Wilhelm von Kügelgen
Jugenderinnerungen eines alten Mannes
Wilhelm von Kügelgen

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4. Eine Entscheidung fürs Leben.

Aus dem vorhergehenden Kapitel ist zu ersehen, daß es sich einer in Bernburg schon gefallen lassen konnte. In Kirch' und Schule, in Haus und Garten, einsam und in Gesellschaft, überall fand man seine Rechnung, und ich war mir dessen wohl bewußt; aber dennoch wollte mir die Zeit bis Weihnachten, wo ich nach Hause reisen sollte, wie eine Ewigkeit erscheinen. Sie abzukürzen, verfiel ich endlich auf einen glücklichen Gedanken: an jedem Abend nämlich übertünchte ich in meinem Wandkalender den abgelebten Tag mit Bleiweiß, ihn so gewissermaßen noch einmal vernichtend. Dies Verfahren will ich anderen ungeduldigen Schülern hiermit empfohlen haben, da sie sich auf solche Art das immer merklichere Abnehmen des unvertilgten Restes am leichtesten veranschaulichen werden. Endlich kam der letzte Pinselstrich. Mit frohem Herzen und guten Zensuren ausgerüstet, stieg ich in den Postwagen und langte gerade am Heiligen Abend in Dresden bei den Meinigen an. Das war denn eine Freude mit alt und jung! Der Bruder fehlte freilich, doch dafür mußte der Lichterbaum entschädigen mit seinem Glanz und seinen Gaben.

Auf meinem Tische stand unter den obligaten Wachsstöcken und Pfefferkuchen ein überaus sauberes Kästchen von duftendem Zedernholz mit zwei Kolonnen der feinsten englischen Farben, so schön, daß einem das Herz beim bloßen Anblick lachte. Es war etwas ganz Herrliches und reizte mich, wie einst der Rotstift meinen Lehrer Roller, zu augenblicklichem Versuche. Noch beim Scheine des Lichterbaumes und in aller Ungeduld und Eile den Pinsel nur im Munde feuchtend, ging ich ans Werk. Es sollte nichts Bestimmtes werden; ich wollte nur Natur und Wirkung der neuen Farben kennen lernen und fuhr auf einer kleinen Elfenbeinplatte mit dem Pinsel gleichgültig hin und wieder. Bald aber interessierte mich die Arbeit, denn es begann sich, hervorblickend aus Wolken, das Brustbild einer mater dolorosa mit Heiligenschein und Schleiern zu gestalten. Das sah gar nicht wie von mir aus, und ich dachte, wenn einer darunter schriebe: Carlo Maratti oder Dolci, Giulio Romano, Tintoretto, und wie sie alle heißen, so würde niemand was dagegen haben. Mein Vater wollte sehen, was ich da machte: »Das kannst du mir schenken,« sagte er und nahm die Zeichnung an sich.

Am andern Morgen ward ich sehr unwillkürlicher Zeuge einer schmeichelhaften Unterhaltung. Mein Vater, der keine Ahnung hatte, daß ich im Nebenzimmer alles hören konnte, wo ich mit Tassos »Befreitem Jerusalem« in einer Kanapeeecke schwelgte, zeigte mein Farbenpröbchen seinem Freunde Hartmann. »Das,« sagte er, »hat mein Sohn gestern abend beim Lichterbaum mit etwas Spucke gemalt.« Hartmann lachte. »Den Jungen fräße ich auf,« erwiderte er, »wenn ich wie du wäre. Da steckt ein Maler drin!«

Es ist oft schwer zu unterscheiden zwischen dem, was wir mit Selbständigkeit zuwege bringen, und dem, was nur zufällig und vereinzelt durch uns entsteht. Wir können sogar ganze Reihen von Erfolgen haben, an denen wir so unschuldig sind wie die Engländer am Siege von Waterloo, und schreiben wir uns deshalb besondere Begabung zu, so können wir sehr niederschlagenden Enttäuschungen entgegensehen. Auch meine Schmerzensmutter mochte von keiner anderen Herkunft sein als von der eines bloß zufälligen Gelingens, wenn aber die alten Meister darin ein Wahrzeichen des Genies erkennen wollten, so war es mir wenigstens nicht zu verargen, daß ich ihnen glaubte.

Von meiner Kindheit an war es in der Familie angenommen und auch mir ein Glaubensartikel gewesen, daß ich Maler werden würde; doch hatten die Warnungen Beckedorffs mich neuerdings geirrt. Auch hatte ich, fortgerissen von der lateinischen Strömung der Schule, die Studien bereits liebgewonnen, so daß mir der Gedanke, vielleicht ganz bei ihnen zu verbleiben, nichts weniger mehr als fremd war. Ich hatte meinen Eltern bereits Mitteilung darüber gemacht und konnte gewiß sein, daß sie meiner Neigung, wohin sie sich auch wende, kein Hindernis in den Weg legen würden. Wenn ich es mir aber nun auch sehr löblich dachte, am grünen Tische oder von der Kanzel das Beste meiner Mitmenschen fördern zu helfen, so konnte ich doch eine gewisse Vorstellung nicht los werden, die mich zu keinem rechten Entschlusse kommen lassen wollte. Ich dachte mir nämlich den Fall, daß ich dereinst, wenn es zu spät sei, umzukehren, als wohlstudierter Mann zufällig in eine Malerwerkstatt geriete und sähe die Bilder und Geräte und röche wieder den heimischen Duft der Firnisse und Farben: ob ich dann nicht in einen Strom von Tränen ausbrechen und meine Wahl aufs schmerzlichste bereuen würde? Und umgekehrt, wenn ich nun wirklich Maler geworden wäre, und es zeigte sich nachträglich, daß es mir nicht besser ginge als neun Zehnteln aller Maler, das heißt, daß mir die nötige Begabung fehle: was sollte ich dann beginnen?

So zweifelnd war ich noch zum Weihnachtsfest nach Dresden gekommen; aber jenes zufällig erlauschte Lob so kompetenter Richter, wie die ganze künstlerische Atmosphäre des väterlichen Hauses, verfehlten nicht, eine entscheidende Wirkung auf mich auszuüben, und da nun in traulicher Dämmerstunde die Rede auf meine Zukunft kam, erklärte ich meinen Eltern, daß ich am liebsten Maler werden möchte. Damit hatte ich ihren eigenen Herzenswunsch getroffen; aber freilich, meinte der Vater, müsse ich dann, was mir immerhin nicht leicht ward, der Schule bald entsagen, denn man könnte nicht erst Magister und dann noch Meister werden, und wer mit zwanzig Jahren noch kein Bild male, möge die Hand vom Pinsel lassen. Es ward mir indessen doch noch einige Frist für Bernburg gestattet, da es für schicklicher erachtet wurde, erst von Sekunda abzugehen. So weit hatte es seinerzeit mein lieber Vater auch gebracht und damit fürs Leben ausgereicht; es war kein Grund da, weder mich dümmer noch gelehrter sein zu lassen, als er es selbst war.

Die wichtigste Entscheidung für mein Leben war nun getroffen; ich freute mich aufs kindischste meines künftigen Berufes, und mit goldener Aussicht in die Zukunft zog ich eines schönen Morgens von Dresden wieder ab. Begleitet von meinem Vater, der mir die ganze Ferienzeit mehr Teilnahme geschenkt hatte als je zuvor, ging ich der Lohnfuhre, in die ich eingemietet war, ein gut Stück Wegs zu Fuß voraus, und jener war so ganz besonders gut und mild, daß er mir proponierte, mir zum Abschied noch eine Gnade auszubitten. Ich bat natürlich um die Erlaubnis, zu rauchen, und erhielt sie mit der Einschränkung, daß es nicht mehr als eine Pfeife in der Woche werde, was ich versprach. Als der Wagen uns jedoch eingeholt hatte und ich einstieg, rief mir der gute Vater doch noch nach: »Kannst du's einmal nicht lassen, so stopfe eine zweite und sprich dabei: ›Mein Vater hat mir's zwar verboten; ich tue es aber doch!‹« In diesem Wort war Weisheit, es schärfte mein Gewissen, indem es mich doch von der Kette band.

