Wilhelm von Kügelgen
Jugenderinnerungen eines alten Mannes
Wilhelm von Kügelgen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebenter Teil

1. Berufsstudien.

Trotz aller Fährlichkeiten waren wir glücklich in Dresden angelangt, und ein reicher Abschnitt meines Jugendlebens lag hinter mir: die ganze Schulzeit mit ihrem verworrenen Wechsel von Anstalten und Lehrern, weltgeschichtlichen Begebenheiten und kindischen Abenteuern, die schöne Zeit, da man gewissermaßen zwecklos in den Tag lebt und, wie ein Reicher, kaum etwas anderes im Auge hat als den Genuß. Ein neues Leben sollte jetzt beginnen, zwar immer noch ein Schülerleben, aber doch mit deutlicher erkennbaren Zwecken. Wenn ich als kleines Kind Garn wickeln mußte, so wußte ich nicht, warum, und hatte weiter nichts davon, als daß ich nicht faul genannt wurde. Dann kam die Schulzeit mit allen ihren mannigfachen Lernobjekten, mit denen ich mich nur deshalb abmühte, um leidliche Zensuren heimzubringen. Was ich jetzt lernen sollte, war anderer Natur, es sollte mich befähigen, dereinst mein eigenes Brot zu essen und möglicherweise jene Höhen des Ruhmes und der Freiheit zu ersteigen, auf welche Professor Sachse mich hingewiesen hatte. Das schienen edlere Zwecke, und ich freute mich auf die neue Arbeit und ihre Früchte.

Die Königliche Akademie der Künste, an hervorragendster Stelle der Stadt auf der Brühlschen Terrasse gelegen, war seit meiner Kindheit ein Gegenstand der Verehrung und des Verlangens für mich gewesen. Wie oft hatte ich im Vorübergehen nicht aufgeblickt nach diesen hohen Fenstern, hinter denen olympische Gestalten von Göttern und Heroen sichtbar wurden, und hatte die jungen Leute glücklich gepriesen, die berechtigt waren, so frank und frei dort ein und aus zu gehen wie ich in meiner Schule. Jetzt hatten sich auch mir diese Hallen geöffnet, und wer sich gerade auf der Terrasse befand, mochte es mit Augen sehen, wie ich, die Zeichenmappe unter dem Arm, als Berechtigter hineinschritt und niemandem dafür zu danken brauchte. Die vorüberspazierenden Herren und Damen konnten mir dann ordentlich leid tun, daß sie es nicht auch so machen durften.

Ich war vorerst in die unterste Klasse eingetreten, den sogenannten Zeichensaal. So hieß diese Gelegenheit, nicht weil dort Zeichen und Wunder geschahen, und ebensowenig weil dort gezeichnet wurde, denn weiter geschah auf der ganzen Akademie nichts, sondern unser Zeichensaal hieß Zeichensaal, wie etwa Potsdam Potsdam heißt: – weil er keinen anderen Namen hat. Es war dies aber die Elementarklasse der Akademie, welche ihre Schüler bis zu einem gewissen Grade des Richtigsehens und einiger Fertigkeit der Hand im Gebrauch der Kreide fördern sollte. Letzteres war für mich, dem es an sonstiger Vorübung nicht fehlte, die Hauptsache: ich sollte hier schraffieren lernen. Zwar hätte mein Vater, der die Kreide besser als sämtliche Lehrer der Akademie zu handhaben wußte, mir diese Vorklasse ersparen können, wenn er mich selbst in die Schule genommen hätte, aber abgesehen davon, daß ihm hierzu die Geduld fehlen mochte, hielt er es auch für zweckmäßiger, daß ich mich gleich von vornherein in eine Manier einarbeite, von welcher er voraussetzte, daß sie die herrschende in allen Klassen sei. Hierin irrte er indessen, denn gerade im Zeichensaale herrschte nichts weniger vor als eine bestimmte Manier. Es ward nach Handzeichnungen der verschiedensten Meister gearbeitet, welche den Stift auf die verschiedenste Weise gehandhabt hatten, mit geraden, krummen, langen oder kurzen Strichen, wie es jedem genehm gewesen. Dazu hatten einige unterwischt und überschraffiert, andere unterschraffiert und überwischt, noch andere gar nicht gewischt oder gar nicht schraffiert, und immer sah das Ding ganz anders aus.

Diese Mannigfaltigkeit verwirrte mich. Zwar konnte ich mir die Meister wählen, wie ich wollte, aber heute gefiel mir dieser, morgen jener besser, und fast täglich schrieb ich andere Hände ab, ohne mir doch irgendeine zu eigen machen zu können oder dies auch nur zu wollen. Im Grunde begeisterte mich keins dieser Originale, und am liebsten hätte ich gezeichnet wie mein Vater, wenn das so angegangen wäre.

Doch aber sollte ich schraffieren lernen! Da war ich denn bisweilen ratlos, und die Aufgabe türmte sich wie ein Gebirge vor mir auf, das während des Ersteigens immer höher wird, und das ich dennoch schneller zu überwinden hatte als alle übrigen, denn das bäte er sich aus, hatte mir der Vater gesagt, daß ich in einem halben Jahre die ganze Akademie überflügelt haben müsse. War das auch Spaß, so verstand ich doch die Meinung, daß etwas Tüchtiges von mir erwartet werde, und quälte mich rechtschaffen von früh bis spät mit der verwünschten Aufgabe des Schraffierens, das endlich sogar meine Träume vergiftete.

Warum, dachte ich, muß doch das erste gleich das schwerste sein? Denn wie kinderleicht das letzte, das Malen, von der Hand ging, konnte ich in meines Vaters Werkstatt täglich mit Augen sehen. Als ich noch unter Eduards lautem Beifall meine Kartons entwarf, Propheten und dergleichen, hielt ich das Zeichnen für eine angeborene Kraft, für ein Naturgeschenk, das nicht erlernt, nur geübt zu werden brauche, und jetzt war ich oft so mutlos, daß ich, wenn ich von der Brühlschen Terrasse in den Zeichensaal einschwenkte, die glücklich vorüberspazierenden Leute um ihr Unvermögen, mir zu folgen, fast beneiden konnte.

Inzwischen mochten meine Lehrer nachsichtiger urteilen als ich selbst oder weniger, als ich erwartet hatte, auf die technische Fertigkeit des Schraffierens geben – genug, ganz wider Erwarten ward ich schon zu Michaelis, und noch dazu mit einem kalligraphischen Belobigungsschreiben in folio, in die zweite Klasse, den Gipssaal, aufbefördert. Nur ein freigesprochener Lehrjunge mag ermessen, was ich empfand; denn nun erst war ich vollberechtigter akademischer Bürger und stand den Schülern der oberen Klassen gleich, jenen stolzen Jünglingen, die, mit Zeichenschülern keine Gemeinschaft haltend, mich vordem keines Blickes gewürdigt hatten. In der Freude meines Herzens zerschnitt ich das Belobigungsschreiben zu Fidibus, wie sie nicht jeder aufzuweisen hatte, und zündete meine Sonntagspfeife mit der eigenhändigen Unterschrift Sr. Exzellenz des königlichen Intendanten aller Kunstinstitute, des Grafen von Vitzthum, an.

