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Während seiner letzten Lebens- und Leidensjahre war es Wilhelm von Kügelgen eine wohltuende Beschäftigung, seine Jugenderinnerungen aufzuzeichnen. Wenn er den Seinigen sowie den Hausfreunden, zu deren großem Ergötzen, daraus vorlas, drangen diese in ihn, das anziehende Werk zu veröffentlichen. Endlich entschloß er sich zu einem Versuch, ob es wohl weitergehendes Interesse erregen könne. Er schreibt darüber an seinen Bruder am 2. Mai 1866:
»Mir ist es unglücklich gegangen mit dem Daheim. Ich schickte vergangenen Winter einen Beitrag ein: ›Erinnerungen an Roller‹, den ich mit einem höflichen Handschreiben zurückerhielt: ›weil der Artikel, seiner Länge wegen, die Grenzen des Daheim überschreite‹. Durch diesen Krebs ist mir die Tür für die Zukunft verschlossen, was mir leid tut, da es mir Vergnügen gemacht hätte, bisweilen etwas für das Blatt zu schreiben. Früher habe ich mancherlei für das ›Volksblatt‹ gearbeitet mit der Unterschrift: ›Vom Unterharz‹ – aber zu ernsten Sachen habe ich keine Lust mehr und noch weniger zu Tendenzerzählungen, wie sie das ›Volksblatt‹ wohl aufnimmt.«
Das war entmutigend gerade für Kügelgen, der sein Können, nach allen Richtungen hin, unterschätzte. So blieb das aufs schönste und sorgfältigste geschriebene Manuskript einstweilen liegen. Aber nach des Verfassers Heimgang ließ man den Hinterbliebenen keine Ruhe, noch einen Versuch zu wagen, und sie übergaben es dem Herausgeber des »Volksblatts für Stadt und Land«, Philipp von Nathusius, zur Beurteilung und eventuellen Herausgabe. Als dieser geistvolle Mann es eines Abends aufschlug, ward er schon durch die ersten Seiten so gefesselt und angezogen, daß er die ganze Nacht durch las und nicht loskommen konnte bis zum Ende. Die schöne Vorrede, mit der Nathusius die Jugenderinnerungen einführte, zeugt von vollem Verständnis für diesen »Schriftsteller gleichsam erst nach dem Tode«, wie der Herausgeber sich ausdrückt, »an dem kein Leser von Geschmack verkennen wird, wie sehr er zu einem Schriftsteller im Leben das Zeug gehabt haben würde«. – Ja, es berührt wohl tief wehmütig, daß Kügelgen selbst nur Zurückweisung erfuhr und keinen Teil haben durfte an der Freude der Seinen, als das Buch nun wirklich mehr und mehr ein Liebling großer Leserkreise wurde.
Nathusius sagt im oben erwähnten Vorwort:
»Aber der Hauptreiz dürfte doch in der Darstellung eines tiefinnerlichen geborenen Humoristen liegen; der echte Humor ist ja immer, gleich der Himmels- und Meeresbläue, gleichsam Durchscheinen der Tiefe durch das spielende Element, welcher auch das Geringste köstlich belebt und insbesondere für die Welt der Kindheit sich die naivste Frische des Blickes und der Empfindung bewahrt hat.« – So bieten Kügelgens Jugenderinnerungen in köstlichem Humor und tiefem Ernst anmutigen, vielseitigen Wechsel und gewinnen sich Freunde unter den verschiedensten Menschen jeden Standes und Alters; und dies warme Interesse an dem Buch überträgt sich vielfach auf die Angehörigen des Verfassers. Wo es auch sei – überall wird ihnen auf den Namen des »alten Mannes« hin ein freundliches Entgegenkommen und berührt sie gleichsam wie ein Segen des längst Heimgegangenen.
Mit dem grauenhaften Tode des Vaters schließt das Buch, und es regt sich bei den Lesern der begreifliche Wunsch, auch von dem ferneren Leben des jungen Wilhelm zu hören. Das Ob und Wie wurde vielfach in seiner Familie erwogen. Im Jahre 1871 schreibt in bezug darauf Kügelgens Schwester, Adelheid Krummacher, an dessen Gattin:
»Was Du nun über eine allgemein gewünschte Fortsetzung sagst – so ist es schwer für die Schwester, darüber zu urteilen. Ich sprach mit B. und R. davon; beide wünschen es, letzterer meint, es endige wie ein unaufgelöster Septimen-Akkord; das ist wahr, aber sein ganzes Leben war ein ungelöster Akkord, bei solchen Anlagen, solcher Begabung hat er sein Ziel auf Erden nie erreicht. B. meint, es müsse bloß referierend fortgefahren werden und dazu erläuternde Briefe eingestreut – ja – die müssen die Hauptsache bilden – aber wer seine überzarte Empfindung darin kannte – keine Briefe zu veröffentlichen, der zagt davor, und dann wieder, Julchen, denke ich, im Himmel denkt man gewiß anders darüber, wo das ganze Leben wie ein offenes Buch vor allen Engeln liegt. Du sagst: ›Ach, das viele Herzeleid späterer Jahre so vor aller Welt gedruckt zu sehen!‹ ja das begreife ich, und doch – welche Predigt diese seine Briefe aus jener Zeit! – Ich gestehe Dir, daß wir seinen Brief über Elisabeths Tod mehreren Freunden mitteilten – die so ergriffen waren wie vielleicht nie von einer Predigt und heiße Tränen vergossen. – Nun, das war das Ende, dazu ist es jetzt vielleicht zu früh. Aber aus früheren Zeiten ... da müßten sich doch Briefe finden, die wert wären, gelesen zu werden ...« Wer nun das kürzlich von zwei ihrer Enkelinnen herausgegebene »Lebensbild in Briefen von Marie Helene v. Kügelgen«, Wilhelms Mutter, zur Hand nimmt, kann in der oben erwähnten Weise seinen Lebensgang bis zum Tode dieser geliebten und verehrten Mutter, also bis zum Jahre 1842, verfolgen. Da tritt er uns teils in seinen eigenen Briefen, teils in denen seiner Mutter als Jüngling entgegen, den wir nach Estland, nach Rom begleiten. Dann lernen wir ihn als Bräutigam kennen, als jungen Ehemann seiner Julie, Tochter des Parabeldichters Friedrich Adolf Krummacher; sehen das neuvermählte Paar mit Mutter und Schwester abermals nach Estland in die mütterliche Heimat ziehen, durchleben mit dem jungen Künstler einige Zeit in Petersburg und kehren endlich mit der Familie nach Dresden zurück. Nach daselbst und in Hermsdorf glücklich verlebten Jahren folgte Kügelgen dem Ruf des Herzogs von Anhalt-Bernburg und zog als sein Hofmaler nach Ballenstedt im Jahre 1833.
