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Freud' und Leid sind sonderbare Gesellen. Nicht selten tritt das, was uns am schwersten schädigt, zuvörderst in Gestalt von Lust und Freude auf, wie umgekehrt die Freude, namentlich die tiefere, innere und heiligere Freude sich häufig in der Totenmaske schweren Leidens einführt. Es war ein harter Schlag, der unser Haus im Spätherbst 1815 traf; in seinen Folgen aber war er so freudenreich, daß er als besondere Gnadenführung Gottes erkannt werden durfte.
Mein Vater hatte in den Kriegsjahren durch das Fallen der russischen Wertpapiere und anderweitige Störungen nicht unbedeutende Verluste an seinem Vermögen erlitten. Wir sahen ihn oft geängstigt und voll Sorge, bis der Friede neue Hoffnung brachte. Es schien möglich, daß, wie die Sachen eben lagen, wenigstens der Rest erhalten, wohl auch Verlorenes eingebracht werden mochte. Statt dessen erhielt er nun die Hiobspost, daß durch wohlgemeinte, aber unglückliche Unternehmungen eines Freundes alles fort und er so arm wie damals sei, als er von Rom aus in die Welt zog; ja viel ärmer, da nicht allein die frischere Kraft der Jugend fehlte, sondern jetzt auch eine Familie zu ernähren war.
Wir saßen gerade bei Tisch, als jener Schreckensbrief einlief. Mein Vater erbrach ihn und war tief erschüttert. Der Atem versagte ihm, er riß sich das Halstuch ab und hielt sich für zugrunde gerichtet. Das ganze Vermögen verloren! Fürwahr, es ist nichts Kleines für einen Familienvater, sich und den Seinen plötzlich den Boden unter den Füßen weggeschlagen zu sehen. Der Ärmste sprach von Bettelstab und Hunger. Die Mutter tröstete; sie redete Worte des Glaubens und Vertrauens, und wir Kinder verschluckten eben noch den Bissen, der uns zwischen den Zähnen saß – dann legten auch wir die Gabeln nieder und blickten verlegen und dumm ins Leere.
Als wir uns bald darauf allein fanden, brach zuerst die Schwester das Schweigen: »Werden wir nun betteln müssen?«
»Wenn ich betteln soll,« erwiderte der Bruder, »so hänge ich mich auf!«
Wir verfolgten den Gegenstand und fanden, daß wir, wenn es zum Äußersten käme, am besten tun würden, uns mit mimisch-plastischen Darstellungen zu ernähren, wie Madame Hendel-Schütz, die keinen Mangel zu leiden schien. Darüber wurden wir ganz heiter und fingen wieder an zu essen.
Ein guter Trost im Unglück bleibt immer das Planen, wie man wieder herauskäme. Das taten auch die Eltern. Sie überlegten klüglich, und meine Mutter war aufs freudigste zu jeder Einschränkung bereit, berechnend, um wie viel billiger man leben könnte. Auch bestimmte sie den Vater leicht, die teure Miete und manches andere aufzugeben, dessen man sich bis dahin erfreuen konnte; nur Badereisen und Sommerwohnung, meinte er, seien unerläßlich für die immer ernstlicher kränkelnde Frau. Diese aber behauptete, daß niemand etwas nötig habe, was ihm versagt sei, und setzte alle ihre Paragraphen durch.
Es waren nun acht Jahre her, daß wir im »Gottessegen« wohnten. Zwar ging mancher Schrecken währenddem durchs Haus, aber Trost und Friede weilten. Die Zeit vergoldete jegliches Erlebnis, und alle hingen wir mit Zärtlichkeit an unserer lieben Wohnung. Es mochte daher ein schwerer Weg für meinen Vater sein, als er die Miete zu kündigen ging. Unser Hauswirt nahm diese Kündigung indessen nur zur Hälfte an. Wenn wir zu viel Raum hätten, hatte er sich verlauten lassen, so wolle er uns den Überfluß abnehmen, und zwar von Stund' an; er könne alles in seinem Nutzen verwenden, bis wir wieder danach verlangen würden. Das war ein dankenswerter Freundschaftsdienst.
Demnach entschlossen sich die Eltern, den nach der Straße zu gelegenen, bei weitem größeren und schöneren Teil der Wohnung abzutreten und sich auf wenige Hinterzimmer zu beschränken. Ebenso wurde der Weinberg aufgegeben, ein Dienstmädchen entlassen, und was uns Kindern und ihm selbst naheging, – auch Talkenberg. Dieser Trostlose bekam jedoch Ersatz, indem mein Vater ihm durch den Einfluß seiner Freunde die Stelle eines königlichen Floßinspektors in Elsterwerda verschaffte. Einen dankbareren Menschen hat die Sonne nicht beschienen. Er konnte nun sein Mädchen zur Frau Floßinspektorin machen und war ein gemachter Mann.
