird, oder nicht. Bisweilen will es mich bedünken, als wenn die Gläubigen der Eitelkeit ebenso verfallen wären, wie alle anderen Kreaturen. Aber nein, es ist doch etwas in ihnen, was immer wieder ausgleicht und versöhnt, und auch in uns ist so etwas, und das ist das Bewußtsein, daß wir es nicht besser machen, wenn es auch gerade nicht mit dem Ehrgeiz ist, so doch in anderen Dingen ...«

»... Ich verteidigte das Buch damals, ohne es gelesen zu haben, weil ich immer finde, daß die eigene Entwickelungsgeschichte der beste Stoff ist, daran die heiligsten, die tiefsten und interessantesten Dinge darzustellen. Wenn der Lebende mit Geist und Herz lebt, ist jedes Leben interessant, und die Berechtigung zur Biographie kommt nicht allein geschichtlichen Personen zu ...«

»... Aber es ist auch ebenso wahr, daß ich immer nichts zu schreiben weiß, weshalb ich oft wünsche, etwas weniger gescheit zu sein, weil ich dann jedenfalls mitteilender wär ...«

»... Wenn ein Weltkind religiöse Farben trägt, so ist Hopfen und Malz daran verloren, und es ist schade um jeden Schritt, den man zur Verständigung mit ihm tut ...«

»... Nichts greift den Menschen so sehr an als das sogenannte Vergnügen, welches der Teufel eigentlich erfunden hat und welches allen gottesfürchtigen Leuten auch aus diesem Grunde fatal ist. Das Vergnügen ist das echte und das ist das gesunde, dem ein sonst halbwegs gewissenhaftes Menschenkind von selbst nachläuft; das aber, zu welchem man bei den Haaren herbeigezogen werden muß, hat der Teufel erfunden, und davor hüte Dich ...«

»... Ein Familienvater ist ein Berg voll Selbstverleugnung, Seufzer und dgl. – ein wahres Hippopotamus von Schwerfälligkeit. Aber eine Familienmutter ist das alles doppelt ...«

An den Bruder. 5. III. 55.

»Mein Gerhard war Weihnachten auf 6 Wochen Urlaub hier. – Er hatte sich sehr zu seinem Vorteil verändert und erntete den größten Beifall bei allen Altern und Klassen der Gesellschaft. Er hatte alle Blödigkeit abgelegt, war lebhaft und gesprächig und dabei so bescheiden und anspruchslos, daß ihm die Herzen zufielen. Ich habe in der Tat große Freude an ihm gehabt, besonders an dem Gange seines inneren Menschen. Er klagte mir seine Zweifel am Christentum, und da haben wir zusammen Philosophie getrieben, gerade so weit, daß er einsehen lernte, welche Zweige unsere größten Denker gegen die Aussprüche der Offenbarung sind. Wenn einer zweifelt und so willkürlich und roh mit seinen Gedanken herumfaselt, ist es wirklich am besten, ihn vor allen Dingen etwas in logische Zucht zu nehmen, damit er nur erst denken lernt und bescheiden wird. Ein richtiges Denken kommt immer an einer Grenze an, an der man sich entschließen muß, entweder allen höheren Lebensinhalt aufzugeben und im Skeptizismus zu ersaufen, oder zu glauben. Gerhard zeigte ein solches Interesse an diesen Dingen, daß ich, obgleich sein Herz wohl schwerlich bekehrt sein mag, dennoch für ihn außer Sorge bin. Wie süß ist es aber für einen Vater, mit seinem Kind so freundschaftlich verkehren und es sich ebenbürtig erachten zu können ...«

An seine Cousine Helene von Kügelgen.

»Es scheint mir ganz gut, wenn Du Dich bisweilen in bezug auf das Christliche ganz trocken und tot fühlst. Die Religion muß auch nicht wie eine Verliebtheit an unsern Herzen zehren, sonst magern wir ab. An Gefühlen und geistlichem Aufschwung liegt auch wenig, wenn nur der Zuchtmeister im Herzen wach bleibt und die Gewissenhaftigkeit nicht mit Fett verwächst. Geschieht das, dann sorgt der Geist Gottes schon bei denen, die ihn anrufen, daß sie wieder aufwachen. Summa – ich denke, es sei wie es sei, so sind wir beide in Gottes Hand und gehen mit ihm durch dick und dünn, hell und dunkel, schlafen und wachen – Krieg und Frieden.