Daß Wilhelm als Maler in die Fußstapfen seines Vaters treten würde, war von jeher als fraglos angesehen worden, obgleich er selbst starkes Bedenken trug, ob er sich bei dem ihm mangelnden Farbensinn für diesen Beruf eignen möchte. Daher wäre er, seiner besonderen Neigung und Begabung folgend, lieber Bildhauer geworden; doch sein Vater legte auffallenderweise diesem Bedenken keine Wichtigkeit bei; der gehorsame Sohn fügte sich und hat dann lebenslang aufs quälendste empfunden, wie gerade jener Mangel ihm seine Künstlerlaufbahn erschwerte. Er fühlte stets vorwiegend die Mühsal seiner Arbeit und wurde selten so recht des Gelingens froh.
So mögen die namhaften, ausgezeichneten Männer, es sei hier nur der Erzieher des damaligen Erbprinzen von Anhalt-Bernburg, der Geheimrat Beckedorff, genannt, wohl richtig geurteilt haben, wenn sie dem geistig reich begabten Jüngling rieten, lieber zu studieren, da sie ihn für befähigt hielten, einst im Staatsdienst Wesentliches zu leisten. Seine Interessen waren von Jugend auf und mehr und mehr sehr vielseitiger Natur. Nächst den religiösen und theologischen Fragen beschäftigten ihn wissenschaftliche. Philosophie und Politik trieb er mit großem Eifer, und es ist merkwürdig, wie er in seinen politischen Betrachtungen, dem Bruder gegenüber, oft fast prophetische Äußerungen tut.
So schreibt er am 2. Mai 1866: »Was nun weiter wird, kann man nicht wissen; ich aber glaube, daß wir, wenn Bismarck leben bleibt, ein einiges Deutschland kriegen werden, unter Preußens Ägide.« – Wenn es denn auch manchmal so scheinen mochte, als hätte er seinen eigentlichen Beruf verfehlt, so wußte er selbst das besser, wie man das z.B. aus einem Briefe an seine Cousine Helene v. Kügelgen ersehen kann. Er schreibt:
»Dein äußerlich stilles, bewegungsloses Leben deckt ein gewaltiges inneres Wogen. Dies innere Leben mit seiner Frische erhalte Dir Gott und verkläre es mit dem Atem seines Mundes, daß es eine Flamme werde, die je mehr und mehr ihm brenne! Du bist nicht geschaffen, einen Frieden zu finden, wie ihn manches liebenswürdige Phlegma mit auf die Welt bringt, und der auch eine Gottesgabe ist, aber Du hast einen anderen oder wirst ihn haben, der von sich selbst weiß, daß er ein Erguß ist aus dem Born des ewigen Lebens. Hier in diesem Erdenleben ist meist Krieg, und die den Frieden suchen, sind Streiter, die ihn in dem Mute finden, den ihnen der Herr schenkt, und deren Weisheit ist, daß ein jeder von seinem Platze wisse, es sei der ihm bestimmte, sein rechter und sein bester. Wer auf sich sieht, wird dies nie finden, wer aber auf Gott sieht, wird wissen, er stehe auf seinem Posten nicht für sich, sondern für ihn. Ihm stehen und ihm fallen wir. Nur darin, daß wir uns selbst aus den Augen verlieren, können wir ihn finden, und in ihm gewinnen wir uns dann wieder. Wir suchen das Leben und finden es im Tode, wir wollen Frieden und finden ihn im Kriege, wir sehnen uns nach Freiheit und finden sie nur im Gehorsam. Es soll dies keine eiskalte bittere Resignation sein, kein verdrießlicher oder verzweifelter Selbstmord, aber ein Tod ist's immer, und der Tod ist, wie Du weißt, die Pforte des Himmels. Stillings Urania im Heimweh trug die Maske des Todes.«
Auch Luthers Wort könnte hier Anwendung finden: »Unser Herrgott ist ein Drucker, der die Buchstaben von hinten hineinsetzt, so daß man es nicht lesen kann. Wenn wir aber drüben in jenem Leben abgedruckt werden, so werden wir alles ganz deutlich von vornherein lesen können. Indessen müssen wir Geduld haben.«
In einer Rezension des oben erwähnten Lebensbildes von Wilhelms Mutter gibt der Redakteur der St. Petersburger Zeitung Paul v. Kügelgen eine vortreffliche Charakteristik seines von ihm innig verehrten Onkels, die mit seiner Erlaubnis hier beigefügt sei.
»Immerhin spielte der Sohn in der Lebensgeschichte der Mutter, zu der er stets, ob nah ob fern, in der lebendigsten Beziehung stand, eine so große Rolle. Lebte die Mutter doch auch lange Jahre bei ihm und starb in Ballenstedt am 24. Mai 1842. So gewinnt der Leser die wertvollsten und tiefsten Blicke in das hochinteressante, an Widersprüchen und inneren Kämpfen ungemein reiche Seelen- und Geistesleben dieses hochbegabten Mannes. Wilhelm war Maler von Beruf und es fehlte ihm auch keineswegs an Erfolgen, doch war seine grausame Selbstkritik der ärgste Feind seiner Produktivität. Ein tief religiöser Mensch, aber zugleich ein philosophischer Kopf, ein Grübler, hatte er auf demselben Boden, auf dem sich das Wesen seiner herrlichen Mutter wie auf einem unerschütterlichen Felsen aufbaute, die schwersten Kämpfe zu bestehen, bis auch er durchdrang. Ein Humorist voll innerer Tiefe und von sprudelndem Witz war er zugleich Melancholiker und Stimmungsmensch. Ein vornehmer Mann von seltener geistiger Begabung und universaler Bildung, mußte er sein Leben und seine Kraft im Hof- und Krankenwärterdienst zersplittern, er, der schon bei Lebzeiten unter glücklicheren Umständen einen Einfluß hätte haben können, wie er ihn erst nach seinem Tode durch sein köstliches Buch auf viele, unendlich viele gewonnen hat. Ich kenne keinen größeren und liebenswürdigeren Meister des Briefstils als den »alten Mann«, auch in den jüngeren Jahren seiner vollsten Geisteskraft. Die ausführliche Korrespondenz mit seinem kongenialen Bruder Gerhard, der als Landwirt ein halbes Jahrhundert in Estland das Gut Finn bewirtschaftete und in Reval begraben liegt, ist eins der wertvollsten, amüsantesten Bücher, die ich kenne.«
Wir haben Kügelgen aber eben selbst sagen hören: »daß ein jeder wissen müsse, der ihm bestimmte Platz sei sein rechter und sein bester«, und daher bedarf der Ausspruch seines Neffen: »Er mußte seine Kraft im Hof- und Krankenwärterdienst zersplittern« einer mildernden Ergänzung.