Auf der Mittagsstation in Meißen angelangt, rannte ich sogleich zum Drechsler und kaufte mir eine Pfeife, und zwar eine recht geräumige, denn zwar wollte ich pflichtgetreu nur einmal in der Woche stopfen, aber nicht nur einmal rauchen, vielmehr imstande sein, unter Umständen jeden günstigen Moment dazu wahrzunehmen. So hielt ich's jahrelang, und am Ende der Woche war die Pfeife stets so vollkommen ausgeraucht, daß aus der Asche auch der kleinste Bruchteil eines Tabaksblättchens nicht mehr herauszufinden gewesen wäre. Auch kaufte ich mir eine Tüte Tabak, und diese in der einen, die langgequastete Pfeife in der andern Hand, schlenderte ich den Domberg hinan, um der schönen Kirche vor dem Essen noch einen Besuch abzustatten.

Die Kirchtüre stand offen, und wenn schon auf dem Orgelchore einige Knaben sangen, so hatte ich doch kein Arg darin und meinte, der Kantor übe etwa seine Schule. Ich wanderte daher in dem völlig leeren Schiff der Kirche mit meiner langen Pfeife sehr ungeniert umher, ging von einem Gegenstand zum andern und machte zuletzt vor dem Altare Halt, um mir das uralte Bild zu betrachten. Da hörte ich eine ernste Stimme hinter mir: »Es ist hier Gottesdienst!« Ich fuhr herum, und vor mir stand ein Geistlicher im Ornat.

Beschämt verzog ich mich in den nächsten Kirchstuhl, hörte die Vorlesung eines Abschnitts der Heiligen Schrift mit an samt den darauf folgenden Responsorien und konnte es mir eigentlich nicht besser wünschen, denn man erkennt den rechten Wert der Dinge erst beim Gebrauch. Der Dom ward jetzt gebraucht, und seine schlanken Säulenbündel und himmelhohen Spitzgewölbe wurden jetzt erst recht verständlich durch die heiligen Worte, die vom Altar gesprochen wurden, so wie diese durch die hehre Majestät des königlichen Baues an Würde nur gewannen. Ich versank in Andacht und konnte mich nicht losreißen, besonders da nun wieder die Orgel erklang und einen neuen Choral intonierte.

Noch einen Vers, dachte ich, und dann eilig fort, um vor der Abfahrt noch etwas zu essen. Dazu war's allerdings die höchste Zeit, und schon zog ich die Füße an, um aufzustehen und mich davonzumachen – siehe! da stand die schwarze Gestalt des Pastors dicht vor mir auf der Kanzel auf; ich aber streckte die Beine wieder aus, denn unmöglich konnte ich es über mich gewinnen, als einziger Zuhörer dem einsamen Prediger so gerade vor der Nase durchzubrennen. Aber ebenso unmöglich war's auch, zu bleiben, wollte ich nicht anders der Mahlzeit quitt gehen oder gar zurückgelassen werden. Abermals zog ich die Füße an, und abermals streckte ich sie wieder von mir, bis ich endlich in großer Gemütsschwäche sitzen blieb wie ein Jean Paulscher Narr. Ich war gefangen.

Vielleicht, dachte ich, werde der Kutscher warten oder der Prediger aufhören. Dieser hätte zwar, unfern beiderseitigen Vorteil bedenkend, mit dem Segen anfangen und schließen mögen; vielleicht aber hatte er lange keinen Zuhörer gehabt. Er ergriff daher die Gelegenheit beim Schopf und sagte ohne Erbarmen alle drei Teile seiner Predigt her.

Man sagt, daß der, welcher redet, sich in der Gesellschaft am besten amüsiert. Dies war hier augenscheinlich der Fall, denn während ich nur Worte hörte, die wie Sandkörner auf mich niederrieselten, mich zu verschütten und zu ersticken drohten, deklamierte jener mit steigender Freudigkeit und Breite. Je eifriger er mir die Ohren füllte, desto hohler ward ich in meinem Innern, und je fester er auf seiner Kanzel einwurzelte, desto lockerer saß ich auf meiner Bank. Ich glaubte, er sei entschlossen, dort oben zu leben und zu sterben, wie weiland Simeon Stylites auf seiner Säule, rückte von einer Seite auf die andere, steckte die Hände in die Taschen und zog sie wieder heraus, schneuzte mich und zweifelte, ob ich die Rede überleben würde.

In dieser verzweifelten Lage überraschte mich fast noch das Amen, das einem Zauberschlage gleich die ganze Situation veränderte und meine Ketten sprengte. Wie ein Sperling aus der geöffneten Hand des Vogelstellers entflatterte ich mit meiner langen Pfeife, schoß den Domberg hinunter und hörte schon von weitem den ungeduldigen Kutscher mit der Peitsche knallen. Die ganze Gesellschaft saß bereits im Wagen, und auf meine entschuldigende Erzählung ward ich belehrt, daß jedenfalls jener Pastor durch mich nicht weniger geniert gewesen sei als ich durch ihn, denn, sagte man, wenn ich nicht dagesessen hätte, würde er kein Narr gewesen sein, zu predigen. Zu meinem Trost tat ich die ersten Züge aus meiner neuen Pfeife und freute mich aufs Abendessen.

Die weitere Reise muß nichts zu wünschen übriggelassen haben, da ich mich ihrer nicht mehr erinnere. Nach Bernburg zurückgekehrt, hatte ich aber nicht viel anderes mehr im Kopf als Zeichnen und Malen und konnte es nicht lassen, mich in freien Stunden sogleich vor Eduards erstaunten Blicken zu ernster künstlerischer Tätigkeit anzuschicken. Fürs erste brannte ich Reiskohle, bespannte ein altes, umgedrehtes Blumenbrett mit grauem Packpapier und verfinsterte das Zimmer sehr unnützerweise wie eine Malerwerkstatt. Wie unbeschreiblich selig fühlte ich mich nun, als alles vorbereitet war und ich mich eines Sonntags nachmittag vor meinem Papiere niederließ, um mit einer lebensgroßen Schmerzensmutter zu debütieren! Aber Eduard opponierte. Ich sollte doch lieber etwas Kräftiges malen, sagte er, einen Ajax, Diomedes oder am besten einen zürnenden Propheten.

Künstler sind immer abhängig von ihrem Publikum, und außer Eduard hatte ich keins. Ich mußte mich seinem Verlangen fügen und zeichnete einen massiven Männerkopf mit struppigen Haaren, wüstem Bart und rollenden Augen, ähnlicher einem Rasenden, wie ich jetzt glauben möchte, als einem zürnenden Propheten. Die Arbeit ging rasch von der Hand, und das Publikum nahm den lebhaftesten Anteil. Nur mit dem Kostüm schien Eduard nicht ganz einverstanden, da sich seiner Meinung nach für einen so männlichen Propheten eine nackte, haarige Brust gehörte. Ich willfahrte auch dieser Forderung, öffnete das Gewand und ließ ein Gestrüpp von krausen Locken sehen. Jetzt rief Eduard: »Herrlich!« und schien ganz befriedigt; mir aber flößte mein Opus anderen Tags schon solchen Widerwillen ein, daß ich es vernichtete. Mit ähnlichen Erfolgen ward noch manches andere Bild in Angriff genommen und viel Zeit damit verdorben; aber trotz dieser künstlerischen Allotrien vernachlässigte ich doch auch meine Schularbeiten so wenig, daß ich bei der Osterversetzung samt meinem Nachbar Piepvogel nach Sekunda aufrückte.