Besser ist ein mangelhaftes Haus als gar keins, und können wir selbst für uns kein Haus finden – wer berechtigt uns dann, es andern über dem Kopf einzureißen.

Vor Gott sind wir alle Sünder, der Hund wie die Katze, das Schwein wie der Bär, die Laus wie das Pferd, der Affe wie das Huhn; aber das abgerechnet, so haben wir untereinander unsere Sympathien, nach denen wir uns angezogen fühlen, wie unsre Antipathien, und nur die Laus liebt alle und hängt sich allen an.

In Trübsal. Gern möchte sich in solchen Zeiten der Geist in solche Tiefen retten, wo er weiß, daß alle Ereignisse nur Abwandlungen einer ewigen Liebe und unendlichen Erbarmens sind, aber er ist behaftet mit einem Gesellen, der ihm keinen dauerhaften Frieden läßt, das ist das Prinzip der Leiblichkeit mit allem, was dranhängt, mit seinem Kleinmut und seiner Gottflüchtigkeit. Überhaupt sind in uns dieselben Kräfte tätig, durch die das Weltgebäude seine Bahnen einhält. Es reißt uns etwas ab von Gott, damit wir etwas anderes seien, wir selbst – und eine andere Gewalt treibt uns zurück zu Gott, damit wir uns in dem absolut anderen, in dem Nichts oder in der Materie nicht verlieren. Die Natur unseres leiblichen Lebens reißt uns von Gott ab, und waltete sie allein, so wäre sie der Tod, wir würden Gott und uns allein verlieren. Die Natur unseres geistigen Lebens, eine Natur des Feuers, flammt zu Gott zurück, und wäre sie allein, so würden wir uns an Gott verlieren. Aus diesem Konflikt entspringt unsere geistleibliche Persönlichkeit, aber auch Sünde und Gottseligkeit, Hölle und Himmel, Unruhe und Frieden. In dem Gebiete der Sittlichkeit ist dieses Ab- und Zugezogenwerden deutlich abgemalt, weil es, wenigstens formal, in unsere Hand gelegt ist, hinaufzusteigen und hinunterzusinken, und in den Angstzeiten wird es uns klar, wohin wir unsere Segel stellen müssen, da wird die Kraft aus Gott geboren, die uns zu ihm in den Hafen treibt. Ich habe es auch erlebt, wie das Herz hineinstürzt in jene stillen Kammern des Gehorsams, der Hoffnung und des Glaubens, wenn der Tod ihm, wie ein Erdbeben, irgendeine andere Wohnung, an welcher es hing, zum Wanken bringt! –

Nachdem die Cousine das Bein gebrochen hatte:

»Du arme Helene, es ist ein Unglück, für das man Gott dankt, denn er hat Dir ein Herz gegeben, dem aus allem, was geschieht, der Trost geboren wird wie der Tau aus der Morgenröte, und das ist besser als ein Bein. Überdem so wird, mit Ausnahme von Goethe, jeder hier auf Erden zerschmissen nach Leib und Seele, und doch hängt man so an dieser Prügelsuppe, daß keiner gern fort will, und wird einer endlich erlöst, so sind die andern ganz untröstlich und nicht aus Neid, aus Mitleid – Mitleid, daß der arme Schelm die gewohnten Prügel nicht mehr kriegt.« –

»Wir haben es wahrhaftig alle recht nötig, auch die Gläubigen, um den Geist Gottes zu bitten, der ein Geist der Liebe, der Zucht und Heiligung ist.«

»Von der Kirche wollte ich noch sagen, daß unsere Zeit nicht kirchenbildend ist. Halte daher ein jeder was er hat. Die Auflösung und der Übergang in freie Gemeinden (Altluthertum, Irvingianer) wird immer früh genug kommen. Eine Zeit der allgemeinen kirchlichen Befriedigung wie im 13. Jahrhundert wird wohl nie wiederkehren, aber deswegen sollten wir nicht leichtsinnig wegwerfen, was wir haben. Es war Dir doch erbaulich, mit dem Volk der Esten unter der Kanzel zu sitzen – anders, als wenn bloß die einzelnen, wirklich erbauten, erweckten Glieder dieses Volkes, getrennt voneinander, an Zäunen oder unter Brombeerhecken gehockt hätten und in der Bibel gelesen. Es ist nicht anders, als daß uns Christenleuten das Kreuz auf den Rücken geschnallt ist. Zu seiner Zeit wird es Dich herrlich machen. Wenn man nur weiß, daß man nach Hause und nicht von Hause reist, so fühlt man die Härte des KruglagersKrug heißen die Herbergen in Estland. nur halb. Gott schenke Dir und mir ein recht kräftiges Bewußtsein von der Heimreise.«