Als Kügelgen mit den Seinen in Ballenstedt einzog, fand er das Städtchen im tiefen Schlaf des ödesten Rationalismus und sein innerer Mensch mußte sehr darben, um so mehr er in Dresden durch den erwärmenden Verkehr mit christlichen Freunden verwöhnt war. Doch blieb ihm die altvertraute herrliche Natur der Umgebung Ballenstedts eine reiche Quelle der reinsten Freuden, für die er auch seinen Kindern früh das Auge öffnete. Mit seiner geliebten Julie und der fröhlichen kleinen Schar in Wäldern und Bergen zu schweifen, blieb ihm und den Seinen das höchste Vergnügen. Er hatte eine ganz eigne Gabe, Kind mit den Kindern zu sein und ihnen dabei den größten Respekt einzuflößen. Große Freude hatte er an seinen drei prächtigen Jungen, von denen er viel rühmt, daß, obgleich sie fortwährend balgten und kämpften, doch nie im Ernst eine Uneinigkeit unter ihnen vorkäme. Und was das Hofleben anbetrifft, so war es allerdings an und für sich seiner Natur nicht sympathisch, dennoch muß man sagen, daß er einen großen Teil des Besten, was sein neuer Wohnort ihm bot, grade durch den Hof und seine Stellung zu demselben gefunden hat. – Nach dem Tode des Landesherrn vermählte der junge Herzog Alexander Carl sich mit der Prinzeß Friederike zu Schleswig-Holstein-Glücksburg und führte in dieser seiner Gemahlin dem Lande einen großen Segen zu. Die junge Fürstin war im positiven Bibelglauben erzogen und hielt mit ihrem Bekenntnis nicht zurück. Zum großen Teil durch ihren Einfluß regte sich mehr und mehr christliches Leben in ihrer Umgebung, gläubige Prediger wurden berufen und zur Seite der Herzogin waren dauernd oder besuchsweise hervorragende Persönlichkeiten, die ebenfalls durch Wort und Wandel Zeugnis gaben von ihrem Leben in Gott. – Da die junge Landesmutter in Wilhelm bald einen Gesinnungsgenossen erkannte, zog sie ihn näher an sich heran und er wurde ihr mit der Zeit ein wahrer Freund, ein treuer Berater, eine kräftige Stütze in schweren Zeiten, die in verschiedener Weise reichlich über die Herzogin hereinbrachen.
Kügelgen schreibt einmal: »Ich habe die Herzogin lieb, weil sie so außerordentlich ehrlich ist, wie sonst kein andrer Mensch auf der Welt. Wenn der ehrlichste Mensch überhaupt schon eine Seltenheit ist, so ist er in so hoher Stellung eine noch viel größere. So war die sehr kluge und hochbegabte Fürstin auch ein aufrichtiges Gotteskind und trachtete ehrlich, vor allen Dingen, nach dem Reiche Gottes.« – Aber ihren Beruf, an der Spitze eines irdischen Reiches zu stehn, hielt sie auch hoch und neben den ernsten Pflichten, die ihr als Landesmutter oblagen, liebte sie auch fürstlichen Glanz zu entfalten und fand Freude an Festen und Frohsinn aller Art. Kügelgen wurde viel an den Hof gezogen; seine ungewöhnliche Unterhaltungsgabe wußte man zu schätzen, und als man seine hübschen Talente entdeckte, wurde er geradezu bestürmt und nicht losgelassen, bis er auch diese in den Dienst seiner Gebieterin stellte. Mit einiger Selbstverleugnung dichtete er allerliebste Festspiele, voll Humor, Sinnigkeit und Originalität, setzte sie, zur Verherrlichung hoher Geburtstage, in Szene und erntete vielen, oft gerührten Dank und lebhaften Beifall.
Auch der Herzog bevorzugte Kügelgen sehr. Er hing mit sehnsüchtiger Liebe an der alten Zeit, in der nach seiner Meinung alles viel besser gewesen war, als in der Gegenwart; daher fühlte er sich auch besonders zu solchen hingezogen, die er als Knabe und Jüngling gekannt hatte. Wilhelms jüngerer Bruder Gerhard war ja mit dem jungen Erbprinzen zeitweilig erzogen worden, und daher hatte Wilhelm auch ab und zu Ferientage in der herzoglichen Familie verlebt. So kam ihm der Herzog als altem Bekannten entgegen, ließ sich öfter von ihm auf seinen Ausfahrten begleiten, wo, im vertraulichen Gespräch, alte Erinnerungen aufgefrischt wurden und Kügelgens humor- und gemütvolle Art, auf die Ideen seines Herrn einzugehen, diesem die Unterhaltung mit ihm besonders anziehend machte.