Nach Sekunda! Es ist dies das wichtigste Avancement, was auf lateinischen Schulen vorkommt, der Eintritt aus den Propyläen in den eigentlichen Tempel. Wohl gibt es schon in den niederen Klassen viel staunenswerte Weisheit, aber erst in Sekunda beginnt man zu begreifen, warum man etwas weiß, weil das Gewußte hier zu einiger Anwendung gelangt und seine Frucht trägt; und daher stellt sich gemeiniglich auch erst in dieser Klasse der rechte Trieb zur Arbeit ein. Ich freilich gehörte der Schule nur noch mit halbem Herzen an, und wenn ich mich des raschen Eintritts in die höhere Klasse freute, so doch wesentlich nur deshalb, weil ich sie als den ersten Schritt und als Bedingung meines demnächstigen Austritts aus der Schule ansah. Ich meldete meinen Eltern, daß ich nun so weit sei, und sah der nächsten Zukunft mit ungeduldiger Erwartung entgegen, der unaussprechlichen Herrlichkeit, nicht nur in Nebenstunden, sondern zu allen Stunden nichts anderes zu tun als Zeichnen und Malen.

Der Verfasser ergibt sich der Demagogie

Um jene Zeit war Eduards ältester Bruder Friedrich nach beendigten akademischen Studien von Jena zurückgekehrt. Lang, hager, blaß, das tiefliegende Auge von starkem innerem Leben glühend, trat er in sogenannt altdeutscher Tracht, mit gefiedertem Barett und lang abwallendem Haar, wie eine Erscheinung aus verstoßenen Jahrhunderten in unseren Kreis, Kernworte der Trauer und des Ingrimms sprechend: der Trauer über den Verlust der akademischen Freiheit, des Ingrimms über das Philistertum, dem er verfallen. Friedrich war ein hochbegabter und genialer Mensch, dessen übermächtige Persönlichkeit uns Jüngeren nicht wenig imponierte, daher er uns auch schnell zum Propheten und Apostel eines nagelneuen Evangeliums werden konnte, das er aus Thüringen mit heimgebracht. Er war tief eingetaucht in jene phantastische Strömung, welche damals die deutschen Hochschulen durchflutete und die Köpfe der besten jungen Leute mit sich fortriß. War er doch eine der Koryphäen der glorreichen Jenenser Burschenschaft gewesen, hatte die Fahne getragen beim Zuge nach der Wartburg und sich dort nach des begeisterten Studenten Riemanns Worten mit allen Genossen aufs feierlichste verschworen, »zu streben nach jeder menschlichen und vaterländischen Tugend«. Und solche Tugend war es, welcher er jetzt das Wort redete vor den Ohren aller, die es hören und nicht hören wollten.

Worin sie eigentlich bestand, diese menschliche Tugend, ist schwer zu sagen, da ihr Begriff sich ebensowenig aus jener Bezeichnung als aus Beispielen der Geschichte deduzieren läßt. Eine andere Tugend hatte Cäsar und eine andere Brutus, und Diogenes hatte eine andere als Cato und Scipio. Soll man von christlicher Tugend absehen, so ist die menschliche und vaterländische an sich ein wunderlicher Proteus und kann ebensogut Mord und Totschlag bedeuten als gut Essen und Trinken. Darin zwar war man einig, daß den Tugenden der Tapferkeit, der Wahrhaftigkeit und Keuschheit nachzujagen sei, und das war das Löbliche bei der Sache; ob aber z.B. die menschliche und vaterländische Tugend es gebot, zum Zweck der Herstellung eines einigen und freien Vaterlandes die sämtlichen deutschen Fürsten nebst ihren Helfern und Helfershelfern um einen Kopf zu verkürzen, oder ob es hinreichen würde, dieselben mit bescheidenen Pensionen – für den König von Preußen wurden in Jena 300 Taler vorgeschlagen – zu bourgeoisieren, darüber stritt man wie über vieles andere. Die ganze Bewegung glich einer unklaren und verworrenen, von den heterogensten Sympathien getragenen Konfusion. Mit derselben Begeisterung für deutsches Mittelalter wie für die modernsten Revolutionsideen der Franzosen streckte man die Arme gleichzeitig nach hinten und nach vorne aus und schwärmte für eine Vorzeit, die man nicht kannte, und deren Bedingungen, Ordnungen und Formen man nach Herzenslust mit Füßen trat. Man war vom allerneuesten, wie Goethe sagte, indem man alt sein wollte, und am allerwenigsten war man deutsch.

Was mich anlangte, so verstand ich von dem ganzen Wirbel wenig mehr, als daß es eine Herrlichkeit sondergleichen war, und daß man recht von Herzensgrunde deutsch sein müsse; ähnlich auch mochten es alle diejenigen meiner Mitschüler verstehen, die überhaupt begeisterungsfähig waren. Recht deutsch sein aber hieß, recht trotzigen Mut und feste Fäuste haben, und uns zu diesen vaterländischen Tugenden zu verhelfen, war Friedrich sehr erbötig. Mit Enthusiasmus sprach er von dem frommen, frischen, freien und fröhlichen Turnerwesen und weckte das Verlangen, uns unter seiner Leitung mit der Gesamtheit aller Schüler zu einer ordentlichen Turngemeinde zu organisieren.

Um die Erlaubnis hierzu wie um Abtretung eines zum Turnplatz geeigneten Landstückes ward der Herzog angegangen, vorläufig aber im Hofraume der Superintendentur eine kleine Turngelegenheit improvisiert. Hier stellten wir mit des Ättis Erlaubnis aus gemeinen Mitteln die notdürftigsten Gerüste her, an denen wir des Abends unsere Kräfte übten, und ergötzten uns nebenbei an allerlei frischen und fröhlichen Turnspielen, die unser Meister Friedrich leitete. Dazu verschafften wir uns ungeschwänzte Anzüge von grauem Sackdrell, nahmen einen ungeschliffenen Kärrnergang an, wie er deutschen Flegeln zu ziemen schien, und sahen jedermann keck ins Angesicht. Leider aber mußte unser Verhalten sich nur allzuwenig empfohlen haben: besonnene Männer traten gegen die Neuerung auf und erhoben sogar im Wochenblatt den Wächterruf. Ich zweifle nicht, daß ihre Besorgnisse gegründet waren; aber mit Gegengründen betrat Friedrich jetzt das Schlachtfeld. Sie replizierten, er replizierte wieder; es bildeten sich Parteien selbst unter Lehrern und Beamten, und immerhin brachte dieser gelehrte Hader einiges Leben unter die Bernburger Menschheit.

Mit Beckedorff war ich in stetem Briefwechsel geblieben. Ich war es gewohnt, ihn von allem zu unterrichten, was mich bewegte, und suchte ihn jetzt um so mehr über den Nutzen des Turnens aufzuklären, als ich annahm, daß er nicht ohne Einfluß auf die Entschlüsse des Herzogs sei, von dessen Erlaubnis doch endlich alles abhing. Wie sollten wir künftig, so argumentierte ich etwa, das Vaterland verteidigen, wenn wir nicht deutsche Knochen und Fäuste hätten? Von einem auf Schulbänken verkümmerten und verblühten Geschlecht – als das wir uns plötzlich erkannt hatten – seien Heldentaten schwerlich zu erwarten, und überdem würde dem Landesfürsten eine bessere Gelegenheit, die Jugend zu verpflichten, so leicht nicht wieder geboten werden. Aber Beckedorff schien von alledem nichts weniger als erbaut. Zwar war er nicht so weit verblendet, daß er das Turnen nicht für recht gesund gehalten hätte; ob jedoch die Jahnschen Turngemeinden mit ihren spezifischen Gesetzen und Gebräuchen zu dulden, und ob es zweckmäßig sei, der männlichen Jugend in rein monarchischen Staaten eine entschieden republikanische Richtung zu geben, das gab er zu bedenken. Schließlich riet er, wir möchten vor allen Dingen zeigen, daß die Turnerei fleißiger, bescheidener, gehorsamer und liebenswürdiger mache, so würden wir, alle Bedenken zerstreuend, unsere Widersacher in Freunde und Gönner verwandeln.