»Du kommst mir vor wie ein Bienchen, das emsiglich seinen Honig zusammenträgt, damit ihn andere essen. Dafür wird Gott Dich segnen, denn wenn Du damit auch nur einem inneren Impulse folgst, so ist der doch von Gott. Von ihm kommt alle Liebe, die nicht das Ihre sucht, die andere Liebe kommt von der Welt.«

»Plötzlich schrickst Du auf, ohne daß ich den Zusammenhang finde: ›Lieber Wilhelm! Was geht uns der Teufel an?‹, ich denke (wenn das ein Rätsel sein soll), das geht er uns an, daß wir ihn hassen sollen, denn was wir hassen, fliehen wir, und fliehen wir ihn, so flieht er uns. O wie ist der Herr so liebevoll, daß er uns einen Gegenstand zum Haß gegeben hat. Das Herz, das lieben will, das will auch hassen, und eins ist durch das andere. Daß der Teufel seinerseits uns Menschen haßt, spricht laut für uns; ist ein Beweis unserer göttlichen Natur; denn was hätten wir ihm wohl getan, daß er uns dafür verdürbe?«

1856. »Du warnst mich vor dem Altwerden? Ja, meine teure Freundin! Wenn uns unser Gott nicht beizeiten tötet, so werden wir's nicht hindern können. Man wird ja täglich stumpf vor Schlafengehen und schläft nur um so besser ein. Morgens ist man wieder frisch. So sind es auch nur die leiblichen Organe, die gegen den Lebensschluß ermüden, nicht die Seele. Der volle Schatz des Lebens wird hinübergerettet in die ewigen Gärten. Man wacht frisch wieder auf

1856. »Als ... in Berlin studierte, beherrschte die Hegelsche Philosophie die ganze gebildete Welt. Jetzt ist sie radikal vergessen, während das Christentum in seiner alten Kraft steht. An ihre Stelle aber ist ein eiskalter, ganz verruchter Materialismus getreten, der immer mehr Boden gewinnt und dem Christentume in offener Feindschaft gegenübersteht. Mit diesem höchst ehrlichen Satan ist gar nicht zu liebäugeln und zu paktieren, wie das wohl mit der Philosophie anging, die im Christentum wenigstens eine Parabel der Wahrheit erkannte. Mit ihm gehen wir einem Kampfe auf Leben und Tod entgegen, der die Kirche purifizieren wird. Das Christentum ist die Erfüllung der Glaubensideen, die primitiv in jeder Menschenbrust als Bedürfnisse unserer sittlichen Natur liegen; darin liegt seine Stärke und sein Beweis. Die Resultate der modernen Philosophie dagegen widersprechen jenen Bedürfnissen, und damit sind sie gerichtet. Überdem scheitern sie am Widerspruche mit sich selbst und befriedigen somit weder die sittlichen noch die intellektuellen Bedürfnisse. – Die großen Fragen unseres Verstandes löst das Christentum freilich auch nicht; sondern vielmehr wendet es das Interesse ab von dem, das nicht in unser Hirn paßt, und erfüllt dafür das Herz mit dem, was not tut, mit Glaube, mit Hoffnung und mit Liebe. Wo diese Früchte sind und je nachdem sie da sind, da ist das Christentum (auch bei den Ketzern), und wo sie fehlen, da fehlt es auch, trotz aller Orthodoxie. –

Wegen des Hin und Her meines äußeren Lebens mußt Du mich nicht bedauern. Ich bin damit durchaus zufrieden – ... Ach, ich habe wohl Ernsteres zu beklagen, wenn ich am Glauben kranke, und wenn mein Gott mich stärkt, gar nichts. Darin liegt für mich die Notwendigkeit des Glaubens und der Beweis des Christentums, daß ich wahrhaftig einer Hilfe bedarf, die mir die Welt nicht gibt und die ich bei Christo finde.