Aber wie schon gesagt, es gab nicht nur Freudentage und hohe Feste am Hof, sondern auch sehr schwere Zeiten. Ein stetes immer tiefer eingreifendes Leid für die Herzogin war die fortschreitende geistige Krankheit ihres Gemahls mit allen Konsequenzen. Und wie tief griff auch die Revolutionszeit in ihr Leben ein. – Doch das sind Dinge, die der Geschichte angehören, hier möge nur einer kleinen halb komischen Episode gedacht werden. Kügelgen schreibt seinem Bruder am 21. März 1848: »Ich habe diese Nacht mit geladenem Gewehr geschlafen und erwarte jetzt stündlich die Aufforderung, mich in die Reihen der Bürgerwehr zu stellen. In jedermann regt sich ein kriegerischer Geist und vielleicht ist dies die Ahnung einer rasch herannahenden kriegerischen Zeit. Jetzt muß bei uns geschehen, nicht was berechnet ist, sondern was ein innerer Lebensdrang fordert, und in diesem Augenblick angegriffen, glaube ich, würde Deutschland alle Feinde aus dem Felde schlagen.
Die Freude über das bis jetzt erworbene Gute wird mir immer mehr und mehr durch den Gedanken getrübt, daß wir durch Revolution dazu gelangt sind. Ich habe eine tiefe Traurigkeit in der Seele und vor meinen Augen steht ein schauderhaftes Bild, die Leichenhügel Berlins. Vor meinen Ohren tönen die gräßlichen Flüche, die gegen den König ausgestoßen wurden und noch immer werden. Es ist eine so schmerzliche und gewaltige Aufregung in mir, daß ich nicht schlafen kann, daher ich mich gestern recht freute, als ich zur Nachtwache kommandiert wurde. Wir waren in der Wachtstube auf dem Rathause ungefähr sechzehn Mann und patrouillierten die ganze Nacht von 10 - 3 durch die Stadt und um die Stadt herum. Obgleich ich gestern nachmittag zu Fuß in Meisdorf gewesen war, auch Kopfschmerzen und tüchtige Kreuzschmerzen hatte, so waren mir bei dieser Aufregung die nächtlichen Gänge doch eine wahre Wohltat, indem ich hernach von 3 Uhr an wenigstens recht gut schlafen konnte. Die ganze Sache war eigentlich mehr zum Lachen als zum Weinen. Z.B. den alten v.A. unter dieser nächtlichen Wachtmannschaft zu erblicken, war unbezahlbar. Wir waren vier Edelleute und zwölf Bürger, unter denen Kaufleute, Schneider und Schuster, auch ein Jude. In der Wachtstube wurde geraucht, Punsch und Bier getrunken und v.A. hatte es übernommen, durch Erzählungen aus seinem Kriegsleben die ganze Gesellschaft bestens zu unterhalten. Er war mein Nebenmann, und wenn wir die Wachtstube verließen und unsere Runde machten, mußten wir herzlich lachen über das Sonderbare der ganzen Situation. Übrigens muß ich sagen, daß unsre Bürger, die alle in Uniform und bis an die Zähne bewaffnet waren, sich allerliebst benahmen und gegen uns Vornehmere so rücksichtsvoll und artig, so dienstfertig und bescheiden waren, als wenn alles noch beim alten wäre. – Heute nachmittag versammeln wir uns auf dem Rathause, um eine Kommunalgarde zu bilden zum Schutze unseres Ortes. Ich bin sehr neugierig, was da herauskommen wird. Für jemand, der in einem ruhigen Lande lebt, muß das alles sehr komisch sein. Ich komme mir ganz wie toll vor, daß ich jetzt immer nach dem Rathause laufe, öffentlich rede und streite und in der Nacht mit v.A. spazieren gehe. Aber in diesem Augenblick muß jeder zugreifen, wo er nützen kann, denn eine gesetzlich bestehende Macht liegt nur noch in der Observanz.
25. März. Nun, mein teurer Gerhard, will ich noch dies eine Blatt beschreiben, um den Brief zu schließen. Ach, alter Junge, wenn Du Dir nur denken könntest, wie sonderbar mir zumut ist. Meine Träume sind Wahrheit geworden und mein Wachen ist ein Traum. Wenn ich morgens aufwache, atme ich frei auf und danke Gott, daß alles ein Traum gewesen, bis ich mich besinne, daß der Traum Wirklichkeit ist. Deutschland kommt mir vor wie eine Seifenblase, die jeden Augenblick zerplatzen kann. Von jeher habe ich nichts mehr gefürchtet als eine Revolution, die ich im Geiste sicher kommen sah und die mich nun mit gewaltigem Wellenschlag umflutet. Alle und jede Autorität ist aufgehoben und ein jeder gilt nur, insofern er geliebt oder populär ist. Die mannigfaltig gestörte öffentliche Ordnung besteht nur noch durch alte Gewohnheit und durch den Respekt, den die Bürgergarden einflößen. Dieser Respekt ist nicht größer als eine Erbse, aber doch besser als gar keiner ... Mein Gerhard schreibt fleißig von Bernburg und steckt bis über die Ohren in seiner Zeit. Meine Kinder sind ganz außerordentlich glückselig und vergnügt, wie Kinder es immer sind in Zeiten, die den Alten das Herz brechen. Alle Jungens wollen nun Soldaten werden, da ist keine Rettung mehr. Gerhard schreibt: Die Lehrer am Gymnasium vergäßen jetzt immer Arbeiten aufzugeben, das wäre wohl das sicherste Zeichen einer höchst bedeutungsvollen Zeit.«
Im Januar 1853 verlor Kügelgen seine älteste, 24jährige Tochter nach längerem Leiden. Der heiße Schmerz um dies geliebte Kind übte auch Einfluß auf sein ohnehin schwaches körperliches Befinden. So war es ein Glück für ihn, daß er gerade jetzt zum Kammerherrn des Herzogs berufen ward. Er sagt davon: »14 Tage vor dem Ende meines Kindes wurde ich denn wirklich Kammerherr. Sie freute sich noch darüber und besah sich lange den goldenen Schlüssel, den ich ihr brachte, mit großem Wohlgefallen an der schönen Arbeit.