Schwärmereien ist indessen mit Vernunft nicht beizukommen. Beckedorffs Rat erschien mir dem großen Ziele gegenüber, das ich vor Augen hatte, allzu philiströs, denn ich war der Meinung, daß irgend etwas faul sei in deutschen Landen, und daß dem weder durch Bescheidenheit noch Liebenswürdigkeit, sondern einzig und allein durch die unbescheidenste Kraftentwickelung abzuhelfen sei. In der Art schrieb ich auch zurück und war fest überzeugt, daß jedermann das einsehen müsse, selbst der Herzog. Doch hierin hatte ich mich geirrt, wie ich denn auch durch mein übriges Leben die Erfahrung gemacht habe, daß niemand sich von etwas überzeugen läßt, was nicht in seinen Kram paßt. Der Herzog war so frei, den Turnplatz zu verweigern und das Gezänk im Wochenblatte zu verbieten. Das war befremdlich. Es sah fast aus, als lege es der Landesvater eigens darauf an, die Kraft des Volkes abzuschwächen und sich die Herzen der Jugend zu entfremden. Wir räsonierten ganz unsäglich.

Glücklicherweise teilte wenigstens der Ätti nicht die Bedenken der herzoglichen Räte. Soweit er sich überhaupt um die Angelegenheit gekümmert hatte, war er geneigt, die besseren Seiten aufzufassen, freute sich des frischen Sinnes der jungen Leute und hielt die revolutionären Wasserreiser, die wir trieben, für eitel Kindereien. Zu einer wohlkonzessionierten Turngemeinde und einem öffentlichen Turnplatz konnte er uns freilich nicht verhelfen, doch hatte er nichts dagegen, daß wir unsere Kraftübungen nach wie vor in seinem Hofraum fortsetzten. Trotz unseres Kummers über den unerwarteten herzoglichen Bescheid unterließen wir daher nicht, daselbst allabendlich zu laufen und zu springen, zu wippen und kippen, exerzierten die Bein- und Rückenwelle, das Nest, den Schwebehang, den Katzen- und den Karpfensprung; und obgleich wir diese Künste keineswegs mit der Harmlosigkeit von Eichhörnchen oder Seiltänzern betrieben, sondern vielmehr mit dem Hochgefühle deutscher Jünglinge, welche die freie Brust im Morgenrot der Zukunft baden, sah die Behörde dennoch durch die Finger. Es waren schöne Stunden, die wir so im Bewußtsein schwellender Muskelkraft und trotzigen Mutes versprangen und verschwangen, und sonderlicher Nachteil ist auch nicht daraus erwachsen, es sei denn für die Speisekammern der Hausfrauen und Mütter; denn einen Knaben, der vom Turnen kommt, zu sättigen, ist nahezu unmöglich.

Meine Wirksamkeit bei Hofe

So waren die Pfingstferien herangekommen, die mich auf einige Tage wieder mit meinem Bruder vereinten. Wahrscheinlich um diesem eine Freude zu machen, vielleicht auch mir den Kopf zurechtzusetzen, war Beckedorff auf den gesunden Einfall geraten, mich mit des Herzogs Erlaubnis auf einige Tage nach Ballenstedt zu entbieten. Trotz meiner oppositionellen Richtung hatte er doch den willigsten Gehorsam gefunden, und leichten Herzens und Ranzens – in letzterem nur etwas Wäsche – machte ich mich eines schönen Morgens zu Fuße auf den Weg.

Es war ein herzerquickender Gang. Himmel und Erde funkelten im Glanz der Morgensonne, Lerchen tremulierten über grünen Saaten, und in der Ferne winkte die ahnungsvolle Herrlichkeit des blau aufsteigenden Gebirges. Ich aber schritt geflügelten Fußes voran, als würde ich von Adlersfittichen getragen. Dazu sang ich mit den Lerchen um die Wette, daß es weithin durch die Fluren schallte; aber nicht etwa ein sich geziemendes Morgenlied, wie z.B. »Wach auf, mein Herz, und singe« oder »Die Sonn' hat sich mit ihrem Glanz« – ich kann dergleichen leider nicht berichten: vielmehr sang ich die trotzigen Verse des Goetheschen »Prometheus«, die ich kurz zuvor – mich dünkt in Moritz' »Götterlehre« – mit Entzücken gelesen und teilweise im Kopfe behalten hatte. Die Melodien improvisierte ich nach Bedürfnis, und singend erschienen mir die gewaltigen Worte noch so viel prächtiger, daß ich nicht müde wurde, sie immer wieder von neuem abzusingen, wüßte auch kaum, daß Schönheit und Macht der deutschen Sprache mich jemals wieder so ergriffen hätten als in der Kraft und Freudenfülle jenes Morgens mit seiner Frühlingslust.

Als ich des Nachmittags bei guter Zeit in Ballenstedt einstürmte, tadelte Beckedorff mich meiner Kleidung wegen. Es war ihm ganz unfaßlich, wie man an den Hof kommen und nichts anderes mitbringen könne als ein Reiseröckchen von grünem Futterkattun und ein Paar Drellhosen. Unmöglich schien es ihm, daß ich mich in diesem Aufzuge vor dem Herzoge könne blicken lassen, der doch von meinem Kommen wisse und die Gnade gehabt habe, mich schon im voraus zur Abendtafel einzuladen.

Ich erfuhr nun, daß die Herzogin schon seit längerer Zeit verreist sei und der Prinz in ihrer Abwesenheit des Mittags zwar allein mit Beckedorff auf seinem Zimmer speise, wo allenfalls mein Anzug zu ertragen sei, des Abends aber in Gesellschaft seines erlauchten Herrn Vaters tafele. Unterdessen, fügte Beckedorff hinzu, könne ich das Vergnügen haben, an meinen eigenen Pfoten zu saugen, bis meine Kleider von Bernburg nachgekommen. Und doch hatte ich gerade diesen Anzug gewählt, weil er nagelneu war und ich mir ganz besonders wohl darin gefiel. Jetzt schien er mir plötzlich bettelhaft, ich schämte mich seiner und war sehr einverstanden, Sr. Durchlaucht damit aus dem Schuß zu bleiben.

Beckedorff tat nun die nötigen Schritte, mich wegen ungeeigneter Toilette zu entschuldigen; aber sehr unerwartet kam der höchste Befehl zurück: ich solle kommen, wie ich wäre.

»Ich tue es nicht,« sagte ich, »ich will zurück nach Bernburg!« Aber Meister Beckedorff lachte mich aus. Er bewies mir, daß ich wollen müsse, und sehr contre cœur begleitete ich den Prinzen in den Speisesaal.

