Wilhelm von Kügelgen
Jugenderinnerungen eines alten Mannes
Wilhelm von Kügelgen

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6. Die Neuigkeit des Stiefelputzers

Die politischen Ereignisse gingen ihren Gang und wurden in unserem Hause aufs lebhafteste besprochen. Zwar las mein Vater keine Zeitung, weil er keine Zeit dazu zu haben meinte; unser Hausarzt aber und treuer Freund, der Dr. Pönitz, las dafür jede. Er war, wie viele seiner Fachgenossen, ein lebendiges Tageblatt und kam zurzeit und Unzeit, das Haus mit Nagelneuestem zu alarmieren.

Meine Eltern hatten die kolossalen französischen Armeen, geführt von den größten Feldherren der Zeit, nicht ohne Besorgnis nach Rußland ziehen sehen; daß aber dies riesige Reich so rasch und fast im Umsehen erobert werden würde, hatten sie sich nicht träumen lassen. In der Dresdener Hofkirche ward ein Tedeum nach dem anderen abgesungen zur Verherrlichung der siegreichen Fortschritte des großen Kaisers, bis endlich der Sturz des altehrwürdigen Moskau die Alleinherrschaft Napoleons über den Kontinent zu begründen schien.

Nichtsdestoweniger baute meine Mutter noch auf Alexanders kaiserliches Wort, daß er nicht Frieden schließen werde, solange sich ein feindliches Bajonett auf russischer Erde zeige. Allein der Vater meinte, Napoleon sei jetzt Herr in Rußland, und der Friede werde sich ganz von selber schließen, eine Aussicht, die trostloser als jeder Krieg schien.

Da brachte der getreue Pönitz, anfänglich zwar nur als unverbürgtes Gerücht, die sich bald bestätigende Nachricht von dem schauerlichen Brande Moskaus. Man kannte den Hergang jedoch nicht und wußte nicht, ob man dies Ereignis zum Vorteil oder Nachteil deuten solle, bis ein Brief aus der fernen Heimat meiner Mutter den Weg zu uns gefunden und von dem Aufschwunge der öffentlichen Meinung wie von der Siegeszuversicht erzählte, welche infolge jenes Brandes ganz Rußland belebe und alle Stände zu jedem Opfer begeistere.

So durfte man denn wieder hoffen. Es war nicht unwahrscheinlich, daß solche Entschlossenheit Erfolge haben müsse, und diese Hoffnung schien sich denn auch bald in allerlei Gerüchten zu realisieren, die sich mit Eintritt des Winters häuften und rasch von Mund zu Munde flogen. Jetzt wußte Pönitz viel zu sagen von ernstlichen Verlegenheiten der großen Armee, von Hunger, Frost und Blöße, von schrecklicher Bedrängnis, unglücklichen Gefechten, Rückzug und Flucht, und immer lauter und kecker wurden die Gerüchte, obschon die offiziellen Berichte noch längere Zeit zu täuschen suchten. Gewisses war nicht zu erfahren, und die Spannung steigerte sich ins Ungeheuere.

»Was gibt es Neues?« Das war die herrschende Phrase jener Zeit und die gangbare Rede, mit der sich jedermann begrüßte. »Was gibt's Neues, Blanke?«, so pflegte mein Vater auch seinen Stiefelputzer anzureden, einen alten verdrossenen Mann, der für den abermals zu Felde liegenden Talkenberg vikarierte und, wenn es ihm überhaupt zu antworten beliebte, sich wohl herbeiließ, etwas von den Neuigkeiten mitzuteilen, die er auf seinen Gängen in die Stadt erfuhr. Nun mochte es etwa gegen die Weihnachtszeit sein, als der Alte sich auf obige Frage hinter den Ohren kratzte und gleichgültig erwiderte, er wisse nischt – außer etwa nur das, daß der Napoleon in der Nacht eingepassiert wäre.

»Wer sagt das?« rief mein Vater, indem er aufsprang und den alten Brummbär bei den Schultern packte.

»Nu, nu!« erwiderte der, »wer soll's denn sagen? Die Leute sprechen's.«

Der Vater ließ alles stehen und liegen, eilte in die Stadt und kam bald mit der Bestätigung der großen Novität zurück. Napoleon war wirklich angekommen, unangemeldet, allein und ohne alte oder junge Garde. Ganz überraschend war er halberfroren bei seinem Gesandten vorgefahren, hatte diesen aus den Federn geschreckt, sich in sein warmes Bett gelegt und war vor Tagesanbruch schon wieder abgereist. Der Hiobspost von dem Untergange der Armee vorauseilend, hatte er Norddeutschland wie ein Blitz durchzuckt, um in ein Dresdener Bett zu schlagen; dann zuckte er weiter bis Paris.