« – Die angestrengte Arbeit in seinem Künstlerberuf war mehr und mehr unvereinbar geworden mit den geselligen Anforderungen, die der Hof an ihn stellte. Nun konnte er den Pinsel niederlegen, und sein Leben im Dienste des Herzogs gestaltete sich einheitlicher, allerdings mit dem zunehmenden kranken Zustand des armen Herrn auch immer angreifender, ja aufreibend für seine schwache Kraft. – Der kranke Herr siedelte in sein Schloß zu Hoym über, wo er in der Pflege seines neu hinzugezogenen Arztes, Doktor Vorster, ein ruhiges, geregeltes Leben führte. Einer seiner Kammerherren war natürlich stets um ihn, so daß Kügelgen von da an abwechselnd eine Woche in Hoym beim Herzog, die andere in Ballenstedt bei den Seinigen zubrachte. Die Herzogin besuchte ihren Gemahl treulich, lebte zuweilen tagelang im Hoymer Schloß und weilte sehr gern in den weiten Räumen, deren Wände mit Familienbildern der alten anhaltischen Fürsten und anderer hoher Häupter, meist in ganzer, lebensgroßer Figur geschmückt waren, und dessen Lage an einem schönen Park freundlich anmutete. – Das Hoymer Leben war sehr geregelt; tägliche Spaziergänge und Fahrten, allabendlich Quartett von Musikern der Hofkapelle meisterhaft ausgeführt, für Kügelgen ein wahrer Genuß. Der Herzog liebte auch selbst leichte Stückchen vierhändig vorzutragen. Kammerherr und Doktor spielten Billard, und der hohe Herr sah ihnen gern dabei zu. – Mit rührender Geduld und Treue stand Kügelgen seinem kranken Herrn zur Seite, da er ihn wahrhaft lieb hatte. Er wußte durch sein stets bereites Eingehen auf dessen seltsame Einbildungen, durch seinen herrlichen Humor und sein beruhigendes Wort den oft Lebensmüden und Geängsteten immer wieder zu erheitern und mit dem Dasein auszusöhnen. Das erkannte der Herzog aber auch an und dankte es seinem treuen Diener wohl durch Äußerungen wie: »Sie haben es doch immer recht gut mit mir gemeint« und ähnlichen mehr. So schreibt Wilhelm nach dem Heimgang seiner Tochter dem Bruder noch aus Ballenstedt, am 1. Februar 1853. »Gestern ging ich zum erstenmal nach Berthas Tode wieder aufs Schloß, um den Herzog zu begleiten. Als er aus seinem Zimmer trat, ergriff er meine Hand und sagte mir wiederholt mit dem Ausdruck der größten Teilnahme: »Ich habe Sie doch sehr bedauert, ich habe Sie doch recht sehr bedauert;« und dann drückte er mir die Hand und sagte: »Ihre Tochter war doch immer so ruhig und so freundlich und so gut, sie hat mich auch recht lieb gehabt, und ich bedaure Sie doch recht sehr, recht sehr.« Als wir in der Kalesche saßen, nahm er wieder meine Hand und sagte: »Sie haben doch noch zwei Töchter, die sind doch auch recht gut und freundlich, die können Ihnen doch auch noch viel Freude machen.« Später faßte er wieder meine Hand mit seinen beiden, sah mich überaus teilnehmend freundlich an und sagte: »Es ist doch wenig Gutes mehr, Sie passen doch auch nicht mehr in die Zeit, ich auch nicht, und es wird gut sein, wenn wir auch bald in die Ewigkeit gehen.« Auf dem ganzen Wege war der Herzog ernst, freundlich, ruhig, teilnehmend, wie ich ihn noch nie gesehen habe, und ich muß sagen, daß dies sein hübsches Benehmen mich auf das allertiefste rührte und mir tröstlicher war als alle andere Teilnahme, die ich erfahren, was nur der begreifen kann, der den Herzog so genau kennt wie ich.«–
Und neun Jahre später, als auch die jüngste Tochter nach schwerem Leiden heimgegangen war: »Gestern sagte mir der Herzog ganz plötzlich, nachdem er den ganzen Tag geschwiegen hatte: ›Ich habe in der langen Zeit, wo Sie gar nicht wiederkamen, immer an Sie gedacht und ich habe immer gewünscht, daß ich Sie noch einmal wiedersehen möchte.‹
Danach verfiel er wieder in sein Schweigen, aus dem er nicht zu erwecken war. Tief in seinem Innern ist doch ein Herz verschlossen und solche Äußerungen sind sehr hoch aufzunehmen, da er das Bestreben, den Leuten Angenehmes zu sagen, durchaus nicht kennt, vielmehr größere Neigung zum Gegenteil hat.«
Dies, Kügelgens jüngstes Kind, ein schönes, kluges, fröhliches Mädchen, zog sich entsetzliche Brandwunden zu und starb nach sechswöchiger namenloser Qual; aber mitten in der Leidenstiefe gehoben und getragen durch das Erbarmen ihres Heilands, der sie in der größten Leibes- und Seelennot ganz zu sich zog, so daß sie in all ihrem Elend ganz beseligt loben und preisen konnte. – Von diesem herzzerreißenden, aber zugleich hocherhebenden Leiden und Sterben schreibt der tiefgebeugte Vater seinen Geschwistern aufs ausführlichste in ergreifendster, erbaulichster Weise. Nachdem er in einem der Briefe die aufopfernde, helfende Teilnahme der Freunde des Hauses und namentlich auch des treuen Arztes und der »Schwester Amalie«, die wie ein guter Engel die Kranke an Leib und Seele pflegte, dankbar gerühmt hat, fährt er fort: »Heute (am 19. Nov., zwei Tage nach Elisabeths Tode) endlich ist die Sonne durchgebrochen, nachdem fast die ganze Krankheitszeit hindurch ein dicker, undurchdringlicher Nebel auf uns lag. Details vom Krankenlager kann ich noch nicht geben, ich bin dazu noch zu wund, begreife eigentlich nicht, daß ich noch lebe. Es ist eine furchtbare Zeit – doch auch gnadenreich. Mit welcher Innigkeit unsere Elisabeth sich an ihren Heiland angeschlossen, ist nicht zu sagen; ihr nach blickt der ganze Freundeskreis nach oben, schnappt nach Himmelslust. Es ist eine Weckstimme durch Ballenstedt erschollen vom Himmel her. Elisabeth ist auch für ihre Freundinnen mit gestorben. Auch die steinalten B.s sind davon angetan und wenden sich zu Christo dem Erlöser; sie sind mir unbeschreiblich lieb geworden ...« Aus einem Brief an die Schwester, 13. März 1863: »Wir sind alt und gebrochen, und ob wir etwas gelernt haben, das weiß Gott allein. Ich möchte nichts mehr lernen, als mich Gott ergeben, wie mein armes Kind sich ergeben hatte, aber ich glaube, man lernt dies erst recht in der Todeskelter, wenn gar nichts anderes mehr übrigbleibt.«
Erst lange nach dieser Leidenszeit, durch welche die von Jahr zu Jahr merklich abnehmende Lebenskraft Kügelgens ganz zerbrach, konnte er seinen Dienst beim Herzog wieder antreten, der auch nicht mehr lange währen sollte, denn mit dem armen kranken Herrn ging es schnell dem Ende zu.