Leichtsinnig freilich war es, das Schwerere so jubelnd zu ergreifen, wo schon das Leichtere zu schwer gewesen war; aber ich dachte, nach Gips, der keine Striche vorschreibt, werde sich das Schraffieren vielleicht von selber machen. Und siehe da: es machte sich, denn im Gipssaale ward gar nicht schraffiert; dies Genre der Behandlung war hier völlig antiquiert.

Von meinen Mitschülern ward ich sogleich in die Schule genommen und will gern bekennen, daß ich ihnen das meiste von dem später im Gipssaal Erlernten zu danken hatte, denn die mit der Korrektur betrauten Professoren bekümmerten sich nur wenig um uns – ob aus Bequemlichkeit, oder weil sie uns als unverbesserliche Besserwisser bereits aufgegeben hatten, kann ich nicht sagen. Wir waren freilich nicht ganz unberührt geblieben von jenem aufsässigen Geiste, der damals Wissenschaft und Kunst zu neuem Leben weckte, von dem Geiste der Treue und des nüchternen Aufmerkens auf das, was die Objekte wirklich zeigten, während die Mehrzahl unserer Lehrer weniger, was sie sahen, als was sie wußten, darzustellen suchten. Wie einer sich die Formen angewöhnt, so wurden sie ohne sonderliche Rücksicht auf die Eigentümlichkeiten des Originals in unsere Zeichnungen einkorrigiert und ebenso blindlings Licht und Schatten bloß nach allgemeinen Rundungsprinzipien hinzugetan. Der gefürchtetste dieser Korrektoren, Professor Pochmann, ging sogar so weit, in Gipszeichnungen schwarze Augäpfel und dunkelhaarige Locken mit beleckter Naturkreide auf unauslöschliche Weise einzugraben, indem er uns überließ, dergleichen malträtierte, aller weiteren Ausführung unfähig gewordene Blätter wegzuwerfen. Wir sahen uns daher genötigt, vor Eintritt des Herrn Professors unsere Zeichnungen zu verstecken und bloße Scheinarbeiten bereitzuhalten, an denen die Wut der Korrektoren sich ohne Schaden auslassen konnte.

Unter solchen Umständen war es nur löblich, wenn wir den Mangel fördersamen Unterrichts durch gegenseitige Aushilfe zu ersetzen suchten. Von allen hergebrachten Regeln abstrahierend, wollten wir nur machen, was wir wirklich sahen; und was einer etwa nicht sah, sah doch der andere. So konnte sich mittelst des Einflusses einzelner Talente eine eigentümliche Manier des Zeichnens ausbilden, welche ihre Vorzüge hatte, freilich aber durch allzu mechanisches Verfahren in den entgegengesetzten Fehler der älteren Schule verfiel. Anstatt nämlich mit der Anlage des Ganzen zu beginnen und von diesem zum Einzelnen abzusteigen, machten wir es umgekehrt. Mit irgendeinem hervorragenden Punkte, etwa der Nase, wurde angefangen und dieser Teil mit Hilfe des Senkels, gedachter Winkel und jeder am Originale möglichen Messung vorerst im Umrisse vollendet. Nachdem die Nachbarn solchen Anfang kritisch durchgesehen und approbiert hatten, fand man, von hier aus weitersenkelnd, -winkelnd und -messend, die zunächstliegenden Teile, und so kam endlich, zwar sehr langsam, aber sicher, der detaillierteste, bis auf jede einzelne Locke genau vermessene Umriß des ganzen Kopfes zustande. Die weitere Ausführung wurde auf ähnliche Weise beschafft, die Umrisse der Schatten und Halbschatten genau bezeichnet und dann, von den tiefsten Schwärzen ausgehend, mit einem in Kreidestaub getauchten Lederwischer wie mit einem Pinsel ausgefüllt. Ein so angelegter Kopf glich, weil die verschiedenen Schattentöne, obschon in ihrem ganzen Werte, doch ohne Verbindung nebeneinander standen, einer reinlichen Mosaikarbeit und tat aus der Ferne schon seine Wirkung. Mit ungemeiner Lust legte man dann die letzte Hand an, glich die Härten aus und hatte ein Werk geschaffen, dessen Naturtreue überraschte.

Diese Art zu zeichnen hatte, abgesehen von der rein objektiven Weise des Verfahrens, noch den Nebenvorteil, daß die Arbeit sich nie verwirrte, in jedem Stadium gut aussah und allezeit die volle Arbeitslust erhielt; sie hatte aber den Nachteil, daß sie nur auf tote Gegenstände anzuwenden war, daher wir uns ziemlich ratlos finden mußten, wenn uns statt eines Gipsabgusses das lebendige Leben entgegentrat. Wir lernten nicht auffassen, sondern nur nachschreiben, und indem wir grundsätzlich nicht schraffierten, weil keine Striche am Gips zu sehen, sondern uns ausschließlich nur des Wischers bedienten, gelangten wir nur unvollständig und langsam zu einigem Formverständnis. Die spärlichen Warnungen der Professoren blieben ebenso unberücksichtigt als ihre Korrekturen, und da wir in der Tat auf unsere Weise etwas leisteten, so ließ man uns gewähren.

Übrigens wurde angestrengt gearbeitet, trotz mancherlei Allotrien, die mit Singen, Balgen und anderer Kurzweil unterliefen, und nur sehr wenige waren es, die sich erlaubten, die volle Arbeitszeit nicht einzuhalten. Diese währte von sieben Uhr früh bis abends sieben, mit Ausnahme der Mittagsstunden, und wurde, wie's die Jahreszeit hergab, bei Tages- und Lampenlicht allein mit Handhabung der Kohle und des Wischers ausgefüllt. Die einzige Veränderung in diesem Einerlei der Tätigkeit lag in dem Wechsel der Gegenstände und des Lokales, da nicht allein die Sammlungen der Akademie, sondern auch die sehr viel reicheren der Mengsschen Abgüsse und des Antikenkabinettes zu benutzen waren. Für praktische Übung des Auges und der Hand war somit wohl gesorgt; wissenschaftliche Unterweisung dagegen fehlte gänzlich, mit Ausnahme eines einzigen Kollegs, welches der Direktor der chirurgischen Akademie, Professor Seiler, von Zeit zu Zeit im anatomischen Theater eigens für Maler las. Dieser am Kadaver selbst vollzogene Unterricht aber war dafür auch vom entschiedensten Interesse, da die mancherlei Rätsel, welche den Blick eines Anfängers beim Studium des Nackten zu verwirren pflegten, hier die einfachste und verständlichste Lösung fanden. Zum richtigen Sehen genügt das Auge nicht allein, der Verstand muß mitsehen, und wenn man auch nichts darstellen soll, als was zutage liegt, und was man wirklich sieht, so sieht man doch erst da recht wirklich, wo man den Grund der Erscheinung kennt. Je deutlicher und je vollständiger aber gesehen wird, je deutlicher wird sich auch dasjenige enthüllen, worauf es bei künstlerischem Sehen vorzüglich ankommt, nämlich die Schönheit. Mir wenigstens kam bei fortgesetzter Übung meines durch wachsende Kenntnis sich mehr und mehr rektifizierenden Auges auch die unendliche Schönheit meiner Objekte, nämlich der herrlichen Gebilde antiker Kunst, von Tag zu Tage mehr zum Bewußtsein. Zwar war ich weit entfernt, schon jetzt das Gesehene nach seinem vollen Wert zu würdigen, aber schon das Wenige, was der Schülerblick erkannte, war reichlicher Gewinn. Mit steigender Begeisterung für die Schöpfungen der Alten zeichnete ich nach ihren Meisterwerken, meine Phantasie erfüllte sich mit Bildern des befriedigendsten Ebenmaßes, und wenn ich des Abends die Augen schloß, umstanden mich die göttergleichen Gestalten antiker Plastik, in deren Anschauen ich entschlummerte. Wie glücklich ist doch dieses erste Erwachen einiges, wenn auch noch so geringen Verständnisses für Schönheit – ohne Zweifel eine der lieblichsten Perioden in jedem Künstlerleben.