Obgleich ich nun ein trotziger Prometheus war und ein festes Herz zu haben glaubte, sollte ich es dennoch jetzt erfahren, wie sehr die Sicherheit unseres Benehmens von der Meinung abhängen kann, die andere Leute von unseren Hosen haben. Ich dachte, es müsse alles auf mich blicken, und kam mir unter den glänzenden Hofleuten, welche nach damaliger Sitte in Uniform erschienen, wie ein unreines Tier vor. Ich war verlegen und zugleich erbost und zischte meinem Bruder zu: wenn ich wieder nach Ballenstedt eingeladen würde, so wollte ich nur meine Kleider schicken, auf die es eigentlich doch nur abgesehen sei. Mein Bruder erwiderte, er zweifle allerdings nicht, daß, wenn der Herzog mich erblicke, sowohl er als die Prinzessin in Ohnmacht fallen würde.

Da flog die Flügeltüre auf, und herein schritt mit vortretendem Kammerherrn der alte Löwe des Landes, seine Prinzessin am Arm. Ihnen folgten einige Damen, und während alles sich verbeugte, zog ich mich in den Hintergrund. Aber Se. Durchlaucht geruhte, gerade auf mich loszusteuern, Beckedorff stieß mich, ich stand verblüfft, und der Herzog redete mich an. Ob ich zu Fuß gekommen, ward ich gefragt, und da dies richtig mit »Ja!« beantwortet, wie lange ich gereist sei.

Auch diese Frage wäre kaum über meine Kräfte gegangen, wenn die Hosen und das Sommerröckchen nicht gewesen wären, und ganz besonders, wenn mein ungezogener Bruder mir nicht hinter des Herzogs Rücken die lächerlichsten Fratzen zugeschnitten hätte. Wie lange ich »gereist« sei, hatte Se. Durchlaucht gefragt. Gereist! ich dachte, Reisen würde nach Tagen abgemessen und hatte die Antwort »Einen Tag« schon auf der Zunge, als mir noch rechtzeitig einfiel, daß ich ja nur einen Vormittag und einen halben Nachmittag gebraucht, was nach Adam Riese anderthalb macht.

»Anderthalb Tage!« war nun mein Wort.

»Da sind Sie wohl zur Nacht in Aschersleben geblieben?«

Indes hatte ich bereits erwogen, daß der Nachmittag, weil er doch angerissen, vielleicht für voll gerechnet werde, und verbesserte mich schnell, indem ich sagte, es wären eigentlich zwei Tage gewesen.

Mein Bruder wollte sich fast überschlagen; aber Serenissimus verzog keine Miene. Er veränderte nur die Fragestellung und wollte wissen, wann ich ausgegangen und wann ich angekommen wäre, was zu beantworten mir endlich wohl gelang.

Der Herzog tat darauf noch einige andere Fragen: wie es mir in Bernburg gefiele, welche Klassiker wir in Sekunda läsen und dergleichen mehr. Er war sehr gut und freundlich, und einigermaßen kalmiert, konnte ich mich endlich zu Tische setzen. Doch schämte ich mich gewaltig der Blödigkeit, die mich, den freien, fröhlichen Turner, befallen hatte, obgleich ich damit weder mir noch anderen Schaden zugefügt hatte, und am wenigsten dem Herzoge, der sich trefflich amüsiert haben mochte. Durch einen entgegengesetzten Fehler aber, nämlich durch dummdreisten Vorwitz, schädigte ich bald darauf den hohen Herrn selbst, und das ging mir lange nicht so nahe.

Beckedorff hatte mir wieder dasselbe Zimmer eingeräumt, das ich schon früher innegehabt. Hier hingen viele alte Familienbilder mit verwunderlichen Gesichtern und Trachten, unter denen mich ein Frauenbild besonders anzog, das sehr verräuchert und bestäubt war. Um deutlicher zu sehen, befeuchtete ich die dunkleren Stellen mit meinem Waschschwamm, und da bei dieser Gelegenheit viel Schmutz abkam, dachte ich ein gutes Werk zu tun, wenn ich das Bild recht gründlich reinigte. Ich löste es aus dem Rahmen, und wie ich den Vater hatte alte Bilder waschen sehen, so machte ich es nun auch – nur mit dem Unterschiede, daß ich, um schneller zum Ziele zu kommen, etwas Seife zu Hilfe nahm. Die schöne Dame verklärte sich zusehends, und, ein Liedchen pfeifend, wusch ich drauflos mit steigender Lust.

Da plötzlich! – ich werde nie den Schreck vergessen – verschwand der ganze Liebling, vielleicht eine Urgroßmutter des Herzogs, mir unter der Hand. Nur die helleren Stellen des Gesichtes waren noch einigermaßen kenntlich geblieben, sonst alles fort und nichts zu sehen als das nackte Gespinst einer bläulich-grauen Leinwand. Ich zerbrach mir den Kopf. Ganz unmöglich konnte sich die alte knochenharte Farbe so schnell gelöst haben. Dennoch schien das tintenhafte Wasser im Waschbecken gegen mich zu zeugen: ich mußte in der Tat die Urgroßmutter zu radikal behandelt haben.

Eine ähnliche Geschichte fand ich später in Goethes »Farbenlehre« von einem Frankfurter Maler, unter dessen Schwamm sich die schwarze Kleidung eines Geistlichen ebenso plötzlich in einen hellblauen Flausrock verwandelt hatte. Der Firnis hatte nämlich durch Anwendung der Seife Wasserteile in sich aufgenommen, war dadurch unklar geworden und lag nun wie ein undurchsichtiges Spinngewebe auf dem Bilde, das nichtsdestoweniger ganz unverletzt war. Derselbe Zufall war nun auch mir begegnet, ohne daß ich jedoch eine Erklärung dafür gefunden hätte; ich glaubte vielmehr, die schöne Ahnfrau ruiniert zu haben, und mit dem schlechtesten Gewissen von der Welt hing ich sie wieder an ihren Platz. Sollte die Sache entdeckt werden, so wollte ich bekennen und instruierte deshalb meinen Bruder; mich aber mit meiner Beichte aufzudrängen, hielt ich für Vorwitz. Zum Glück wurden jene Gemächer selten gebraucht und die darin placierten fürstlichen Porträts – obgleich zum Teil wertvolle Bilder – wenig geachtet, daher der Schade unbemerkt bleiben konnte, bis ich nach Verlauf von zwanzig Jahren zufällig dasselbe Zimmer wieder betrat. Mein erster Blick fiel auf das ruinierte Bild. Ich untersuchte es, bat es mir in meinen Gasthof aus und stellte es durch Entfernung des dumm gewordenen Firnisses vollkommen wieder her.

Doch ich kehre zu meinem damaligen Aufenthalt in Ballenstedt zurück, der mich auch, abgesehen von den Böcken, die ich schoß, nicht in dem Grade befriedigte wie frühere Besuche. Es hatte sich an dem kleinen Hofe mittlerweile viel verändert. Die Herzogin hatte keineswegs eine Vergnügungsreise angetreten, um demnächst wiederzukommen, wie ich anfänglich glaubte, sondern ernste Mißhelligkeiten zwischen ihr und ihrem Gemahl hatten sie veranlaßt, zu ihrem Vater zurückzugehen, und man sprach von Scheidung. Dieser Umstand gab dem Hofe etwas Verödetes. Namentlich vermißte mein Bruder die hohe Frau, die ihm Sorgsamkeit und Teilnahme bewiesen hatte, und klagte, es sei ledern geworden auf dem Schlosse. Überhaupt hatte er mir jetzt zum ersten Male zu klagen; er sprach von argen Übelständen, und wenn er hier bleiben müsse, meinte er, so würde nicht viel anderes aus ihm werden als ein Galgenstrick. Den sehr ehrenwerten Beckedorff traf kein Vorwurf. Ich konnte daher die Sache frei mit ihm besprechen, und da er die schnellste Abhilfe versprach, trat ich meinen Rückmarsch nach Bernburg beruhigt an.