›Du bist die lebendige Quelle,
Zu der ich mein Herzkrüglein stelle.
Laß mit Trost es fließen voll –
So wird meiner Seele wohl.‹

Lebe wohl, meine teure Freundin, sei wacker und halte es aus. Lies, was sie Dir geben. Lessing wird Dir keine Gefahr bringen. Er war ein edler Geist und heller Kopf, und wo er sich gegen das Christentum wendet, da wendet er sich gegen ein Christentum, gegen das wir uns auch wenden würden. Das wahre Christentum kannte er nicht. Er kannte nur christliche Begriffsbestimmungen, die ohne den lebendigen Glauben absurd sind.« –

»Du hast mir den Gefallen getan und hast gefragt, und ich werde mich nun anschicken müssen wie ein Schuljunge, das Examen zu bestehen, freilich mit dem Bewußtsein, daß Du dieselben Fragen, wenn ich sie Dir gestellt hätte, besser beantwortet haben würdest. Da fragst 1. Ob es erquickliche, reine Menschenbilder gibt, an die Du früher verlangend glaubtest, jetzt aber sie zu bezweifeln scheinst. Ich antworte mit nein und – ja! In Gottes Augen ist sicher alles befleckt, und selbst nach dem Maßstabe, den Gott uns Menschen gibt, finden wir den Mangel überall. Das Ideal der Menschheit, das Dir früher vorschwebte, möchtest Du wohl nur in dem Gottmenschen, in Jesu Christo finden. Dennoch aber finden wir, Gott sei Dank! immer Menschen, die besser sind als wir, und um so mehr finden wir dergleichen, je demütiger wir selbst sind. Die Guion weinte, weil sie nirgends Christen fand; Vincent de Paule weinte, weil es ihm schien, daß er selbst unter den vielen Christen, die er kannte, der schlechteste sei. Ich für meine Person möchte lieber dem Vincent ähnlich werden, als der Guion, zu deren Hochmut ich eine natürliche Neigung habe. – An einer andern Stelle sagst Du: ›Manche von den Gläubigen nicht für voll angesehene Seelen üben in Demut die Liebe‹ usw. Wenn Du also solche Seelen kennst, und ich kenne auch dergleichen, so kennen wir ja Christen und wollen uns ihrer freuen und ihnen nacheifern. – 2. Ob Auferstehung des Fleisches ein Bild sei, wie vieles in der Bibel? – Ich meine, es sei beides Bild und Sache, oder mit andern Worten, die Sache im Bilde. Überhaupt werden wir aber das, was in der Bibel von der Auferstehung gesagt ist, erst verstehen, wenn wir auferstanden sein werden. Es ist unmöglich, ohne Erfahrung auch nur einen einzigen Bibelspruch zu verstehen. Deswegen müssen wir das, was hier nicht erfahren werden kann, einfach als unverstandene Wahrheit annehmen, es mag so widersprechend klingen als es will, bis die Zeit des Ergreifens und Begreifens herangekommen sein wird. Ausführliches darüber wirst Du in meinem Buche finden, das jetzt gedruckt wird. – 3. Was es heiße: ›Aufgefahren gen Himmel.‹ Es lassen sich hieran unendlich viel Fragen knüpfen, deren man sich entschlagen muß, weil sich keine Antwort findet. Ich halte die Himmelfahrt Christi für einen geschichtlichen Vorgang, der für Christus selbst gar keine, für uns bildliche Bedeutung hat. Diese Himmelfahrt zu bezweifeln, wäre unvernünftig, weil der Glaube daran sich als praktisch wohltätig bewährt. – 4. ›Ob das Leben eine Last sei, die man tragen lernen, oder ein Reichtum, den man finden lernen soll?‹ Ich antworte: es ist beides. Der Magnet weist ebensowohl nach Süden als nach Norden, und darin findet niemand, der den Magneten kennt, einen Widerspruch. – 5. ›Ob einem das Leben ausgeht, wenn man alt wird, oder ob im Christentum eine ewig verjüngende Kraft liegt?‹ Ich antworte, daß ebenfalls beides geschieht. Wir welken hin wie des Grases Blume und sterben ab, aber wir glauben, daß wir einen Samen in uns tragen, den Gott erwecken wird zu neuer Lebensdauer. Wir fühlen uns überhaupt tief eingewurzelt in den Grund aller Dinge, aus dem wir, wenn auch zurzeit unsere sichtbaren Halme und Zweiglein abwelken, doch nicht verloren werden können, sondern wir hoffen, daß Gott aus dieser Wurzel zu seiner Zeit neue Lebensgestaltung entfalten werde. So verjüngen wir uns alternd und sterbend in Hoffnung. Es ist ein Unterschied zwischen gläubigen und glaublosen alten Leuten. – 6. ›Ob es in Herrnhut heimlich langweilig gewesen?‹ Diese Frage mit all dem Mißtrauen, das darin liegt, macht mich sehr zu lachen. Ich antworte aber ganz ehrlich: mir war es dort nicht langweilig, und ich würde gern in Herrnhut leben und sterben. Dir, meine liebe Helene, würde es dort auch gefallen, unter den einfachen kindlichen Leuten in paradiesischer Gegend. Das Böse fehlt dort nicht, aber es wird als böse angesehen, das Gute als gut. In dieser Beziehung ist noch nicht so wie bei uns eine Begriffsverwirrung eingetreten. Der Teufel wirkt auch dort und muß als Teufel schaffen, aber er schafft das Gute um so reichlicher, je öffentlicher man ihm widersteht. Daß die Sünde eine Notwendigkeit ist, ja daß wir den Prozeß, den wir mit ihr durchgehen, zuletzt als eine Wohltat erkennen müssen, das glaube ich mit Dir, meine liebe Helene, aber ebendeswegen war Herrnhut mir lieb, weil in dem Licht des Christentums, welches dort maßgebend ist, die Sünde als solche scharf hervortritt und nicht verkannt werden kann. Die Herrnhuter sind keine Heiligen, aber sie sind durchschnittlich fleißige, ordentliche und fröhliche Menschen, die ein geregeltes, mäßiges, vernünftiges Leben führen und zu solchem Leben sich täglich neue Kräfte suchen in köstlichen und erquicklichen Gottesdiensten, derengleichen die übrige Kirche kaum aufzuweisen hat. Kopfhängerei und pietistisches Wesen habe ich gar nicht gefunden, sondern Frohsinn und Zufriedenheit in einer Zeit, die von lauter Unzufriedenheit zum Bersten angeschwollen ist, und was ich gefunden habe, muß jeder dort finden, der nicht etwa ganz andre Dinge sucht. – Somit wären denn nun unsre Fragen beantwortet, und wenn es nicht zu Deiner Zufriedenheit geschehen ist, so können wir ja weiter darüber reden. Daß Du L.N. nun so ganz in der Nähe hast, ist prächtig. Sie ist eins von den erfreulichen Menschenbildern, an das Du gewiß getrost weiter glauben wirst. Ja sie ist mehr als ein bloß erfreuliches Menschenbild – sie ist eine sehr ausgezeichnete Frau, um deren Freundschaft ich alle Welt beneiden könnte außer Dich ... Ich könnte Dir mehr treffliche Menschen nennen in Deiner nächsten Nähe, die alle in meinem Herzen ihre kleinen Altäre haben, aber Du hast Augen so gut als ich.«