Meine Kommilitonen

Die Zahl meiner Mitschüler im Gipssaal mochte sich auf zwölf bis fünfzehn belaufen, und da wir alle jung waren, auch unsere Arbeit das Gespräch nicht ausschloß, so blieb man sich nicht lange fremd und lernte bald die Verhältnisse wie die Aus- und Ansichten der meisten fast so genau wie seine eigenen kennen.

Eine Ausnahme hiervon machte jedoch mein nächster Nachbar, ein eleganter junger Mann von vornehmer Haltung, den eigentlich keiner kannte. Zwar seine Sprache verriet den Schlesier, sein Benehmen den Aristokraten, und daß er von Seidlitz hieß, war ebenfalls bekannt; das war aber auch alles, was wir wußten, denn im übrigen entzog er sich der Neugier und hatte ein je ne sais quoi in seinem Wesen, das alle müßigen Fragen fernhielt. Es blieb uns sogar unbekannt, ob Seidlitz gleich uns anderen Maler werden wollte oder die Akademie nur aus Langeweile frequentierte, für welche letztere Annahme allerdings sowohl die Schwäche seiner Leistungen als sein unregelmäßiger Besuch des Gipssaales zu sprechen schien.

Nichtsdestoweniger war dieser junge Kavalier eine außerordentlich anziehende Erscheinung. Sein feines, weltgewandtes Wesen und eine sich immer gleichbleibende harmlose Heiterkeit wie die zuvorkommendste Anerkennung der Vorzüge anderer waren jedenfalls so liebenswürdige Eigenschaften, daß sein näherer Umgang jedem nur erwünscht gewesen wäre; er aber war damit sehr haushälterisch und verkehrte außerhalb des Gipssaales die längste Zeit nur mit einem einzigen unter uns, einem Hamburger namens Kopmann, mit dem er namentlich durch gleiche Neigung für Musik verbunden war. In der Folge zogen diese beiden indes auch mich bisweilen in ihre Gesellschaft, und mit Vergnügen denke ich noch heute der traulichen Winterabende, die wir miteinander in Seidlitz' komfortabler Wohnung verplauderten und versangen. Namentlich ward ich hier zu einigem vorläufigen Verständnis der Mozartschen Musik angeleitet, welche Seidlitz spielte, Kopmann sang und ich mitzusingen genötigt ward. Daneben entfaltete unser Wirt ein glänzendes Geschick, seine Gäste in behaglichster Stimmung zu erhalten, besonders aber den geistvollen Kopmann so glücklich anzuregen, daß dieser von Witz und Laune übersprudelte und sich in allen seinen geselligen Eigenschaften selbst übertraf.

Kopmann hing an diesem liebenswürdigen Unbekannten, von dessen eigentlichen Verhältnissen er wahrscheinlich ebensowenig etwas wußte als wir anderen, mit einer Leidenschaft, die an Bezauberung grenzte und ihm viele heiße Tränen kostete, als Seidlitz – wie man sich erzählte, eines unglücklichen Duells wegen – plötzlich wieder aus Dresden verschwand, und zwar so radikal, daß ich mich nicht erinnere, jemals wieder etwas von ihm gehört zu haben.

Ich war nun insofern Seidlitz' Erbe, als Kopmann sich mir von jetzt an näher anschloß. Er war nicht unbedeutend älter als ich und seine Vergangenheit von der meinigen sehr verschieden. Schon in zarter Kindheit hatte er den Vater verloren, der als Schiffskapitän nach Indien gesegelt und mit Mann und Maus verschollen war. Die Mutter war mittellos zurückgeblieben, aber Fremde sorgten für eine notdürftige Erziehung des armen Knaben und brachten ihn, nachdem er herangewachsen, freilich sehr gegen seine Neigung, in einem kaufmännischen Geschäfte unter. Hier fühlte er sich wenig an seinem Platze und unglücklich genug; indes erweckten ihm seine schöne Stimme und sonstige künstlerische Gaben bald anderweitige Gönner, unter denen sich seiner am tatkräftigsten eine in weiten Kreisen respektierte Dame, die bekannte Luise Reichardt, annahm. Ihrem Einflusse hatte er seine Erlösung aus der verhaßten Rechenstube und eine Unterstützung zu mehrjährigem Aufenthalte in Dresden zu verdanken, wofür er sie denn auch gleich einer Heiligen verehrte.

Kopmann hatte eine unvergleichlich schöne Stimme, einen Tenor, welcher die eigentümliche Süßigkeit dieses Registers mit der Kraft einer Posaune verband. Auch wurden ihm deshalb von seiten der Königlichen Oper sehr schmeichelhafte Anerbietungen gemacht, die er jedoch aus Liebe zur Malerei beharrlich ausschlug. Feststunden waren es, wenn er uns im Gipssaal seine Arien vortrug, die uns entzückten und uns häufig, wie ihm selber, die Tränen aus den Augen trieben. Ebenso konnte er uns aber auch durch launige Geschichten, mutwillige Einfälle und springenden Witz in die albernste Stimmung versetzen und den ganzen Gipssaal zu andauerndem Gelächter fortreißen. Er war ein genialer, nach jeder Richtung hochbegabter und für alles Schöne laut schwärmender Mensch, dessen mannigfach anregender Umgang den höchsten Reiz für mich hatte. Daß er gern mit mir verkehrte, rechnete ich mir zur größten Ehre und blieb sein treuer Genosse, solange unsere Wege miteinander gingen – und dennoch: wie das mit akademischen Bekanntschaften so gehen kann, verlor ich ihn später ganz aus den Augen.