Der alte Blanke bekam für seine Nachricht einen Taler, und die zahlreich vorsprechenden Freunde tranken vom besten Rheinwein, den wir im Keller hatten. So wackere Gesichter hatte man lange nicht gesehen, denn wenn Napoleon als sein eigener Kurier die Armee verlassen hatte, so mußte ihm das Wasser reichlich an die Kehle gehen.

Die Explosion

Nun folgte eine Neuigkeit der anderen; die früheren Gerüchte bestätigten sich und wurden von der Wahrheit noch überboten. Wir hörten jetzt offiziell von dem grauenhaftesten aller Rückzüge, ja von der völligen Vernichtung der unüberwindlichen Armee. General York ging über. Russische Heere drangen unaufhaltsam vor. Das niedergetretene Preußen erhob sich mit jugendlicher Kraft, und immer näher rückte auch uns die langersehnte Befreiung. Schon zu Anfang März ward der Wintzingerodesche Vortrab an der Elbe erwartet; der König von Sachsen verließ seine Residenz, und das schwache französische Kommando, das unter Regnier Dresden noch besetzt hielt, zog sich in die Altstadt mit der offenkundigen Absicht, die Brücke hinter sich zu sprengen. Die schöne Brücke, den Stolz des ganzen Landes, wollte man zerstören, und mit ihr vielleicht die halbe Stadt!

Es ist begreiflich, daß die Aufregung der ohnehin franzosenfeindlichen Einwohnerschaft durch solchen Vandalismus aufs äußerste gesteigert ward. Als daher das Pflaster aufgerissen wurde, um die Mine anzulegen, rottete sich das Volk zusammen und hinderte die Fortsetzung der Arbeiten mit Gewalt. Wie heute erinnere ich mich eines lauten tumultuarischen Geschreis auf den Straßen. Man rief nach Hilfe wider die Franzosen, und da wir gerade beim Abendessen saßen, griff mein Vater in der Eile nach dem Tranchiermesser, barg es unter seinem Rock und rannte mit Sturmeseile fort. Die Mutter rief und blickte ihm schwer geängstigt nach; aber glücklicherweise hatten die Franzosen, dem Andrang weichend, ihr Zerstörungswerk bereits sistiert. Bewaffnete Bürgerhaufen bewachten die Brücke.

Da zog am anderen Morgen der Marschall Davout von Meißen her mit einer imposanten Macht von 12+000 Mann, die das Gerücht auf 20+000 steigerte, in Dresden ein und stellte sich drohend à cheval der Brücke auf. Der Altstädter Schloßplatz mit den angrenzenden Straßen sowie der Neustädter Markt und die Lindenallee vor unseren Fenstern füllten sich mit Militär, das, vom Eilmarsch ermüdet, die Gewehre zusammenstellte und sich zum Biwak auf offener Straße anließ.

Ich lag mit meinem Bruder im Fenster, auf das Gewimmel blickend. Da zog leise, fast unbemerkt, ein schweres, zu dieser Jahreszeit sehr ungewöhnliches Gewitter die Elbe herauf, und plötzlich rollte ein majestätischer Donner über die Stadt hin. Die überraschten Franzosen reckten die Köpfe in die Höhe, sperrten die Mäuler auf, und wie auf ein verabredetes Zeichen äfften Tausende von Stimmen den Donner des Himmels nach. Aber in demselben Augenblicke schlug ihnen auch ein so energischer Sturzregen in die Zähne, daß sie fluchend unter ihre Mäntel krochen und sich zu bergen suchten, wie sie konnten. Die armen Menschen könnten ihr fast leid tun, sagte meine Mutter, wenn sie nicht allzusehr gelästert hätten, denn sie gehörte noch zur alten Schule, die im Donner Gottes Stimme vernahm.

Unterdes erfuhr man, daß die Vorstellungen des Magistrates den Marschall bewogen hatten, die Anlegung der Pulvermine in der Brücke sachverständigen Bergleuten zu vertrauen, was einigermaßen beruhigend wirkte. Doch aber ward der gesamten Einwohnerschaft aufs strengste anbefohlen, sich am nächsten Morgen weder auf der Straße noch in den Fenstern betreffen zu lassen. Letztere zu öffnen, wurde angeraten, damit sie nicht zersprängen.