»Ich für meine Person glaube wohl an eine Verdammnis in der Ewigkeit, nicht aber eigentlich an eine ewige, wenn diese nämlich in etwas anderem als Vernichtung bestehen soll. Es ist übrigens etwas anderes, nicht an etwas glauben können, oder überzeugt sein, daß es nicht da ist. Ich überlasse diese Sache Gott meinem Herrn und bin nur davon überzeugt, daß er niemand bloß deswegen geschaffen hat, um ihn ewig zu verdammen. Sobald ich diese reformierte Überzeugung hätte, würde ich mich selbst für einen Giftpilz halten und dem Teufel dienen ... Ich stimme darin mit Dir überein, daß ich das Alte Testament, d.h. seinem einfachen Wortbestande nach, nicht durchgängig für Gottes Wort halte, wenn ich auch annehme, daß die Verfasser vom heiligen Geist getrieben, geschrieben haben. Was vom Alten, gilt auch vom Neuen Testament. Manche verwirrende Sätze des Paulus z.B. sind nur zu entwirren, wenn man Schwäche und Unvollkommenheit menschlicher Ausdrucksweise annimmt. Doch gestatte ich dem Unglauben kein Urteil in der Sache, sondern nur dem Glauben, der alles geistlich richtet. Nur insoweit wir selbst den heiligen Geist haben, mögen wir verstehen, was die Leute gemeint haben, die, vom heiligen Geist getrieben, ihre stotterhafte Rede führten.«

Aus einem Brief an die Schwester

April 66.