Ein dritter, mir sehr werter Mitschüler würde Rosa geheißen haben, wenn anders man immer so heißen müßte, wie man genannt wird. Wir nannten ihn aber Rosa, wie lucus a non lucendo, wegen seines schwärzlichen Kolorites. Zimmermann, so war sein eigentlicher Name, stammte, soviel ich weiß, aus einer ländlichen Hütte der Oberlausitz, hatte gerade kein Übermaß an gelehrter Bildung, sonst aber mannigfache Kenntnisse und gleich Kopmann sehr viel Witz. Zudem war er ein recht aufrichtig frommer Christenmensch von gläubig orthodoxer Richtung, die man ihm freilich nicht gleich an der Nase anzusehen pflegte, da er, der orientalischen Feige gleich, seine Blüten nach innen trieb und in eigentümlicher Verschämtheit das Gold seines Herzens zu verkupfern liebte, damit es nicht etwa für vergoldetes Kupfer gehalten werde. Es kam daher nicht selten vor, daß mein frommer Rosa so unerwartete Dinge sagte, daß anderen frommen Leuten die Haare dabei zu Berge standen. So erinnere ich mich, daß er während eines furchtbaren Gewitters, das die Grundmauern der Akademie erschütterte, uns anderen ganz gelassen den holden Wunsch eröffnete, der Blitz möge doch durch alle Säle fahren und mit seiner Ausnahme uns sämtlich auf einen Schlag vollenden, da wir doch auf jede andere Vollendung zu lange würden warten müssen. Nicht leugnen wolle er, daß er uns in diesem Falle gern den letzten Dienst erweisen würde: als Leidtragender hinter der langen Reihe unserer Särge einherzugehen und zu singen. In solchen Ton ging Kopmann mit Vergnügen ein, und nach geschlossener Akademie schlenderten diese beiden Witzknacker Arm in Arm die Brühlsche Terrasse entlang, nicht müde werdend, sich mit größtem Ernst und in verbindlichster Art die niederträchtigsten Grobheiten ins Gesicht zu sagen. Mit Zimmermann habe ich nach beendigter Studienzeit noch lange Jahre in freundschaftlichem Verkehr gestanden, bis uns endlich allzu weite Strecken Landes auseinanderrissen.

Noch eines anderen ganz absonderlichen Heiligen habe ich hier zu gedenken, eines rohen Naturmenschen, der sich jedoch unter uns allen vielleicht des größten Talentes erfreute. Daß er Wagner hieß, erfuhr ich erst sehr spät und zufällig, weil er von den Genossen Schill genannt wurde oder bei seinem Taufnamen Simon. Den Spitznamen hatte er sich selbst zugezogen, weil er bei jeder Gelegenheit Respekt für seine mit Leder und blanken Knöpfen besetzen Husarenhosen beanspruchte, die er in seiner Vaterstadt Stralsund auf dem Trödel gekauft hatte und mit Hartnäckigkeit für Schills Hosen ausgab.

Dieser Schill oder Simon war ohne alle und jede Schul- oder andere Bildung, ein gröblicher Stein ohne Schliff aus dem dunklen Schoße der Erde – doch aber ein rechter und echter Edelstein. Kaum konnte man wüster und anstößiger sein und sich betragen, als er es in der Art hatte; aber seine Herzlichkeit, Gutmütigkeit und Treue, wie die Ursprünglichkeit und das Salz in seiner Flegelei machte diese minder beschwerlich und meist vergessen. Er fand sogar recht viele Freunde, was immer etwas sagen will, wenn einer so arm ist, daß, wenn ihn Fremde nicht zu Tische führen, selten etwas anderes als Brot und Wasser in seinen Mund geht. Einst fand ich ihn an einem kalten Wintermorgen mit dem Hieber in seinen Ofen einhauen, weil er nicht wärmen wollte: es fehlte dem armen Schelm an Holz, und somit war er freilich überflüssig.

Simon war zu jener Zeit der Dürftigste unter uns; in der Folge aber ging es ihm besser als den meisten anderen. Er hatte den Einfall gehabt, Gruppen von Bauern aus der Umgegend Dresdens in ihrer Tracht und heimischen Umgebung treu nach der Natur zu malen. Dies Genre war damals neu, vielleicht von ihm nach niederländischem Muster neu erfunden, und erregte einiges Aufsehen. Die Bilder gingen reißend ab und trugen so viel ein, daß der Künstler sich einen eigenen Hausstand gründen konnte. Er heiratete und pries sein Glück, das ihn veredelte und reifte. Je wohler es ihm ging, je stiller, ernster und bescheidener ward er, durch Gottes Gnade seine sittliche Bedürftigkeit je mehr und mehr erkennend und Hilfe suchend im Christenglauben. Leider ist er sehr früh gestorben an einem Lungenleiden, aber als ein erneuter Mensch und im Aufblick zu seinem Erlöser.

Sehr anders gestaltet als die oben Genannten war der liebenswürdige gemütvolle Hermann aus Dresden, aus irgendeinem mir unbekannten Grunde »Schneider« genannt – ein stiller, sittlich reiner und harmlos treuherziger Mensch, der jedermann mit Liebe und offenem Vertrauen entgegentrat und daher von allen geliebt ward. Fast machte es den Eindruck, als sei er bei der sonst so verschwenderischen Verteilung von Adams Nachlasse vergessen worden oder doch zu kurz gekommen, und diese seine natürliche Reinheit ward in der Folge noch verklärt durch die höhere Würde, die ihm ein aufrichtiger Christenglaube gab. Hermann war der einzige von uns allen, der sich später einen Namen machte. Durch seine Münchner Freskomalereien wie durch die Herausgabe seiner eigentümlich instruktiv zusammengestellten Bilder zur deutschen Geschichte ist er sehr bekannt geworden.

Endlich gedenke ich hier noch meines lieben Herzensfreundes Ferdinand Berthold, wenn ich nicht irre, zu Meißen geboren, wo sein Vater Maler an der Fabrik gewesen. Diesen hatte er früh verloren, war aber von seiner trefflichen Mutter, welche ein Unterkommen als Wirtschafterin in einem Dresdner Hotel gefunden, sorgfältig erzogen worden. Lahm und kränklich von Kindheit auf, hatte er sich schon frühzeitig auf geistige Beschäftigung angewiesen gesehen, zu welcher ihn überdem sein feiner Kopf und die Stille seines Gemütes besonders befähigten. Er war der einzige unter uns, der das Gymnasium durchgegangen und eine umfassende Schulbildung besaß, welche zu erhalten und zu vermehren er sich auch jetzt noch angelegen sein ließ, ein stiller, tief innerlicher Mensch, bescheiden, überlegt und anständig in allem, was er tat und sagte, und jedenfalls einer der tüchtigsten Schüler der Akademie.