Aber ich hatte nicht bloß mit Beckedorff gesprochen, sondern infolge eines den Eltern gegebenen Versprechens meine Wahrnehmungen auch nach Dresden berichtet und damit im Herzen der Mutter große Sorge wachgerufen. Sie machte sich von jeher Vorwürfe, ihre Einwilligung zu einer Hoferziehung meines Bruders gegeben zu haben, und jetzt malte sich ihre lebhafte Phantasie alle Nachteile und Versäumnisse aus, die möglicherweise daraus folgen könnten. War es doch vorzüglich die Persönlichkeit der Herzogin gewesen, durch welche sie sich hinsichtlich ihres weggegebenen Kindes einigermaßen beruhigt fühlte – und jetzt fehlte jedes mütterliche Auge.

Nach kurzer Zeit erschien mein Vater in Ballenstedt, um unter allerlei Vorwänden seinen Sohn zurückzunehmen. Es mochte ein schwer Stück Arbeit sein, diese Sache sowohl mit Beckedorff als ganz besonders mit dem Herzoge selbst friedlich zu erledigen; aber die liebenswürdige Persönlichkeit des Vaters besiegte jedes Hindernis. Zwar weigerte sich der Herzog, den kleinen Kavalier, auf den er ein Recht erlangt zu haben meinte, jetzt schon definitiv zu verabschieden, doch bewilligte er ihm einen unbestimmten Urlaub und erklärte, daß er ihn binnen heute und zweier Jahre zu jeder Stunde unter den alten Bedingungen wieder aufnehmen werde.

So kam mein Bruder nach Dresden zurück, wo er in die Kreuzschule eintrat und hier um so raschere Fortschritte machte, als er durch sein früheres Verhältnis zurückgehalten worden war; ich aber blieb noch in Bernburg, um erst Johanni nachzufolgen.

Das Aktenstück

Während meines jüngsten Aufenthaltes in Ballenstedt hatte Beckedorff sich wiederholentlich und warnend gegen die politische Verwirrung altdeutscher Jugend ausgesprochen, ohne daß es ihm gelungen wäre, mich meinen Sympathien abwendig zu machen. Ich verharrte in dem anmaßlichen Aufschwung, den ich gewonnen, und trieb vor meinem Abgange von Bernburg noch eine letzte demagogische Blüte, die, wenn ich die Schule nicht gleich darauf von selbst verlassen hätte, ganz dazu angetan gewesen wäre, mir eine unfreiwillige Ausweisung zu bereiten.

Ich hatte eine deutsche Arbeit eingereicht, zu welcher, wie billig, das mich erfüllende Deutschtum die Ideen hergeben mußte, während ich den Stoff ganz schicklich von der Dresdner Rüstkammer entlieh. Indem ich nun, einen Besuch dieser großartigen Sammlung fingierend, die meiner Meinung nach interessantesten Objekte aufzählte, die sie enthält, nahm ich von so zahlreichen Dokumenten der Vorzeit Veranlassung zu allerlei gewagten Parallelen zwischen Vergangenheit und Gegenwart in deutschen Landen, wobei mein Räsonnement natürlich nur den Vorstellungen entsprechen konnte, die ich von beiden hatte. Im Mittelalter sah ich aber eitel Freiheit, Frömmigkeit und Kraft, in der Jetztzeit nur Gottlosigkeit, Erbärmlichkeit und Knechtschaft, und – wie es einem dann ergehen kann, wenn man sich ganz allein seinem Tintenfaß gegenüberfindet – je tiefer ich in meinen Gegenstand eindrang, je rücksichtsloser schrieb ich. Unter anderem erinnere ich mich, daß ich so weit gegangen war, zu sagen, daß, während man in jenen tüchtigen Zeiten schon zehnjährige Knaben in Eisen gehüllt und in Kampfspielen gehärtet habe – wie die zahlreichen noch vorhandenen Kinderharnische bekundeten – man heutzutage der Jugend die Turnplätze verweigere, um möglichst marklose Weichlinge zu erziehen. Noch mehr dergleichen polizeiwidrige Äußerungen mochten sich in meiner Arbeit finden, doch hatte ich weiter keine Absicht, als mich zu expektorieren, und zwar vorzüglich gegen meinen Klassenlehrer, welchem die Korrektur der deutschen Arbeiten zustand. Dieser Lehrer, Professor Sachse, ein ansehnlicher und gelehrter Mann, war sonst beliebt genug gewesen; namentlich bewunderten wir Schüler seine kräftige und schwungvolle Eloquenz, und wenn er von Vaterlandsliebe und männlicher Tugend der Alten sprach, konnte er immer sicher sein, die Klasse zum Enthusiasmus fortzureißen. Neuerdings war er uns jedoch verdächtig geworden, weil er sich bei verschiedenen Gelegenheiten unliebsame Bemerkungen über das Turnwesen erlaubt und Äußerungen getan hatte, die einer Rüge nicht ganz unwert schienen.

Als nun die Zurückgabe der deutschen Aufsätze erfolgte und meine Mitschüler die ihrigen, einer nach dem anderen, mit kurzen Kritiken zurückerhalten hatten, ergriff der Professor das letzte Heft; es war das meinige. Es sei noch eine Arbeit übrig, sagte er, ein Aufsatz, dessen eigentümliche Färbung ausführlichere Besprechung fordere. Dazu werde die übliche Zeit nicht ausreichen und die nächstfolgende Stunde daher zu Hilfe genommen werden müssen.

Ein Freudenschein lief über die Gesichter, denn die nächste Stunde war die letzte in der Woche und deren Arbeit somit zu Ende. Zudem konnte aus der Haltung des Lehrers auf ein rhetorisches Ungewitter geschlossen werden, das für die Unbeteiligten Genuß versprach. Die meisten setzten sich bequem zurecht; ich aber machte mich stark im Geist.

Inzwischen begann der Professor mit Lob, das sich auf die Form und den angewandten Fleiß bezog; dann las er den ganzen langen Aufsatz ohne weitere Bemerkung, doch mit schärfster Betonung aller tendenziösen Stellen vor. Je weiter er kam, je aufrichtigere Zustimmung sprach sich in den Mienen der Schüler aus; einige von ihnen nickten mir beifällig zu, die Nächstsitzenden drückten mir verstohlen die Hand.

Als aber die Vorlesung beendet war, entlud sich ein fürchterliches Ungewitter. Sachse richtete sich hoch auf wie eine Rolandssäule und, gegen mich gewendet, begann er mit mächtiger Stimme: »Wissen Sie, was Sie getan haben, junger Mensch? Ein Aktenstück haben Sie geliefert, das Ihnen den Platz in dieser Schule kosten kann!«

Nachdem dieser Pfropf heraus war, überflutete mich ein Strom der erbarmungslosesten Kritik, welche aus der mächtigen Brust des Redners anfänglich in stoßweisen Eruptionen hervorbrach gleich bahnbrechenden Kanonensalven, dann aber in geschlossener Rede, jeden Widerstand vernichtend, weiterströmte. So hätte Cicero gegen den Erzverräter Catilina reden können, wenn er gewollt hätte; ich aber war durch die Zeichen des Beifalls meiner Mitschüler viel zu berauscht und durch die Heftigkeit des Angriffs zu beleidigt, um mein Unrecht einzusehen. Während der ganzen Kanonade blickte ich dem feindlichen Konstabler fest ins Auge, bis ihm endlich die Munition ausging. Er schloß mit der Bemerkung, daß er sich veranlaßt sehen könne, einen Gebrauch von meiner Arbeit zu machen, für dessen Folgen er nicht gut sein möge, sie mir daher auch nicht zurückgeben würde. Darauf verließ er die Klasse hocherhobenen Hauptes.