Was uns anlangte, so würden die obigen Einschränkungen bei dem laufenden Verdienste des Vaters wohl ausgereicht haben, um unsere Subsistenz zu sichern; aber der sorglichen Natur des trefflichen Mannes war das Bewußtsein unerträglich, aus der Hand in den Mund zu leben. Dazu kam ein Vorgefühl, das ihn von seiner frühesten Jugend an durch sein ganzes Leben begleitet hatte, nämlich das eines frühzeitigen Todes. Obgleich er kerngesund war und meine Mutter kränklich, so zweifelte er doch niemals, daß sie die Erziehung ihrer Kinder ohne ihn zu vollenden haben würde, und glaubte sich daher verpflichtet, dazu die nötigen Mittel zu hinterlassen. Zu diesem Zweck mußte er aber bedeutend mehr verdienen, als verbraucht ward, ja seiner ganzen bisherigen Tätigkeit, seinen teuersten künstlerischen Interessen entsagen, um sich noch einmal wie in den Tagen seiner Jugend dem Handwerk mit dem goldenen Boden zuzuwenden.
So nannte mein Vater die Porträtmalerei, weil er sie lediglich des Vorteils halber trieb. An und für sich ist sie das freilich so wenig, daß nur die genialsten Künstler imstande sind, ihre Aufgabe zu lösen. Das Individuelle charakteristisch zu fassen und auf eine Weise darzustellen, die nicht beleidigt, sondern erfreut, ist nicht bloß Sache des nachahmenden Talentes, sondern eine Arbeit des schaffenden Geistes. Das Porträt ist das schwierigste Objekt der bildenden Kunst.
Indessen war es nicht diese Schwierigkeit, die meinen Vater schreckte. Er war ein geborener Porträtmaler; seine besten Bilder waren Porträts, und alle seine Porträts waren Kunstwerke. Die unbedeutendste Natur fand unter seinen Händen für Bekannte wie für Freunde ihren Reiz; aber wir achten das am wenigsten, was wir am besten können. Mein Vater war sich, wenn er porträtierte, seines künstlerischen Schaffens kaum bewußt; er würde ebenso gern gedroschen haben, gehackt und gegraben, wenn diese Beschäftigungen ebenso lukrativ gewesen wären. Die Ideen drängten sich dergestalt in seiner Seele, daß er sich oft sechs Hände wünschte, um schneller damit zu räumen; aber die Herren und Damen, die ihm saßen, waren nicht seine Ideale. Wenn er sie auf seine reine Leinwand abschrieb – die er deshalb stets beklagte – hatte er mit Hamlet weder Lust am Weibe noch am Manne und konnte es niemals recht begreifen, warum die Leute sich nicht lieber etwas Schöneres malen ließen als ihre eigenen Kleider und Gesichter.
Dieser Vorwurf traf zwar nie die Dresdener, welche nach der Meinung meines Vaters zu gescheit waren, sich von ihm malen zu lassen; wenigstens war der Fall noch niemals vorgekommen und stand auch jetzt nicht zu hoffen. Um daher zu seinem Zweck zu kommen, mußte der verarmte Meister nicht nur eine Tätigkeit aufgeben, die ihn beglückte, sondern auch das noch schwerere Opfer des heimischen Herdes bringen. Wie ein junger Bursche mußte er auswandern, um sein Brot zu suchen, und ob er's finden würde, stand dahin, da nach solchem Kriege überall mehr Hunger als Brot vorrätig war.
Unter dem Vorwande, die Justinianische Galerie zu sehen, die damals in Berlin war, ging mein Vater fürs erste dorthin. Es war ein dunkler, naßkalter Novembermorgen, als er von uns Abschied nahm, und um so betrübter waren wir Rückbleibenden, als wir nicht allein den Vater verloren, sondern gleichzeitig unseren Rückzug aus den altgewohnten Räumen anzutreten hatten. Kaum war der Reisewagen abgefahren, so begann die Kramerei. Fast die Hälfte der Möbel wanderte auf den Boden, vieles wurde verkauft, und der Stolz des Hauses, das herrliche Marienbild, fand fürs erste in dem Atelier des Vaters ein gedrücktes Unterkommen. Im folgenden Jahre ward es sogar verkauft und verschwand für immer aus unseren Augen. Das war ein Todesfall in der Familie.