Trotz dieser Vorzüge suchte ich damals gerade Bertholds Umgang weniger als den mancher andern, deren flackernder Geist mir mehr Genuß gewährte, und erst in einer späteren Periode bin ich ihm nahegetreten, da er die Akademie nicht mehr besuchte, dafür aber anfing, ein eigenes Haus zu machen. Diese Hospitalität war jedoch nicht die Folge verbesserter Finanzen, sondern leider nur die einer immer zunehmenden Kränklichkeit. Nur ausnahmsweise konnte der arme Berthold noch das Haus verlassen, empfing aber dafür allabendliche Besuche von Kunstgenossen auf seinem Zimmer. Dahin trieb denn auch mich, zwar anfänglich nur die Teilnahme für den Leidenden, bald aber die aufrichtigste und herzlichste Freundschaft.

Berthold bewohnte mit seiner alten Mutter ein fünf Treppen hoch gelegenes Dachstübchen desselben Hotels, in dem sie diente. Durch eine kleine dunkle Küche trat man ein, allezeit sicher, den Insassen anzutreffen, seiner Gäste harrend, die sich oft so zahlreich um ihn sammelten, daß die vorhandenen Stühle nicht ausreichen wollten und man auf Fensterbrettern Platz nahm. So massenhafte Gäste zu bewirten, war der freundliche Wirt freilich niemals in der Lage. Er gestattete aber, daß jeder seinen Imbiß mitbrachte und nach Gelegenheit aus freier Hand verspeiste. Der Hausherr selbst genoß unter allen Umständen, sobald es sieben schlug, in einem dunkeln Winkel seines Zimmers stehenden Fußes und sehr eilig eine für ihn von seinem Mütterchen bereitgehaltene Pfennigsemmel, die er in Bier tauchte. Außerdem saß er den ganzen Abend fest in einer tiefen Mulde seines alten Sofas, von wo aus er die Gesellschaft aufs trefflichste zu beleben und so anzuregen wußte, daß jeder sein Bestes gab und jene Abende gewißlich für uns alle zu dem Vorzüglichsten gehörten, was unser Leben uns an geselligem Genuß gewährt hat.

Die Unterhaltung drehte sich zumeist um Gegenstände unseres gemeinsamen Studiums, und wollte man dem Kranken eine Extrafreude machen, so brachte man irgendeine kleine Arbeit eigener Erfindung mit, die dann besehen und kritisch beleuchtet, nach allen Seiten hin getadelt und gelobt ward. Berthold selbst zwar gab aus wunderlicher Verschämtheit dergleichen nie zum besten. Er könne nichts mehr machen, versicherte er, und dennoch war er stets beschäftigt, wenn man ihn allein traf; doch ehe er noch den Eintretenden begrüßte, war auch die Arbeit schon verschwunden. Nur mühsam ertrug sich solche Zurückhaltung, bis uns der Zufall endlich eine ganze Folge der saubersten Federzeichnungen von seiner Hand entdecken ließ, deren Schönheit jede Erwartung übertraf. Es waren zusammengehörige Momente aus dem sonntäglichen Leben einer reichsstädtischen Familie des 16. Jahrhunderts, in welche der fromme Künstler alle seine Ideale eines gottgeweihten bürgerlichen Hauswesens eingewoben hatte.

Jetzt wurde Lärm geschlagen, und Berthold konnte es kaum fassen, als ihm von seiten eines Leipziger Kunsthändlers der Auftrag ward, das Ganze zu radieren und in seinen Verlag zu geben, wußte auch nicht, wie er seine Forderung niedrig genug stellen sollte, um jenen nicht zu schädigen. Die Arbeit kam zur Vollendung und fand verdienten Beifall; aber gerade jetzt, da sich ihm eine rühmliche Laufbahn eröffnet hatte, erlag der arme Junge seiner Krankheit und starb in den Armen der tiefbetrübten Mutter. In seinem Nachlaß fand sich ein Heft sehr lieblicher Dichtungen, von deren Existenz wir ebenfalls keine Ahnung gehabt hatten, meist geistliche Lieder, wie sie nur einem vom Heiligen Geiste berührten Gemüte entspringen konnten, und dies Gemüt war es vor allem, was uns so angezogen hatte, selbst diejenigen unter uns, die es nicht ganz verstanden. Ich kannte wenig Menschen zeit meines Lebens, deren Umgang mir in gleichem Grade erquicklich gewesen wäre als der des lahmen Berthold.

Außer den Genannten gab es noch andere gute Leute im Gipssaal, als die Dresdner Gruner, Zörmer, Lindau, die Mecklenburger Schuhmacher und Leskow, der abenteuerliche Nordfriese Harro Harring»Der abenteuerliche Nordfriese Harro Harring.« Harro Harring aus Ibendorf bei Husum (1798-1870), ursprünglich Schlachtenmaler, seit den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts auf abenteuerlichen Wanderungen durch ganz Europa und Amerika, als Demagoge und politischer Dichter angefochten, ausgewiesen, gehetzt, ein Opfer seines eignen unklaren Radikalismus und des berufsmäßigen Flüchtlingstums, besuchte die Dresdner Kunstakademie zwischen 1818 und 1820. und andere mehr; doch hat die Länge der Zeit mir das Gedächtnis allzusehr getrübt, um weitere persönliche Schilderungen zu wagen. Es waren schöne Tage, die wir miteinander verpilgerten, für die meisten wohl die schönsten ihrer ganzen Künstlerlaufbahn, von welcher das Wort des Apostels ebenfalls gilt, daß viele laufen, aber nur wenige gekrönt werden. Wenn es ein Wagnis gibt, so ist es das Ergreifen eines künstlerischen Berufes, weil die Befähigung dazu sehr schwer zu bemessen ist und selbst die Befähigtsten verkümmern, wenn ihnen im rechten Augenblick der rechte Sporn fehlt, die Anerkennung nämlich. Wer daher irgend kann, der mag die Hand vom Pinsel lassen.

Der Künstlerverein.

Mein akademischer Umgang beschränkte mich übrigens nicht bloß auf die Gipssaalgenossen. Zwei ältere, schon selbständig arbeitende Schüler meines Vaters führten mich nun auch in weitere Kreise ein. Sie heißen Träger und Cotta.