Jetzt ward der Beifall meiner Mitturner überlaut, sie umdrängten und umhalsten mich, als hätte ich ein Stückchen Vaterland gerettet, und hocherhobenen Hauptes ging auch ich nach Hause, von zahlreichen Genossen begleitet.

Als ich jedoch das Ding beschlafen hatte, wurde mir doch der Gedanke an die möglichen Folgen ungemütlich. Es schien mir wenig wünschenswert, als relegierter Schüler vor meinen Eltern zu erscheinen, und ich entschloß mich daher, meinen demnächstigen freiwilligen Abgang ohne Verzug selbst anzuzeigen. Zuerst ging ich zum Klassenlehrer. Das Herz schlug mir, als ich an seine Türe klopfte; aber wider Erwarten empfing er mich aufs beste und nötigte mich zum Sitzen. Ich sei gekommen, sagte ich, mich vorläufig zu verabschieden, da ich die Schule in einigen Tagen verlassen würde. Sachse wollte mich beruhigen. Jener Arbeit wegen, sagte er, brauche ich nicht abzugehen. Zwar habe es in seiner Stellung gelegen, einmal ernstlich gegen eine Richtung aufzutreten, die von oben perhorresziert werde; ich sei indes bei ihm in Freundeshänden, und wie wenig er daran denke, mir zu schaden, möge ich daraus erkennen, daß er das corpus delicti bereits verbrannt habe. Er redete mir nun zu, mich zu beruhigen und zu bleiben; da er indes hörte, daß ich die Schule infolge eines längst gefaßten Entschlusses meines Vaters zu verlassen habe, um mich dem Studium der Malerei zu widmen, gab er sich zufrieden. Er sprach sehr anerkennend von dem herrlichen Beruf der Künstler, und, schließlich mich umarmend, entließ er mich mit dem begeisternden Zuruf: »Fliege, junger Adler! Nur auf den Höhen wohnt die Freiheit!«

Mit warmem Herzen verließ ich den verdienten Mann, welcher übrigens, weit entfernt, mein hirnverbranntes Opus zu verbrennen, es vielmehr für sich behalten hatte, um es in Freundeskreisen vorzulesen, sich mit anderen der Gesinnung und des Trotzes freuend, die er in der Klasse schonungslos verdammte.

Die Heimreise

Nachdem ich gerade ein Jahr in Bernburg gewesen, schied ich zu Johanni 1818 aus dem Krummacherschen Hause, in welchem ich so viel Liebes und Gutes erfahren hatte, daß mir nur das Vaterhaus Ersatz sein konnte. Dahin trat ich nun die Wanderung an, und zwar zu Fuße, fürs erste die endlose Pappelchaussee durchschreitend, die mich nach Halle führte. Als ich am Abende, hier angelangt, sehr ermüdet über das Pflaster hinkte, frappierte mich ein starker Lärm aus hoher Luft. Ich blickte auf und bemerkte einen mit Stürmer und Kanonen angetanen Bruder Studio, welcher dergestalt in einem Fenster des dritten Stockwerks ritt, daß das eine seiner hochgestiefelten und gespornten Beine auf die Straße hinaushing. Dazu knallte er unablässig mit der Hetzpeitsche, schnalzte, schrie und fluchte wie ein Piqueur, der seine Meute hetzt. Um nicht insultiert zu werden, sahen die Vorübergehenden nur flüchtig auf, und so auch ich. Doch kann ich nicht leugnen, daß mir das einsame Vergnügen, welches jener sich dort oben machte, wohlgetan und geistvoll schien.

Im »Löwen« kehrte ich ein, wusch mir die Füße mit Branntwein und legte mich mit dem befriedigenden Bewußtsein nieder, daß ich am andern Morgen machen könne, was ich wolle. Ich wollte aber vor meinem Abmarsche dem Pfarrhause an der Moritzkirche einen Besuch abstatten, und freute mich nicht wenig darauf. Wie mochte Lorchen jetzt wohl aussehen, dachte ich, und ob sie mich wohl kennen werde? Und wenn man mich sehr drängte, sollte es mir nicht darauf ankommen, den ganzen Tag zu bleiben. Sehr zeitig war ich auf den Strümpfen und konnte kaum die Stunde erwarten, wo man zu Leuten gehen kann. Um sieben Uhr schien's endlich schicklich. Ich hing meinen Ranzen auf den Rücken und stiefelte auf wohlbekanntem Wege dem alten lieben Pfarrhaus zu; aber ich fand nicht die Menschen, die ich suchte. Der Pastor Senff war tot und die Witwe ausgezogen. Die Köchin, die mir dies berichtet, war indes so freundlich, mich in den Garten einzulassen. Da sah ich denn die hohe Efeuwand der Kirche wieder und das Lusthaus und die Wege, auf denen ich als Kind herumgetollt – aber es war alles so klein geworden, und ich hatte kein Recht mehr daran und mußte weinen um den alten Senff.

Ich gab der Köchin ein paar Groschen, und sie beschrieb mir die neue Wohnung der verwitweten Pastorin. Mit Mühe fragte ich mich dahin. Auf mein Klingeln öffnete mir ein junges Mädchen und sah mich forschend an; ich sie desgleichen. Als ich aber nach der Pastorin Senff fragte, leuchtete jene auf und nannte mich beim Namen. Es war Lorchen, die mich nun wie einen Bruder begrüßte und den alten Kameraden triumphierend zur Großmutter hineinzog. Im freundlichen Gemache, mit der Aussicht auf ein Gärtchen, saß die alte saubere Frau im Lehnstuhl, angeschienen von einem bunten Strahl der Morgensonne, der sich durch den Blumenschleier stahl, mit dem wahrscheinlich Lorchens Hand das Fenster umwoben hatte. Ich ward sehr wohl empfangen, wert gehalten und gepflegt, mußte Kaffee trinken, Kuchen essen, erzählen und mir erzählen lassen.

Mit lachendem Munde erinnerte sich Lorchen unsrer gemeinsamen kleinen Erlebnisse und wischte sich doch dabei zum öfteren die Augen, denn seit jener goldenen Zeit hatte ihr das Leben schon mancherlei Verluste gebracht. Ich aber konnte den Blick nicht von ihr wenden. Wie schön war sie geworden, diese meine liebe kleine Dame von ehemals, die mich einst gewaffnet, mir den Lilienstengel in die Hand gegeben, und in deren Dienst ich Riesen und Drachen überwunden hatte! O daß ich noch ihr Ritter sein könnte! dachte ich, und der Gedanke an den Abschied ward mir so schwer, daß ich über Gebühr lange blieb. Kaum schien es möglich, Leipzig noch zu erreichen.

Als ich doch endlich aufbrach, ließ das liebe Mädchen es sich nicht nehmen, mir selbst den Ranzen aufzuschnallen. Sie hatte mich noch einmal rüsten wollen wie vorzeiten. Dann geleitete sie mich hinab bis an die Straße und stand winkend in der Haustüre.