»Was Du von Deiner Glaubensschwäche schreibst, das trifft auch mich, doch denke ich mich an meinen Heiland anzuklammern bis zum Tode. Man muß sich nur hüten, das Christentum a priori, d.h. abgesehen von den Erfahrungen zu beurteilen, sich vielmehr an die Erfolge halten, an die selige Freude derer, die zum Glauben kommen und durch welche auch wir ab und zu gestärkt worden sind. Beweisen kann man sonst nichts. Es wird nur Gleiches von Gleichem erkannt. So kann also auch das Christentum, in welchem sich uns das höchste Gut offenbart, nicht objektive Wahrheit sein, die wir doch nicht erkennen und begreifen würden, sondern es ist uns vielmehr nur ein unserm Anschauungsvermögen analoges Bild gegeben, in welchem wir die Wahrheit zu erfassen haben. Man könnte vielleicht sagen, das Christentum sei eine Parabel. Ich setze den Fall, die Sache, um die es sich handelt, sei ein Dreiklang – Du aber bist taub. Da offenbarte er sich Deinem Auge in der Trikolore des Regenbogens. Den Klang würdest Du in der Farbe erfassen und Dich seiner freuen, ohne daß Du doch das Original des Bildes erkenntest. Was mich heutzutage irrt, ist das jetzt beliebte, unausgesetzte an die Oberfläche Pumpen des Dogmas, das seiner Natur nach auf dem Grunde liegen soll, und das Befestigen desselben mit Mundleim. Die Christenheit wird überfüttert mit Erkenntnis, die bei Schafsköpfen leicht in geistliche Hoffart, bei gescheiten Leuten aber in Unglauben ausschlägt. Auch wird die feste Wahrheit absurd, wenn man sie auf die Spitze treibt und in alle Konsequenzen verfolgt, besonders wenn man es mit einem Bilde zu tun hat, da sich von einem solchen mancherlei aussagen läßt, was auf das Original nicht paßt. Läßt man den Gesamteffekt des Bildes ruhig auf sich wirken, ohne es zu zergliedern und seine Farben chemisch zu analysieren, so wird man die Meinung am besten erkennen. Es kommt aller greuliche, irremachende Zank unter den Gläubigen daher, daß man sich in das Wissen von Dingen vertieft, die niemand, weder nach Vernunft noch Offenbarung wissen kann; z.B. Trinität, Natur Christi, Abendmahl, Taufe, Himmel, Hölle, Auferstehung des Fleisches, Gnadenwahl, Wiederbringung usw. Wenn lieber viel mehr von Heiligung zu merken wäre, die nicht in dogmatischen Kruditäten, sondern in der Nachfolge Christi liegt, so würde man vielleicht weder innere noch äußere Mission brauchen, oder sich dieselbe doch sehr erleichtern. Der Wandel der Christenheit würde genügen. – Nun Gott sei Dank, bei den wenigen Christen, deren Glaube nicht bloß Rechthaberei ist, sondern wahrhaftige Buße und Beugung ihres selbstischen Wesens unter die Gnadenhand Gottes, ist ja dieser Wandel noch vorhanden, und er ist und bleibt mir ein wesentliches Zeugnis für die Wahrheit des Christentums, das solche Himmelsfrucht an ihnen zeitigte.«

An den Bruder.

Am 14. Juni 1866.

»... Du berührst ein interessantes Thema, bemerkst sehr richtig, daß mit dem Alter unsere Ansichten und Urteile die frühere Schärfe verlieren, und stellst die Frage, ob das etwa die gerühmte Weisheit des Alters sei? Ich möchte sagen: ja, so ist es! Unsre Überzeugungen, selbst die wissenschaftlichen, beruhen doch allermeist auf Glauben, der sich anfänglich auf Autorität, später – wenigstens zum Teil – auf Erfahrung und Spekulation gründet. Der Autoritätsglaube ist aber bei weitem der stärkere. Es will mir scheinen, als gingen alle selbstdenkenden Menschen diesen Weg, und wo sie es tun, gewinnen sie wohl ebensoviel, als sie verlieren. Man verliert an Zuversicht, gewinnt an Bescheidenheit und Duldung. In der Jugend ist man nur zu geneigt, jedermann zu verachten, der unsere Überzeugungen nicht teilt, und hat als Beweismittel nur die Faust; später ist man sich wenigstens der Gründe dessen, was man von Überzeugungen noch gerettet hat, deutlich bewußt und weiß sich somit auf anständige Weise zu verteidigen. Auch bei mir datiert der Anfang dieser Umwandlung ungefähr vom 30. Jahre, bin aber immer noch nicht fertig damit.«

An den Bruder.