Träger war ein hochblonder Mensch von unscheinbarem, etwas abgetragenem Äußern, in welchem niemand das Genie erkannt hätte. Er stammte vom Rheine her, war früher Schreiber gewesen und hatte sich erst seit einigen Jahren der Malerei gewidmet; aber jetzt schon war er der hervorragendste Schüler der Akademie und hatte bereits einen Namen, der in der Folge zu den besten zählen mußte, wenn er nicht allzu früh gestorben wäre. Dieser ausgezeichnet begabte Mensch war, trotz seines wenig bestechenden Aussehens, der Liebling aller, die mit ihm in Berührung kamen, und stand in höchster Achtung. Überaus gefällig, still, bescheiden, von seinem Takt und Geiste, hatte er ein besonders schnelles Auge für das Gute und Echte in Natur und Kunst und die besondere Gabe, dies auch andern fast augenblicklich zu erschließen. In seiner Gesellschaft Bilder zu sehen, etwa die Dresdner Kunstsammlungen, oder die Mappen und Kupferhefte meines Vaters zu durchstöbern, war daher ein Hochgenuß für mich. Viele Worte pflegte Träger freilich nicht dabei zu verlieren, er sagte sogar in der Regel gar nichts; aber indem er das, was ihm gefiel, unter einem herzlichen, nur ihm allein eigenen halblauten Lachen auf höchst charakteristische Weise mit dem Finger umschrieb, öffnete sich auch mir das Verständnis, und zwar viel einleuchtender und besser, als dies mittelst der weisesten Auseinandersetzung möglich gewesen wäre. Zu mir, dem tief unter ihm stehenden Anfänger, ließ der angehende Meister sich aufs freundlichste herab, unterstützte mich mit Rat und Tat und ward mein lieber Freund.

Der andere, namens Cotta, Sohn eines Malers in Rudolstadt, war ein langer, pockennarbiger Mensch in hellgrünem Pelzrock und mit grimmigen Gesichtszügen, deren Häßlichkeit man jedoch nicht übelnahm, weil sie zu der Individualität des Ganzen paßte. Von Träger sehr verschieden, war er laut, derb, fast roh, doch niemals salzlos. Wie jener, welcher Heilige und schöne Engel malte, sich vorzugsweise am Idealen begeisterte, so er am Trivialen. Eine gutgemalte Katze, pflegte er zu sagen, sei ihm lieber als ein schöngedachter Engel, und damit beschönigte er die Gegenstände seiner Muse. Er malte nämlich Hunde, Pferde, Kosaken und Baschkiren, für welche letztere er besondere Zärtlichkeit empfand, hatte auch bereits ein Heftchen radierter Kriegsszenen herausgegeben, die von der Künstlerwelt wohl aufgenommen wurden. Mein Vater hatte Wohlgefallen an diesem Kraftgenie, sowohl wegen seiner Leistungen als wegen seines jovialen Wesens; er gehörte daher, sowie auch Träger, zu den begünstigteren Gästen unseres Hauses, und namentlich konnten Landpartien ohne ihn nicht wohl gedacht werden. Dann führte er sein Skizzenbuch stets bei sich und stahl, was vorkam, mit leichtem Strich sehr saubere Bildchen entwerfend. Wenn dann auch ich bei solchen Gelegenheiten mich oft vergebens nach passenden Objekten umsah, um es ihm gleichzutun, so lachte er mich aus, behauptend, daß ich den Wald vor Bäumen nicht erkenne, denn er war der Meinung, daß außer dem, was man gewöhnlich schön nenne, auch alles übrige den höchsten Reiz gewinne, wenn man's nur scharf ins Auge fasse. Dies übrige, das heißt dasjenige, was man gewöhnlich nicht schön nennt, sprach ihn sogar besonders an, namentlich wenn es recht verkommen, verfallen und veraltet war. Ein abgetriebener Gaul, eine liederliche Hütte, ein alter versoffener Kerl bewogen ihn auf der Stelle, sein Skizzenbuch hervorzuziehen, während er an einem schönen arabischen Pferde, an Palästen und am Apoll von Belvedere ungerührt vorüberging. Als ich ihm deshalb mein Befremden zu erkennen gab, sagte er: »Recht hast du! Als Ochse bin ich geboren und habe es durchgesetzt, auch einer zu bleiben; du aber bist ein feines und gelehrtes Männchen.«

Von einem geselligen Zusammensein mit in den Schoß gelegten Händen hatte in unserem Hause niemand einen Begriff. Wenn wir des Abends beieinander saßen, so hatte jeder irgend etwas vor, wobei es keinen Unterschied machte, ob Freunde zugegen waren oder nicht. Mein Vater modellierte in der Regel kleine Wachsfiguren als Vorstudien zu seinen Bildern, mein Bruder schnitzte allerlei aus Holz oder zeichnete nach Ridingerschen Jagdszenen, ich endlich »inventierte«, wie ich nach Cottas Vorgang das Entwerfen eigener Ideen nannte. An solchen fehlte es mir nicht im geringsten; unter den Gipssaalschülern, die sich meist an ihren Studienköpfen genügen ließen, die Inspiration zu eigenem Schaffen geduldig von der Zukunft erwartend, war ich sogar der reichste an selbständiger Erfindung und füllte meine Mappe mit einer Menge kleiner Kompositionen. Wenn diese auch sämtlich nicht viel besser gedacht als gemacht und nicht viel besser gemacht als gedacht sein mochten, so hatten meine beiden Gönner Cotta und Träger doch ihre Freude daran und überredeten mich, einem Kompositionsvereine beizutreten, dessen Mitglieder sämtlich älter und weiter gefördert waren als ich. Die Sache war nicht unbedenklich, da in der Regel niemand aufgenommen werden sollte, der nicht entweder schon ein Bild gemalt oder doch wenigstens Schüler der ersten Klasse, des Ölsaales, war, und in solchen Ausnahmefällen schloß eine einzige schwarze Kugel aus. Aber die Freunde machten Mut: »Der Teufel«, sagte Cotta, »soll diese Steckenpferde reiten, wenn sie dich, gelehrtes Männchen, durchfallen lassen!« So wagte ich es denn. Ich mußte dreimal hospitieren, um bekannt zu werden, und wurde dann mit allen Stimmen akzeptiert.

Auf der königlichen Akademie wurde außer dem Malen, von dem vorausgesetzt zu werden schien, daß es jeder selbst erfinden oder privatim erlernen werde, auch das Gewandzeichnen und die Komposition gänzlich vernachlässigt. Es hatte sich daher jene Gesellschaft unter der Firma eines »Kunstvereins« gewissermaßen als Ersatzschule, wenigstens für die beiden letztgenannten Disziplinen, zusammengetan. Jeden Sonnabend abend fanden wir uns in einem zu diesem Zweck gemieteten Lokale ein und begannen unsere Studien zuerst am Gliedermann.

Für den Meister sind ohne Frage die Köpfe das schwerste, danach das Nackte; die Gewänder sind das leichteste. Umgekehrt geht es dem Schüler; daher man in den Arbeiten der Anfänger leidlichere Köpfe als Nacktes und leidlicheres Nacktes als leidliche Gewandung antrifft. Die Köpfe sind das letzte, was ein Meister, die Falten das letzte, was ein Schüler begreift. Dilettanten kommen niemals zu einigem Verständnis des Faltenwesens.