Ich rannte fort, die Gassen entlang und auf die Landstraße hinaus. Das Herz war mir viel schwerer als der Ranzen. Ich hatte keinen anderen Gedanken als an die so schnell wieder entschwundene Gespielin aus dem Kinderparadiese, deren süße Stimme mir noch in den Ohren klang, und deren Worte ich mir alle im Geiste noch einmal wiederholte. So mochte ich, in Träumereien versunken, ein gut Stück Wegs gewandert sein, als mich eine rasch daherfliegende Chaise einholte. Der Wagen hielt, und der darin sitzende Herr rief mich an und machte mir den Vorschlag, einzusteigen und mit ihm zu fahren. Zugleich ergriff auch der Kutscher das Wort: »Ja, sehen Sie, Musjechen, als Sie so vor uns hinmachten, da meinten der Herr zu mir: wenn es ein hübscher Mensch ist, so nehmen wir ihn mit, darum, daß dem Herrn immer die Zeit und Weile lang wird.«

Mir war in jenem Augenblicke die Einsamkeit viel lieber als jegliche Gesellschaft; da ich aber keine Entschuldigung hatte und auch überlegte, wie ich auf diese Weise noch nach Leipzig kommen könnte, gab ich nach einigem Zureden nach und nahm an des Gelangweilten Seite Platz. Dieser schien ein Kaufmann oder Fabrikant und gehörte zu jenen inquirierenden Reisenden, die nicht mehr als zehn Minuten brauchen, um von jedem, der ihnen in den Weg kommt, Wohnort, Namen, Stand und zehnerlei anderes zu erfragen, was sie nicht das geringste angeht. Mir war dies ärgerlich. Mit einiger Routine hätte ich den unberufenen Frager ablaufen lassen; doch damals wußte ich mein Inkognito nicht anders zu wahren, als daß ich ihm einen ganzen Sack voll Lügen aufband.

Es ist schon gesagt worden, daß ich mir auf meine Ehrlichkeit etwas zugute tat, und allerdings hätte ich mich vor mir selbst geschämt, so recht direkt zu meinem Vorteil zu lügen; ein gleichgültiges Erlebnis aber etwas auszuschmücken, um es genießbarer zu machen, oder zu verschweigen, was ich nicht sagen wollte, oder endlich, wie in diesem Falle, einen unberechtigten Inquisitor hinters Licht zu führen, daraus machte ich mir schon weniger ein Gewissen. Mein Reisegefährte mußte es sich daher schon gefallen lassen, zu erfahren, daß ich Jakob Schmidt heiße, meine Eltern früh verloren habe, in Halle auf dem Pädagogio gewesen sei und jetzt auf den Wunsch meines Vormundes die Kreuzschule in Dresden beziehen solle.

Der Fremde, dem wahrscheinlich auf diesem ganzen Erdenrund nichts gleichgültiger war als alles das, wonach er mich gefragt hatte, nahm meine Angaben wie ein guter Mensch auf, der kein Arg bei den Reden seines Nächsten hat; auch mochte er glücklicherweise mit den Verhältnissen, die ich berührte, so wenig vertraut sein, daß seine weiteren Fragen mich nicht in Verlegenheit setzten. Dennoch war mir nicht wohl dabei. Bei fortgesetzter Unterhaltung entwickelte jener ein so ehrenwertes Wesen, daß mir die Unwahrheiten, deren ich mich gegen ihn schuldig gemacht hatte, von Minute zu Minute schwerer aufs Gewissen fielen. Dazu kam Leipzig immer näher. Ich überlegte lange, was ich als Ehrenknabe zu tun habe, ob ich mit jenen Lügen aus dem Wagen steigen oder mich durch offenes Bekenntnis blamieren solle, und beides schien unmöglich. So nachdenklich war ich geworden, daß mein unschuldiger Gönner, in der Meinung, ich vertrüge das Fahren nicht, eine Flasche Wein hervorzog, mich damit zu stärken.

Da faßte ich mir ein Herz. Das sei es nicht, ließ ich mich nun vernehmen, sondern daß ich ein schlechtes Gewissen gegen ihn habe. Er sah mich mit aufgerissenen Augen an; ich aber berichtigte jetzt wahrheitsgemäß alle meine lügenhaften Angaben, als einzige Entschuldigung geltend machend, daß auf Reisen jeder doch am liebsten unbekannt bliebe. Der andere mochte denken, daß, wenn man nicht Hannibal, Cäsar oder Judas Ischariot heiße und noch dazu ein sechzehnjähriger Junge sei, man unter eigenem Namen ebenso unbekannt als unter fremdem reise; doch vertraute er mir das nicht: er schmunzelte bloß, reichte mir dann die Hand, und ich glaube annehmen zu dürfen, daß wir in Leipzig als gute Freunde schieden.

Nachdem ich hier bei Volkmanns einen Tag gerastet hatte, setzte ich die fernere Reise mit der Post fort. Zwischen Leipzig und Dresden gingen damals zwei Personenposten, die sogenannte gelbe und grüne Kutsche. Die erste dieser Gelegenheiten stieß dermaßen, daß Leib und Seele Gefahr liefen, voneinander getrennt zu werden, daher besonnene Leute die andere, etwas gelindere zu wählen pflegten. Doch war auch diese noch immer von der Art, daß man bisweilen vor Schmerz laut aufschrie, und wenn der Schwager nicht an jeder Schenke angehalten hätte, so würde man es kaum ertragen haben; mit solchen hochnötigen Intervallen war es aber eine gesunde Art, zu reisen. Die heftigen Erschütterungen, denen man ausgesetzt war, solange das Vehikel in Bewegung blieb, erregten nämlich Löwenhunger, den zu befriedigen jedwede Schenke und Station ihren eigentümlichen und berühmten Leckerbissen darbot. Außer den Hauptmahlzeiten nahm man z.B. in Borsdorf einen Sandkuchen zu sich, der allezeit vorhanden und so schwer war, daß nur Postreisende ihn zu verdauen imstande waren; in Wurzen gab es ein dickes schwarzes Bier, in Luppe Ziegenkäse mit Danziger Goldwasser, in Meißen das sonderbare Gebäck der Fummeln, hier aß man Preßkopf, dort wurden Rühreier verschluckt, und anderwärts mußte Landwein getrunken werden – kurz, von Stunde zu Stunde hatte man Gelegenheit, die Löcher wieder zuzustopfen, welche Weg und Wagen unablässig in den Magen stießen.

Meine Reisegesellschaft bestand aus einem wohlhäbigen dicken Partikulier, der wegen Übermaßes von Gesundheit nach Karlsbad wollte, und einem heldenmütigen Leipziger Studenten. Letzterer hatte ein Aussehen wie der grimme Hagen, sprach mit Nachdruck und schien, seinen eigenen Erzählungen nach, sich nur raufenshalber in Leipzig aufzuhalten. Auf der Brust hing ihm ein ledernes Beutelchen mit Schießpulver, aus welchem er sein Terzerol lud, um ab und zu aus den Wagenfenstern herauszufeuern. Der Dicke drückte dann die Augen zu und bat inständigst, wenigstens das Pulversäckchen abzuhängen, das Feuer fangen könne.

Es sei allerdings gefährlich, versicherte der Studio, aber darin läge gerade der Jux. Darauf schwur er bei allen sieben Weisen Griechenlands, daß, wenn ein einziges Fünkchen aus seiner Pfeife dahineinflöge, so würden wir augenblicklich alle, samt grüner Kutsche, Postillion und Pferden, wie Elias im feurigen Wagen gen Himmel fahren.

Das war schon richtig; aber bei alledem konnte man ganz sorglos sein, wenn man bemerkte, mit welcher Vorsicht jenes unheilschwangere Säckchen nach jeder Ladung zugebunden wurde. Inzwischen dauerte einen die Angst des armen Badegastes, der doch wahrscheinlich nur deshalb nach Karlsbad reiste, um sein Leben zu verlängern, und dem es daher sehr ungelegen sein mußte, es schon vorher einzubüßen. Er wurde nicht müde, dem wagehalsigen Schützen die eindringlichsten Vorstellungen zu machen, und dieser stellte die Gefahr auch nicht in Abrede; nur meinte er, daß solche Erwägungen zu nichts anderem führten, als ein altes Weib zu werden, und eigentlich sei doch die ganze Welt ein Pulversack, und des Menschen Schicksal stehe in den Sternen, daher man machen könne, was man wolle. So blieb die Sache, wie sie war, das Pulver auf der Brust des Renommisten, dem Partikulier aber die Besorgnis eines schauderhaften Endes.


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