Während seiner letzten Lebensjahre war Kügelgen schwer heimgesucht durch die mannigfachsten körperlichen Leiden und auch durch schwere geistige Anfechtungen. Er konsultierte viele Ärzte, suchte in Halle die größten Autoritäten auf: Gräfe, Richard Volkmann, der ihn auch in Ballenstedt besuchte, den Homöopathen Lutze in Köthen – keiner konnte ihm helfen; es war alles krank in ihm, wie sich nach dem Tode herausstellte.
Sein Haus war häufig belebt durch Besuch von Freunden und Verwandten. Die der Familie besonders nahestehenden Töchter seines Schwagers Friedrich Wilhelm Krummacher brachten abwechselnd wochen- und monatelang, in wohltuendster Weise, Leben und Anregung ins Trauerhaus. Zuweilen brachte aber auch gar zu große Überfüllung des Hauses, wenn auch durch noch so liebe Gäste, zu viel Unruhe für seine schwache Kraft, worüber er sich einmal so ausläßt: »Denn wen die Götter zu einem Gast prädestiniert haben, dem haben sie auch etwas von der Heuschreckennatur eingeschaffen, die sich nur massenweise am Platz fühlt.««
Mehrmals waren auch halberwachsene Nichtchen auf längere Zeit im Hause, dem mit Elisabeth der Gesang verstummt, der Sonnenschein entschwunden war. In diesen frischen Kindern fand der sein jüngstes Töchterchen zu schmerzlich entbehrende Vater eine Art von Ersatz – wenigstens etwas Erheiterung und Zerstreuung. Vor allem wuchs ihm ein jugendliches Pflegekind ans Herz, von dem er sagt: »Ihre Zähmung macht mir Freude, ihre Originalität ist mir verständlich und ihre geräuschlose Tapferkeit respektabel.«
So blieb er trotz Herzenskummer und Leibesschwäche doch immer dem Leben erschlossen und erhielt sich bis zuletzt eine auf seine Umgebung unbeschreiblich wohltuend wirkende Jugendlichkeit, wie er auch selbst sagt: »Ich sehe nicht ein, warum das Alter so ledern sein soll und keine Freundschaft haben. Mein altes Herz ist immer noch etwas frisch.«
Im Oktober 1865 schrieb er: »Gestern hatten wir den lieblichsten Sommertag, der mich zu weitem Gange verführte. Ich setzte mich unter duftende Kiefern, zog mein Taschenbuch heraus und dichtete wieder einmal wie in früheren Tagen. Was einem etwa Gutes einfällt, in schöne Form zu kleiden, ist doch ein großes Vergnügen.« – Einige seiner Gedichte aus verschiedenen Zeiten wären hier wohl am Platz.
Ein heiliges Bild.
In meinem Herzen wohnt ein heil'ges Bild,
Das licht- und glanzvoll, göttlich mild
Durch meine ganze Seele Zauber gießet.
Allstündlich neu mit Freundesblick mich grüßet.
O meines Erlösers Bild!
Heilig und lauter und hell,
Der himmlischen Seligkeit Quell,
Die mir das Herz erfüllt.
Aus Gott geborne Freude! still und rein,
Dir laß mich meines Herzens Lieder weihn,
Denn ohne dich sind alle Seligkeiten
Der Menschenbrust wie Babels Trauerweiden.
An denen die Harfe hängt,
Schweigt, trauert und bebt,
Weil der ihr nicht lächelt und lebt,
Der ihr die Lieder schenkt.
In meinem Herzen wohnt ein süßes Licht,
Ein Widerschein von Gottes Angesicht.
Nun kenn' ich nicht die Dunkelheit des Todes,
O heil'ges Bild! du Lächeln meines Gottes.
Selbsterkenntnis.
Warum willst du immer weinen,
Wende doch den trüben Blick
Nur ins eigne Herz zurück.
So wird reicher Trost erscheinen.
Magst's ja redlich mit mir meinen,
Aber grade weil mein Blick
Fiel ins eigne Herz zurück,
Darum muß ich immer weinen.
Nein, mein Herr! du sollst nicht von mir weichen:
Bleib, mein Heiland, denn ich muß vergehen,
Wenn dich meine Augen nicht mehr sehen,
Meine Bitten dich nicht mehr erreichen.
Ach, dann schweigen alle meine Lieder,
Und vor meines Herzens innrem Schreine,
Sonst so licht in deines Lichtes Scheine,
Senkt sich schwarz ein schwerer Vorhang nieder.
Ohne dich, wie eine öde Kammer,
Die nach Todesfällen ausgeleeret,
Luft und Licht und jedes Schmucks entbehret,
Ist mein Herz voll Finsternis und Jammer.
Mit dir kenn ich weder Furcht noch Schrecken,
Ich bin selig mit dir schon auf Erden
Und will ewig mit dir selig werden,
Wenn mich jenes Tags Posaunen wecken.
Drum so bleib und laß mich nicht verwaisen.
Fülle mich mit Licht und Freude wieder
Und erwecke meines Herzens Lieder,
Daß sie dich bis an mein Ende preisen.
Himmel und Erde.
Das Antlitz der Erde ist dunkel und schön
Mit tiefen Gewässern und bergigen Höhn,
Umgaukelt von Zaubergestalten.
Ich liebe die Erde, es neigt sich mein Sinn
Ohnmächtig zu ihren Umarmungen hin,
Die schmeichelnd gefangen mich halten.
Das Antlitz des Himmels ist strahlend und rein,
Blickt heiter ins Dunkel der Erde hinein
Und schmückt es mit farbigem Leben.
Mein Auge strebt aufwärts, ich suche das Licht,
Ich lieb' es, doch ach! – ich begreife es nicht,
Weil nächtlicher Wahn mich umgeben.
Das Antlitz des Menschen ist düster und wild.