Wir fanden uns nun, wenn man die Zimmer des Vaters abrechnet, von denen er keins entbehren konnte, auf drei kleine Piecen reduziert. Senffs ehemaliges Zimmer avancierte zum Salon, nebenan schliefen Mutter und Schwester, mein Bruder und ich in der nach dem Hofe gelegenen Küchenstube, die bei Tage die Köchin innehatte. Unser Leben zog sich eng zusammen, es wurde kleiner und bedingte allerlei ungewohnte Tätigkeit. Mit einer Aufwärterin, die des Morgens auf einige Stunden kam, teilte meine Mutter die Dienste des entlassenen Stubenmädchens, und wir Knaben wurden unsere eigenen Stiefelputzer. Aber niemals hatten wir glänzendere Stiefel als gerade in jener ärmlichen Periode.
Ich kann nicht leugnen, daß, nachdem die erste Wehmut überwunden, diese Beschränkungen auch ihre Reize hatten. Das engere Aneinander erwärmte Leib und Seele. Es war, als wenn man sich auch geistig näher gerückt wäre, und das Bewußtsein, den Vater zu erleichtern, wog den verlorenen Raum auf. Selbst die Mutter, die am meisten hergegeben, schien nichts zu vermissen. Sie war immer heiter und dankte Gott für alles, denn sein wunderbarer Ratschluß wandelte ihr bereits das Leid in Freude.
Der treffliche Friedrich, aus dessen Landschaften immer tiefer Sinn sprach, hatte in jener Zeit ein schönes Bild vollendet. Auf hohem Felsenkegel, der, aus dunkler Tiefe aufsteigend, in den heiteren Morgenhimmel ragt, steht ein Kreuz. Daran klammert sich mit der einen Hand ein Weib, während sie die andere hilfreich dem nachkletternden Manne reicht. Das war ein rührendes Kapitel aus der Geschichte der Menschheit und insbesondere die Geschichte meiner Eltern. Die Mutter war vorangepilgert auf dem Glaubenspfade. Sie erreichte zuerst die Höhe, da ihres Herzens Trost stand, und zog jetzt den Mann nach, den sie liebte.
Es ist schon gesagt worden, daß in der Seele meines Vaters kein Widerspruch gegen die Richtung seiner Frau war. Im Gegenteil schien er das Christentum von Jahr zu Jahr mehr zu respektieren und konnte sich mitunter an geistlichen Gesprächen sehr erwärmen. Aber zwischen einem »Nicht nein« und einem »Ja« ist noch ein Unterschied. Das Wort vom Kreuz war ihm zwar keine Torheit, aber zu einer Kraft Gottes war es ihm auch noch nicht geworden; er verachtete es nicht, liebte es vielmehr, mochte es aber ansehen, wie er auch den griechischen Mythus ansah, in dem er vorzugsweise lebte, nämlich als Bild und Gleichnis, als ein Stammeln von schönen, unaussprechlichen Dingen.
Nun ward das alles anders. Auch meinem Vater wurden die Augen aufgetan, und seine Briefe gaben Zeugnis, daß er das heilige Brot des Lebens, welches ihm so lange nur Schaugericht gewesen, jetzt wirklich ergriffen habe, es genieße und daran erstarke. Er wußte es, daß auch sein Name eingetragen sei in das Buch des Lebens, und dies Bewußtsein verjüngte ihn, daß er auffuhr wie ein Adler. Er war ein neuer Mensch geworden.
Wie solches zugegangen? Wer mag das sagen! Gott läßt sich nicht in seine Werkstatt schauen, und mein Vater mochte es selbst nicht wissen. »Der Wind bläst, wo er will, und du hörest sein Sausen wohl, aber du weißt nicht, von wannen er kommt und wohin er fährt; also ist ein jeglicher, der aus dem Geist geboren ist.« Es ist unmöglich, den Hergang dessen, was wir Bekehrung nennen, an sich und anderen zu begreifen. Unbewußte und unerkannte Kräfte influieren, und was den einen fördert, hindert den anderen. »Wenn Sie ein Schlachtfeld gesehen hätten,« sagte meinem Vater der russische General Cancrin, »Sie würden nicht an Gott glauben.« – »Und wenn ich niemals an ihn geglaubt hätte,« erwiderte Onkel Georg, »auf dem Schlachtfelde hätte ich ihn erkannt.«
Dasselbe wirkt nicht dasselbe, und man sieht, daß Schlachtfelder es nicht allein tun. Es kommt alles auf die Leute und auf den Zug der Gnade an. Der zerbrochene Wohlstand meines Vaters, der plötzlich wie ein lockeres Gerölle unter seinen Füßen wich, hätte ihn auch in den Abgrund reißen, seine Seele verbittern und erschlaffen können; aber das Kreuz stand über ihm, und die Hand der Mutter war auch noch da.