Von diesen Schwierigkeiten hatte ich damals noch keinen Begriff und setzte mich bei meinem ersten Besuche im Kunstvereine so sorglos an die Arbeit wie zu Tische. Falten – dachte ich – sind Falten und brauchen weder ähnlich noch verstanden zu sein, weil sie weder Physiognomien noch Muskeln oder Knochen haben. In Zeit von einer halben Stunde hatte ich den ganzen Gliedermann bewältigt mit allem, was drum und dran hing, und wenn es meiner Arbeit auch an Reiz zu fehlen schien, so befremdete mich das wenig, da offenbar die Puppe in demselben Fall war. Gleichgültig erhob ich mich, um Trägers Arbeit anzusehen, die mich lebhaft überraschte. Träger hatte zwar nur einen Teil des Gewandes gezeichnet, doch mit derselben Genauigkeit und Schärfe, als gälte es die Züge eines menschlichen Gesichtes; wirkliche und schöne Falten waren es, während die meinigen Gedärmen glichen. Auf meine Bitte nahm der Freund jetzt meinen Platz ein; er zeigte mir, wie die Falten, wenn auch gerade keine Anatomie, doch immerhin eine Art von Organismus, das heißt ein Gesetz ihrer Bildung hätten, nach welchem sie verstanden werden müßten, und daß ich sie nur oberflächlich angesehen hätte. Ich ging mit neuem Eifer und größerem Interesse an die Arbeit, aber die Aufgabe ward von Tag zu Tage schwerer, und das Rätsel der Falten kostete mich noch manchen bitteren Seufzer, ehe sie sich nur einigermaßen von Wurzeln und Gedärmen unterscheiden wollten. Sehr viel mehr Vergnügen machte mir der übrige Teil des Abends. Nachdem ein gemeinschaftliches Mahl von Kartoffeln und brauner Butter eingenommen war, öffneten sich die Mappen wieder, und die mitgebrachten Kompositionen wurden vorgewiesen. Ein und dieselbe Aufgabe war von allen in mehr oder weniger ausgeführten Skizzen behandelt worden. Die Motive waren Goetheschen Dichtungen entnommen, und da wir unserer einige zwanzig waren, so brachte ein solcher Abend auch einige zwanzig Klärchens, Mignons, Tassos oder Iphigenias zur Anschauung. Da war es denn sehr unterhaltend, zu sehen, auf wie verschiedene Weise die verschiedenen Talente ihre Aufgabe gelöst hatten; dazu erging sich die Kritik sehr ungeniert, obgleich in der Regel das einfache Nebeneinander schon ausreichen konnte, da schwächeres Licht vor hellerem von selbst erbleicht. So erinnere ich mich, daß eines Abends, als Erlkönige an der Reihe waren, die Zeichnung eines gewissen Kraft – der leider bald darauf gestorben ist – so allgemein frappierte, daß wir anderen unsere Blätter ins Feuer warfen. War endlich alles durchgesehen und durchgesprochen, so wurde der Rest des Abends versungen und verplaudert. Jedweder produzierte dann seine ergötzlichsten Seiten, und man genoß den Zauber einer Gesellschaft, wie sie so anregend und ungetrübt nur unter jungen Leuten künstlerischen oder wissenschaftlichen Berufs zustande kommen mag. Dem sittlichen Werte der ersten Stifter, der Strenge der Ballotage und der geschickten Leitung unseres trefflichen Seniors, des Kupferstechers Stölzel, war es zu danken, daß unsaubere Elemente ausgeschlossen blieben. Wir bildeten, soweit ich sehen konnte, eine ganz löbliche, die Zwecke der Akademie nur fördernde Gesellschaft, entgingen aber dennoch nicht dem Mißtrauen der akademischen Behörde, welche Cotta deshalb von einem Kakodämon besessen glaubte. In der Tat weiß ich es nicht, warum die königliche Intendanz wie die meisten Professoren uns entgegen waren, wenn nicht vielleicht nur deshalb, weil wir uns zu einigen der letzteren allerdings wie Konventikelleute zu den Pastoren der Landeskirche verhielten, das heißt durch ihren Unterricht nicht sehr befriedigt fanden. Auch war es nicht zu leugnen, daß einige von uns altdeutsche Röcke trugen, woraus man auf politische Tendenzen schließen mochte. Da indessen keinerlei wirkliche Gravamina gegen uns vorlagen, so mußte man uns einstweilen und bis auf weiteres schon leben und bestehen lassen.

Die Bedeutung des altdeutschen Rockes.

Es war allerdings ein wunderlicher Geist, der damals in den Köpfen der jungen Leute spukte, und daß auch der meinige davon nicht unberührt geblieben, ist bereits gemeldet worden. Ebenso wie vordem auf der Schule, schwärmte ich auch jetzt noch für Rückbildung des Vaterlandes zu seiner Vorzeit, namentlich zu deren traditionellen Tugenden der Ehrlichkeit und Treue, des Glaubens, der Tapferkeit und Keuschheit, und da ich diese Eigenschaften an denen zu erkennen glaubte, die sich altdeutsch trugen, so legte auch ich solche Tracht an, um meine Tugend zu bekennen und Gleichgesinnten kenntlicher zu sein. Der nüchterne Rosa sagte zwar, wenn er auch zugeben müsse, daß wir mit unseren langen Haaren und kahlen Hälsen wirkliche Altdeutsche und Erzväter aus grauer Vorzeit seien, so sei es ihm doch unbekannt, daß solche nie getrogen und gelogen hätten, daher er nicht begriffe, wo wir das ungemeine Zutrauen zu unseren Röcken hernähmen. Ich nahm es ihm nicht übel, denn sonderbare Sachen zu sagen, war einmal seine Art, und fuhr fort, vor seinen und aller Leute Augen ganz unbefangen in der lächerlichsten Maskerade umherzulaufen. Ein phantastisches Samtbarett auf lang abwallendem Haar, eine kurze schwarze Schaube mit breit darübergelegtem Hemdkragen und an einer eisernen Kette, zwar kein Schwert, doch einen Dolch, dessen Ebenholzgriff auf silbernem Totenkopfe saß: das war mein Aufzug.

Als ich, so angetan, eines Abends über die Brücke ging, stand da im Ausbau eines Pfeilers ein gleichgekleideter Jüngling, bräunlich und schön wie der Hirtenknabe David, welcher die Vorübergehenden betrachtete, indem er sehr behaglich von einem großen Stücke Schwarzbrot abbiß, das er in der Hand hielt.

»Bist du Bursche?« redete er mich an. Ich stand und bekannte mich als Maler. Das mochte ihm gerade recht sein, da er sich in Dresden, der Stadt der Künste, befand. Zutraulich schlang er seinen Arm in meinen, und wir schlenderten miteinander weiter wie gute Brüder. Es war kein Arg unter uns Verkleideten, man traute sich gegenseitig gleich das Beste zu, und Rosa mochte sagen, was er wollte: man täuschte sich auch kaum, denn jedermann will doch gern sein, wofür er gehalten wird, wofern dies was Gutes ist.