Ist traurig und fröhlich und selig und mild
Nach Himmel und Erde gewendet.
Wohl neigt sich zur Tiefe mein träumender Blick.
Doch Gottes Erbarmen hebt ihn zurück
Zur Höhe, die Leben mir spendet.
In ein Gebetbuch.
Alle Stunden will ich denken,
Herr! an dich und deine Treue,
Und du wollest mir aufs neue
Stündlich deine Gnade schenken.
Daß ich endlich lernen möge,
Alle Stunden dir zu sterben
Und das Leben zu erwerben,
Wenn ich mich zum Tode lege.
Die Braut seines ältesten Sohnes, die dieser, in Begleitung ihrer jüngeren Schwester, dem Elternhause zu längerem Besuch zuführte, wurde Kügelgen eine liebe Tochter, die ihn später wie ein leibliches Kind in der letzten Todesnot pflegen half und es in ihrer eigentümlichen Art so allerliebst verstand, ihr »geliebtes Papachen« zu erheitern, obgleich sie damals selbst in tiefster Trauer war um den heißgeliebten Bräutigam.
Dieser älteste Sohn war dem Vater besonders geistesverwandt und stand ihm von frühster Kindheit an innig nah.
Und dieser geliebte Sohn, eben Hauptmann geworden und nahe vor seiner Hochzeit stehend, zog in den Krieg und fiel bei Stalitz am 28. Juni 1866, als er zum erstenmal seine Kompagnie dem Feind entgegenführte.
Der schwergetroffene Vater schreibt seinem Bruder, nachdem er ihm den Heldentod seines Gerhard nach den brieflichen Berichten seiner Kameraden geschildert hat:
»am 4. Juli 1866.
... Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll, und doch geht es nicht anders, ich muß heute früh die Hand meines Bruders ergreifen. Gestern abend saß ich mit meiner Frau im Garten, da kommt ein Feldpostbrief – nicht von Gerhards Hand. Ich erschrak und öffnete. Mit Bleistift war ein Zettelchen geschrieben – folgendes:
›Hochgeehrter Herr! Ich befinde mich leider in der Lage, Ihnen mitteilen zu müssen, daß Ihr Herr Sohn Gerhard bei einem Gefechte bei Skalitz den Tod fürs Vaterland erlitten hat. Eine Granate traf seine Brust; er war auf der Stelle tot. Indem ich diese Zeilen schreibe, blutet mir das Herz, er war mir stets ein treuer Freund, und der Verlust keines Kameraden könnte mich näher berühren. Ich habe ihn stets an der Spitze seiner Kompagnie im fürchterlichsten Granatfeuer gesehen. Heldenmütig führte er seine Kompagnie der feindlichen Batterie entgegen. Ihm war es nicht vergönnt zu sehen, wie die Unsrigen einen glorreichen Sieg erfochten. Für die Beerdigung seiner Leiche hat Hauptmann v. Rettberg Sorge getragen.
v. Zwardowsky, Reg.-Adjutant.‹
Ich dachte, Julchen werde mir in den Armen sterben. Wie lieb ich diesen Jungen gehabt, weiß nur Gott. Es war ein Band des innigsten Verständnisses zwischen uns. Gerhard war von Kindheit auf ein ehrenhafter, gewissenhafter und bescheidener Mensch, sehr begabt und talentvoll, friedliebend, gänzlich unerschrocken, ohne Ehrgeiz und jegliche Prahlerei, doch eines hohen Aufschwungs seiner Gefühle fähig, seinen Eltern in kindlicher Ergebenheit zugetan, und das wußte er auf die rührendste Weise zu zeigen, wenn er bei uns war. Das kam freilich seit seinem 13. Jahre nur selten vor; von einem auswärtigen Gymnasium weg gleich in ein auswärtiges, stets an der äußersten Grenze stehendes Regiment – und dann sah man sich nur zu den Ferien, oder auf kurzem Urlaub, kaum einmal im Jahr. Das waren denn freilich Festzeiten für uns alle, aber, wie ich glauben durfte, besonders für mich; denn er hatte eine eigentümliche, mir vorzugsweise verständliche Art, mir seine Liebe zu zeigen, so daß mir das Herz immer dick und schwer ward, wenn er wieder abzog. Er fand sich fast immer an meiner Seite, belebte und vergnügte mich durch seinen Humor oder regte mich auf angenehme Art an durch gescheite Fragen über Glauben und Wissen. Alle Menschen, mit denen er in Berührung kam, gewannen ihn dauernd lieb, die Regimentskameraden waren seine Freunde, von alten, oft wechselnden Obersten bis zu den Leutnants und in der ganzen Armee war er wohlbekannt und genannt. Sein kurzes Leben hat er reichlich genossen und dann ein schmerzloses, höchst ehrendes Soldatenende auf dem Schlachtfelde gefunden ...
... Freundschaft mit einem Sohn ist die höchste Steigerung der Vaterfreude ... Das Verhältnis, welches sich mit meinem Ältesten gestaltet und seine Wurzeln schon in der frühesten Kindheit hatte, war ein Unikum – unwiederbringlich verloren! Die Augen werden mir dunkel, ich muß abbrechen –«
Die großen Ereignisse der Zeit halfen etwas die Gedanken abziehen von dem brennenden Schmerz, der seine letzte Lebenskraft verzehrte. Auch in der Korrespondenz mit seinem geliebten Bruder spielt bis in die allerletzte Zeit die Politik eine hervorragede Rolle, und noch der allerletzte Brief schließt mit dem prophetischen Wort: »Ich denke, die eitlen Franzosen werden doch nicht ruhen, bis sie den Krieg beim Wickel haben, dann möge sie Gott der Herr zerschmeißen!«
In dem Maß, wie die Leiden des allgeliebten Kranken zunahmen, steigerte sich auch die Teilnahme aller, die ihn kannten. Hohe und Geringe, Nahe und Ferne waren unermüdlich bedacht, ihm wohlzutun durch alle erdenklichen Hilfeleistungen, Aufmerksamkeiten, Erquickungen und Tröstungen. »Ich bin so beschämt von all dieser Liebe,« schreibt er – »daß ich mein Haupt verhüllen möchte.« Täglich gedachte die teure Herzogin in liebreichster Fürsorge des vielbewährten Freundes, bis sie dem Vollendeten unter heißen Tränen den Palmenzweig in die erkalteten Hände legen konnte.