Januar 1867.

»Wie hat sich dieses Jahr so unerwartet herangeschlichen. Der Silvesterabend war früher ein Hauptfest für mein Haus, man freute sich das ganze Jahr darauf, sprach nachher noch lange davon; an diesem Tage wurde ich mir stets meines häuslichen Glücks am lebhaftesten bewußt. Nachdem ein solenner Heringssalat verzehrt war, begab sich alles auf mein Zimmer, das vorher schon mit lang ausgezogenem Tisch und brennender Astrallampe zum Spiel vorbereitet war. Meine sechs blühenden Kinder, die lieblichen V–rs Mädchen, die B–ff und sonst wohl ein paar gute Hausfreunde nahmen Platz, und nun begann das schon von Roller zweckmäßig vereinfachte, von mir noch weiter ausgebildete Schimmelspiel, ohne weiteren Gewinst als die Haselnüsse, mit denen man spielte. Einer um den anderen bot die Pacht aus, und zwar singend, nach einem von mir erfundenen Rezitativ; auch geboten wurde singend, bis endlich der Hammer fiel. Durch Unverschämtheit zeichneten sich die Pächter aus beim Einfordern der Pacht und wurden entsetzlich verhöhnt, wenn abgeworfen wurde, ohne daß sie auf ihre Rechnung gekommen waren, nach Umständen auch getröstet. Die Bankerotteure wurden von eigens ernannten Barbieren eingeseift und barbiert. Dann fanden sie bei Gutherzigen wohl Kredit für schwere Zinsen, und bildeten sich Kompaniegeschäfte u.a.m. Unter strömendem Witz und Gelächter offenbarten sich die verschiedenen Individualitäten und Talente. Die drei Jungens wie später auch die sehr witzige Elisabeth überboten sich in guten Einfällen, Anna improvisierte wohl ein Verschen der Gratulation oder des Trostes, Berta nahm sich tatkräftig der Geschmähten und Unterlegenen an, und die V–rs waren immer bereit, höchst opferwillig auszuhelfen. Die Alten wurden mit zu Kindern und spielten mit derselben Leidenschaft, und alle saßen da mit glücklichen Gesichtern und hochroten Backen, bis dreiviertel auf 12 Uhr das Spiel geschlossen wurde. Dann wurde abgerechnet, der Tisch gesäubert und die Punschbowle aufgetragen; aromatischen Duft verbreitend. Sobald es 12 Uhr schlug, läuteten die Gläser aneinander, und es erfolgte gerührt Gratulation mit Händedruck, Umarmung und Küssen. Dann ging es mit einer gewissen Feierlichkeit an die Verlosung der kleinen Bilder und Sprüche, die ich die Woche vorher mit Lust gezeichnet hatte. Ganz wunderbar trafen die Sprüche zu, und man erbaute sich dabei nicht wenig. Endlich las ich noch ein Gebet und das herrliche Neujahrslied von Paul Gerhardt. Um 1 Uhr ging alles auseinander und zu Bett, um einen ungewöhnlich guten Schlaf zu tun. – Das ist nun freilich längst schon anders geworden, die Todesfälle haben diese Lust gesprengt. Dieses Mal haben wir des Jahreswechsels gar nicht gedacht und waren andern Morgens ganz überrascht durch die Gratulationsvisiten, die ich für meine Person nicht einmal annehmen konnte, doch freute ich mich, daß endlich das schwerste Jahr meines Lebens hinter mir lag. Fahre hin, du 66! Sollte ich dich noch einmal durchmachen müssen, so würde ich wünschen, nicht geboren zu sein. Mein armer lieber Gerhard!«

Die Politik spielte eine große Rolle in den Briefen an den Bruder. Es kann hier darauf nicht eingegangen werden. Die letzten Worte seines letzten Briefes vom 3. Mai 1867 tragen einen prophetischen Charakter: »... Ich denke, die eitlen Franzosen werden doch nicht eher ruhen, bis sie den Krieg beim Wickel haben. Dann möge sie Gott der Herr zerschmeißen!«


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