Wir Kinder freuten uns dieser eigentümlichen Situation ganz kindisch. Wir hatten andere Interessen als die Großen, und auf einen Schaden mehr oder weniger kam es uns auch nicht an. Wir hofften, daß die katholische Kirche und das Schloß einstürzen, unsere Wohnung wenigstens wanken werde, und freuten uns unsäglich darauf, sämtliche Fenster auf die Straße fliegen zu sehen. Die Mehrzahl der Hausbesitzer mochte fürchten, was wir hofften.

Nun dämmerte der verhängnisvolle Morgen über die wohlbekannten Dächer der gegenüberliegenden Häuser herauf. Die Straßen waren öde und verlassen, und in banger Erwartung einer großen Katastrophe ruhte alle Arbeit. Man hörte keinen Laut in der weiten Stadt. Die Fenster standen offen trotz des frischen Morgens, doch ließ sich niemand blicken, und nur der aufsteigende Rauch aus den Feueressen bezeugte, daß die Einwohnerschaft nicht ausgestorben sei.

Wir hatten uns sämtlich in einen Alkoven zurückgezogen, der an das Wohnzimmer der Mutter stieß, um uns vor den Quadersteinen der Brücke zu sichern, von denen man annehmen zu dürfen glaubte, daß sie wie Vögel durch die Luft stiegen und in die Außenwände der Häuser schlagen würden. Es waren Augenblicke der höchsten Spannung, denn die nächste Minute konnte über Tod und Leben entscheiden, und wir Kinder fingen an, dem vernünftigen Wunsche Raum zu geben, daß doch alles recht gut ablaufen möchte.

Da geschah ein dumpfer Schlag. Die Mutter faßte nach uns Kindern – doch waren mein Bruder und ich bereits beim Vater am Fenster und sahen eine dicke Rauchsäule über der Brücke aufwirbeln. Gleichzeitig flogen alle Haustüren auf, und die Bewohner drängten auf die Straße, den Schaden zu besehen. Aber siehe da! zwei Bogen und ein Pfeiler fehlten freilich an der Brücke, sonst war diese unbeschädigt, und auch die umliegenden Gebäude hatten nicht gelitten. Die Franzosen waren drüben in der Altstadt abgesperrt und nur eine kleine Abteilung sächsischer Infanterie bei uns zurückgeblieben. Mein Vater rieb sich die Hände: »Gottlob!« sagte er, »nun sind die Affen fort, und hoffentlich für immer!«

Die Russen

Der »Gottessegen« war ein hohes Haus, außer dem Erdgeschoß noch vier Etagen übereinander; dann folgte erst der Dachboden, an welchem alle Mietsleute ihren Anteil und Verschluß hatten. Hier oben war eine romantische Welt, ein Labyrinth von dunklen, winkligen Gängen, Verschlägen und Rumpelkammern voll alten, weggesetzten Hausrates und voll Reiz für Kinder. Überdem erfreute man sich aus den Dachluken einer weiten Aussicht auf die Meißener Gegend, wie auch nach Norden über das Schwarze Tor hinaus bis auf die waldigen Höhen der Radeberger Heide.

Indem mein Bruder und ich nun eines Morgens hier unser Wesen hatten, fiel es uns ein, doch einmal auszuschauen, ob die Russen noch nicht kämen. Wir blickten angestrengt und lange in die Ferne und wollten eben die Köpfe wieder einziehen – da! – nein, es war keine Täuschung – da zeigten sie sich wirklich! Am Saum des fernen Kiefernwaldes, wo dieser an eine öde Sandfläche grenzte, die sich bis zur Stadt heranzog, war plötzlich ein neuer Gegenstand erschienen, ein dunkles Etwas, das sich lebhaft hin und her bewegte. Dann waren es zwei und immer mehrere. Bald schwärmte es wie ein Mückenschwarm der Stadt zu.

»Die Russen! die Russen!« frohlockten wir, und fort ging's mit Sturmeseile, den Eltern das entzückende Ereignis zu verkünden. Mein Bruder krallte sich fest an meine Jacke, schreiend, er wolle es auch mit sagen, denn er habe es zuerst gesehen, was auch nahe an die Wahrheit streifte. So wirbelten wir gekoppelt und doppelt die Treppe hinunter und drangen atemlos in das Arbeitszimmer des Vaters, der, empört über unser Ungestüm, den Malstock hob und uns die Flegelei verwies. Da er aber den Grund unserer Aufregung erfuhr, eilte er, die Arbeit vergessend, mit uns auf den Boden und blickte mit seinem scharfen Auge in die Ferne. Wir hatten recht gesehen: es waren Kosaken, die lustig auf dem Sande schwärmten und sich der Festung immer kecker nahten.