So viel wissen wir, daß das Evangelium den Armen gepredigt ist, und daher mochte es auch mein Vater besser verstehen, als er arm ward. Am Geiste arm, d.h. kindlichen und demütigen Sinnes, war er zwar immer, daher er auch keine Feindschaft gegen Gottes Wort empfand; aber seine Zuversicht stand weniger zu dem lebendigen Gott als zu dem metallnen Fundamente, auf das sein Haus gebaut war. Dieser Mammon war nun zerschlagen, und in den Trümmern fand der anfänglich Erschrockene eine köstliche Perle, die ihn weit reicher machte, als er je vordem gewesen. Es war ein heiliges Licht in seiner Seele aufgegangen, das von nun an die letzten Jahre seines reinen Lebens auf das lieblichste verklärte.
So war es, so fanden wir es, und so fanden es alle, die meinem Vater näherstanden. Von anderen ward er nicht begriffen. »Eine fast zur Schwermut oder Lebensmüdigkeit sich hinneigende Frömmigkeit,« schreibt sein Biograph, »erfüllte jetzt ausschließlich sein Gemüt, und die angestrengteste Tätigkeit im Bildnismalen, welches mit seinem künstlerischen Streben in offenbarem Widerspruche stand, verdüsterte seine nur ungern in der Wirklichkeit verweilende Einbildungskraft.« Es sitzen eben manchen Leuten wunderliche Brillen auf der Nase, daß es ihnen geht wie jenem Weisen Griechenlands, der den Schnee ganz ernstlich schwarz fand.
Mit dem selbstverleugnenden Fleiße meines Vaters war übrigens der Segen Gottes auch in anderer Art. Kaum war seine Anwesenheit in Berlin bekannt geworden, als er von allen Seiten mit Porträtaufträgen überhäuft ward. Es wurde Mode, ihm zu sitzen, und bald war vorauszusehen, daß ein Winter nicht hinreichen würde, auch nur die Köpfe alle derer auf die Leinwand zu bringen, die gemalt sein wollten. »Die guten Menschen«, schrieb der Vater, »halten sich für beleidigt, wenn man sie abweist.« Er konnte nicht begreifen, wie den Leuten soviel an seiner Pinselei gelegen sei, und neigte sich der Meinung zu, Berlin müsse von einem epidemischen Sitzungsfieber heimgesucht sein. Die alten Petersburger Preise fand er hier zwar nicht; aber wenn er der Anstrengung nicht unterliege, schrieb er der Mutter, und nur noch einige Jahre lebe, so hoffe er gewiß, sie nicht mittellos zu hinterlassen, und jedenfalls möge sie schon jetzt wieder eine Sommerwohnung suchen, denn auch ihm würden nach der angestrengten Arbeit Landluft und Ruhe guttun.
So flatterte denn wieder ein buntes Fähnlein am Lebensschiff, und mit Wonne segelten namentlich wir Kinder dem Frühlinge entgegen, der den Vater wiederbringen sollte und auch den Weinberg – als plötzlich ein sehr unerwarteter Zwischenfall meinen Bruder über Bord warf. Der Herzog von Bernburg machte nämlich die Proposition, ihm denselben als ständigen Gesellschafter für seinen Erbprinzen abzutreten, wogegen Se. Durchlaucht sich verpflichten wollte, die Zukunft des jungen Herrn in seinen Landen gnädigst zu versorgen.
Immerhin war dies ein glänzendes Anerbieten, und mein Vater legte die Entscheidung in die Hand der Mutter, welche durch den zu fassenden Entschluß nicht wenig beunruhigt war. Ihrem Herzen widerstand es ganz entschieden, den kleinen Jungen in so zartem Alter wegzugeben, namentlich an einen Hof; von der anderen Seite aber trug sie auch Bedenken, ihrem Manne in seiner bedrängten Lage durch eine vielleicht unbegründete Ängstlichkeit die Beruhigung zu rauben, eines seiner Kinder, und zwar so vorteilhaft, versorgt zu wissen. Diese Erwägung sowie die besonderen Umstände, der ernste, zuverlässige Sinn des Herzogs, der würdige Charakter der Herzogin, Beckedorffs aufrichtige Freundschaft und Starkes nahes väterliches Auge, gaben endlich den Ausschlag. Es wurde meinem Bruder angekündigt, was ihm bevorstand.
Uns Kindern machte dies Ereignis natürlich großen Eindruck. Die kleine Schwester weinte um den Verlust des Bruders; ich aber hätte ihn um seine glorreiche Karriere beneiden können, wenn er nicht mein geliebter Bruder gewesen wäre, dem ich von Herzen alles Gute gönnte. Er selbst war schwankend zwischen der Anhänglichkeit an Heimat und Familie und dem Gelüsten nach des Prinzen Ziegenböcken, im ganzen aber gar nicht abgeneigt, sich in der Welt zu versuchen und sein eigenes Brot zu essen.
Im Frühjahr 1816 brachte mein Vater, gleich nach seiner Rückkehr von Berlin, den jungen Kavalier nach Ballenstedt.