Ich hatte in Wahrheit einen prächtigen Jungen aufgefunden, frisch, froh, fromm, frei, wie Vater Jahn es sich nur wünschen konnte. Freilich mochte die Freiheit etwas widerspenstig, die Frömmigkeit etwas willkürlich ausfallen; aber anders war es auch bei den besten nicht. Mit einigem Stolze präsentierte ich den neuen Freund, Ernst FörsterErnst Förster aus Münchengosserstädt (1800 bis 1885), der später vieltätige und vielgenannte Kunstschriftsteller, hatte zu dieser Zeit das Studium an der Universität Jena aufgegeben und sich der Malerei, zuerst als Schüler Wilhelm von Schadows in Berlin, demnächst an der Dresdner Kunstakademie und seit 1820 als Schüler von Cornelius in Düsseldorf gewidmet. von der Jenenser Burschenschaft, im Kunstverein, und er ward so herzlich aufgenommen, als hätte man es vorausgewußt, daß er selbst bald Maler, trefflicher Schriftsteller im Kunstgebiete und der Schwiegersohn des allgemeinen Lieblings Jean Paul Friedrich Richter werden würde. Vorderhand freuten wir uns an einem Rundgesange, den er für uns dichtete, wie an seinem herrlichen Gesicht, das verschiedentlich gezeichnet und gemalt ward. Auch brächte ich ihn zu meinem Vater, der ihm seine Bilder zeigte und sich an seinem geraden Wesen wie an den kernigen Reden vergnügte, die er von sich gab.

»Es ist doch was Besonderes,« sagte mein Vater, »um diese nagelneue Auflage von jungen Leuten!« Mein lieber Vater war ein seiner, bescheidener Mann von vorwaltend aristokratisch-konservativer Gesinnung, und zwischen ihm und jenen altdeutschen Erzvätern, wie Rosa sie nannte, war außer der jugendlichen Frische, die er sich erhalten, wenig Gemeinsames; ja, wenn er gewußt hätte, wohin der treibende Geist von damals führen werde, er hätte mit allen Kräften wider ihn gestanden. Zu jener Zeit aber versprach er sich noch etwas für die Zukunft von der strengen, wenn auch rauhen Sittlichkeit, für die man schwärmte. Das übrige belachte er gleich Krummacher als Kinderei und meinte, es würde ganz von selbst an seiner eigenen Abgeschmacktheit zugrunde gehen. Er war ein durchaus edler, weitherziger Mensch, der im Grunde nichts als Gemeinheit haßte, und gemein war der Geist damaliger Jugend nicht. Mein Pater störte mich daher auch nicht in meinen Sympathien, wenn er sie gelegentlich auch zu klären und vor Exzentrizitäten zu bewahren strebte.

Weniger bequem in dieser Hinsicht war meine Mutter. Ihrem nüchternen Auge war die Verkleidung, in der wir uns gefielen, zuwider, und schmerzlich vermißte sie gefällige Sitte, wie die der Jugend anstehende Bescheidenheit im Urteil und Benehmen. Auch glaubte sie keineswegs, daß solche Übelstände sich von selbst verzetteln, sondern vielmehr in die greulichste Barbarei auslaufen würden. Ich hatte daher des öfteren unter ihrer Kritik zu leiden, bis ein Ereignis eintrat, welches die altdeutsche Kleiderparade in Dresden plötzlich zu Ende brachte, Eines schönen Morgens verbreitete sich im Gipssaal die Kunde von Kotzebues Ermordung, eines Schriftstellers, welchem wir alle mit mehr oder weniger Recht und Unrecht von Herzen gram waren. Ich meinesteils hatte weder viel noch wenig von ihm gelesen, doch war es mir nicht im geringsten zweifelhaft, daß er ein literarischer Giftmischer, ein russischer Spion, ein Vaterlandsverräter und Abgrund alles Verderbens gewesen. Diesen Höllenpfuhl mit seinem Pestqualm hatte der Heldenjüngling Sand geschlossen, sich selbst als ein anderer Curtius fürs Vaterland und seine heiligsten Interessen opfernd. Darüber, dachte ich, möge sich selbst die Mutter freuen, welche ihren Abscheu vor der Kotzebueschen Muse bei jeder Gelegenheit aussprach.

Statt dessen waren beide Eltern jetzt aufs tiefste empört, nicht nur über Sands unberufene Scharfrichtern, sondern fast mehr noch über meine Billigung derselben. Dahin also war es bereits mit unserer altdeutschen Tugend gekommen! Sie war zur Mutter eines Meuchelmordes geworden, und die Erzväter zeigten sich nicht abgeneigt, das Kind zu akzeptieren; wer aber konnte fortan noch seines Lebens sicher sein, wo hirnverbrannte Knaben Femgerichte bildeten?

Die Behörden glaubten anfangs, daß dieser Mord durch einen Beschluß der allgemeinen Burschenschaft, als deren Teilhaber man alles ansah, was sich altdeutsch trug, veranlaßt sei; aber wenn auch das nicht: aus dem Geiste hochmütiger Selbstüberschätzung, der unter jener Firma spukte, war er doch hervorgegangen, und solchen Geist zu dämpfen, schien geboten. Es fand sich daher in allen Sälen der Akademie ein königlicher Befehl ein, die langen Haare, deutschen Röcke und Waffen abzulegen. Der Rock macht freilich nicht den Mörder; aber immerhin: er war durch eine böse Tat geschändet und kein Zeichen mehr von »menschlicher und vaterländischer Tugend«.

Ich, als Sohn eines Professors, mußte natürlich zuerst daran glauben, und Friseur und Schneider vollbrachten schnell an mir das Werk einer äußerlichen, mir recht verhaßten Bekehrung. Es war eine ganz erbärmliche Geschichte, und nie in meinem Leben habe ich mich mehr geschämt als damals, wo ich die wenigste Ursache dazu hatte. Geschoren und im Philisterkleide heimelte ich zwar nun meine gute Mutter wieder an, wagte mich aber kaum noch vor die Haustüre hinaus. Gerade jetzt, wo ich aussah wie andere Sachsen, schoß ich gesenkten Hauptes durch die Straßen ihrer Hauptstadt, fürchtend, aller Welt sehr aufzufallen, und es vergingen lange Wochen, ehe ich die Leistungen der Polizei an meiner Toilette verschmerzen lernte und meine Unbefangenheit zurückgewann.

Aber die Untat Sands brachte uns noch wesentlicheren Nachteil. Die strengere Überwachung, welcher infolge der Karlsbader Beschlüsse alle akademischen Anstalten unterworfen wurden, sprengte endlich auch unseren Kunstverein. Man legte uns soviel Schwierigkeiten in den Weg, daß wir uns selbst auflösten; und wenn wir dann auch, besserer Gestirne harrend, noch längere Zeit hindurch ein Scheinleben führten, indem wir, Namen, Statuten und künstlerische Übungen aufgebend, uns ab und zu in anderen Kneipen versammelten, um miteinander ein Glas Bier zu trinken: die Sache war und blieb verloren, und der Phönix ist nie wieder auferstanden aus seiner Asche.


 << zurück weiter >>