Und seine treue Lebensgefährtin, wie stand sie ihm Tag und Nacht zur Seite in selbstvergessender Hingabe, in beruhigender, erfinderischer Liebe, unendlicher Geduld und stets ermutigender Freundlichkeit. Das empfand er dankend als seinen größten irdischen Trost.
Hören wir hier noch einmal ihn selbst, wie er sich gegen den Bruder in seinem letzten Brief vom 30. April 1867 ausspricht:
»Mein geliebter Gerhard!
Dein herrlicher Bruderbrief, den ich am 18. dieses erhielt, hat mich sehr erfreut, gerührt, erquickt und gestärkt. Hab tausend Dank für Deine Liebe und Treue! – Mich hat Gott der Herr unterdessen schwer in die Schule genommen, sehr schwer, obgleich vielleicht nur Kinderspiel für das, was noch rückständig ist. Ach, möchte es mein Herr doch gnädig mit mir machen!! ... Hatte eben einen rechten Schreck. Über dem Schreiben hatte ich mich vergessen, dachte, ich wäre wieder der Alte wie vor sechs Wochen und wollte ein Bein über das andere schlagen – da war es schwer wie Blei und ging nicht. ... Ach, Gerhard! von Jugend auf ist mir Wassersucht als schrecklichste Krankheit erschienen – ich erhebe meine Hände und bitte: ›Laß mich wollen was ich soll.‹ In der Nacht steigt Gebet auf um Kraft und Licht, oder die Seele singt alte liebe Lieder. Besonders lieb sind mir die drei letzten Verse des unveränderten Liedes: ›O Haupt voll Blut und Wunden‹ – desgleichen einzelne Verse aus: ›Wie soll ich dich empfangen‹. Höchst erquicklich bleibt immer das alte: ›Nun danket alle Gott‹.«
Sein Bangen und Sehnen gestaltete sich auch zu eignen Liedern wie, in einer der letzten Nächte, ehe das Leiden ihn ganz gefangennahm, das hier folgende, welches die Seinigen nach seinem Tode fanden:
Ach Herr, mein treuer Gott!
Wenn es nun geht zu Ende,
So breite deine Hände
Auch über meinen Tod.
Laß mich den Tod nicht schauen
Und wende meinen Blick
Auf dich allein zurück.
Dann geh ich ohne Grauen
In deines Lichtes Schein
Durch Tod und Dunkelheiten
Getrost mit hohen Freuden
In deinen Himmel ein.
Zuletzt, als die Qualen zu herzzerreißend wurden, konnten die Seinigen nur flehen: Mach End', o Herr, mach Ende! Und endlich kam der Herr und erlöste diesen Gefangenen Zions. Der schwere Kampf war vorüber und wie ein selig Träumender, ein friedvolles Lächeln im schönen, wunderbar verjüngten Angesicht, lag der Entschlafene nun wohlig ausgestreckt auf seinem Bett. Da konnte man zuerst nur loben und danken, aber dann sind dem Heimgegangenen viel Tränen nachgeweint und das Andenken dieses Gerechten ist im Segen geblieben.
Um den geliebten Bruder wenigstens im Tode noch wiederzusehen, eilte seine Schwester aus der Ferne herbei und deren Worte mögen diesen kurzen Lebensbericht abschließen: ... »Sie führten mich in Wilhelms Zimmer, zu seinem Sarge. Da lag er wie ein Fürst – das Leiden konnte die edlen Züge nicht mehr entstellen – siegesgewiß, friedlich lag er da. In dieser selben Stube hatte ich vor sieben Jahren von ihm Abschied genommen – leichthin – wie er es liebte; aber ich wußte, daß ich ihn zum letztenmal sah und ein Schwert ging durch meine Seele. Nun hatte er kein Wort mehr für mich, aber seine verklärten Züge sprachen so beredt von einer Seligkeit, für die wir noch keine Begriffe haben, daß ich still bei ihm knien und ihn immer nur anschauen konnte. Er war mit Blumenkränzen bedeckt, die ihm die Liebe gewunden. Immer noch sehe ich ihn im weißen Kleide, mit der Palme, die hier eine Fürstin ihm in die Hand legte, dort oben er sie aber aus seines Heilands Händen empfangen wird. Ewig werde ich danken für diese Stunde. – Ich möchte ihm die Worte auf sein Grabkreuz geben: ›Diese sind es, die gekommen sind aus großer Trübsal und haben ihre Kleider gewaschen und haben ihre Kleider helle gemacht im Blut des Lammes‹. Off. Joh. 7, 14. – Wilhelm war gewiß einer der seltensten Menschen, ging aber als Fremdling durch diese Welt, nie sich darauf heimisch fühlend, nie ganz glücklich, oft tief melancholisch und an seinem Beruf schwer tragend, so schwer, daß es einem jammerte. Sowohl als Künstler wie als Hofmann hat er oft furchtbar gelitten, wo sein Leben äußerlich sehr glücklich schien, wie seine Tagebücher ausweisen. – Ja, er hatte, bei allem äußeren Glück, keine leichte Lebensschule, sie war bedingt in seinem zu feinen, zu sensitiven Organismus und dem nicht erreichten Ziel seines Lebens. Nun ist alles vorbei – seine Erziehung vollendet – die Hülle abgestreift, der Schmetterling ist frei!
Wilhelm erwähnte einst des 22. Psalms, der jetzt sein Psalm sei, und fährt dann ungefähr so fort (denn die Worte haben sich in mein Herz gebrannt). ›Ich hatte von jeher nur zwei Wünsche: ein guter Maler und ein guter Christ zu werden. Beides habe ich nicht erreicht. Eins aber bin ich geworden, wonach ich nicht strebte, was ich nicht wollte: klein bin ich geworden, ganz klein, ja ein Wurm, ein zertretener Wurm, der aber trotzdem hofft, durch Gottes Gnade, wenn auch nur kriechend durch die enge Pforte zu dringen.«
Und doch! gerade in diesem Erkenntnis liegt die Gewißheit seiner unaussprechlichen Seligkeit, denn:
»Die Er will über Sterne führen,
Die führet Er zuvor hinab« –