Ob wir hier Zeugen des ersten Schusses wurden, der aus der Stadt fiel, oder ob meine Phantasie die Erzählung anderer zum eigenen Erlebnis umgeprägt, kann ich nicht sagen; doch glaube ich gesehen zu haben, wie einer der Kosaken, nahe an die Palisaden heranreitend, auf den Knall einer Flinte taumelte und dann tot vom Pferde fiel, das ruhig neben ihm stehen blieb. Plötzlich aber war er wieder lebendig, sprang in den Sattel, schwenkte seine hohe Mütze gegen seine Mörder und jagte dann zurück zu seinen Kameraden. Dies Stückchen gefiel uns dermaßen wohl, daß wir es nachher, um es Margareten und anderen anschaulich zu machen, des öfteren wie eine Komödie aufgeführt haben. Ich kam auf einer Fußbank angesprengt, mein Bruder feuerte hinter dem Holzkorb vor, und dann geschah alles so wie dort.

An demselben Morgen sahen wir aus unseren Fenstern, wie zwei schlanke, hechtblaue Sachsenleutnants einen kleinen stämmigen Kosakenoffizier mit verbundenen Augen vorüberführten.

»Sie haben ihm ins Gesicht geschossen,« sagte mein Bruder ruhig, »und ihn dann gefangen.«

Aber der Vater belehrte uns, daß das ein Parlamentär sei, den man zum Kommandanten führe. Ich sah den kleinen, straffen Parlamentär mit so lebhaftem Interesse an, daß er mir mit seinen festen, kurzen Schritten, seinem breiten Nacken und der stolzen Haltung seines verbundenen Kopfes noch heute ganz lebendig vor den Augen steht. Nach einigen Stunden verbreitete sich die sehr willkommene Nachricht, daß die Neustadt am folgenden Morgen übergeben werden solle.

Nächsten Tags in aller Frühe zog denn auch die sächsische Besatzung ab, während sich unsere Neustädter Honoratioren am Schwarzen Tor versammelten, um die Kosaken zu empfangen. Diese, geführt vom Obristen Brendel, etwa 800 Mann stark, zogen in guter Ordnung ein und machten unweit des Tores, auf dem damals noch freien Platze zwischen Kirche und Kaserne, halt. Auch mein Vater war mit uns Knaben hingegangen.

»Das sind deine Landsleute,« sagte er mir, in welcher Bezeichnung für mich eine Aufforderung zu ungemessener Zärtlichkeit lag. Gern hätte ich wenigstens einigen die Hand gedrückt, da ich's nicht allen konnte, wenn mein Vater mich nicht an der seinigen festgehalten und die strenge Haltung dieser wilden Krieger mir nicht einiges Bedenken eingeflößt hätte. Inzwischen dauerte die anfängliche militärische Erstarrung des jovialen Kosakenvölkchens nicht allzulange. Was irgend Beine hatte in der Neustadt, war nach dem Tore geeilt, und von allen Seiten drängten die Bürger mit freudigem Zuruf auf ihre Befreier ein. Diese Russen waren als Feinde der Franzosen teure Freunde und Gesinnungsgenossen: sie wurden wie Brüder empfangen, und enthusiastisches Jauchzen erfüllte den Platz. Der Branntwein strömte; jeder hatte ihn mitgebracht, und jeder wollte der erste sein, den langersehnten Barbaren den Hals damit zu füllen. Halb zog man sie, halb sanken sie im Freudentaumel aus den Sätteln. Man umarmte, man küßte sich und sprach in allen Zungen, bis die Quartierbilletts verteilt waren und die glücklichen Wirte mit ihren Mannschaften abzogen. Es war ein Funke der weltgeschichtlichen Begeisterung einer großen Zeit, der in die Herzen des Dresdner Volkes gefallen war.

Meinen Eltern ward ein Offizier zugeteilt, mit dessen Burschen wir Kinder, wie mit den übrigen Kosaken im Hause, bald gute Freundschaft machten. Unsere gegenseitige laute und ununterbrochene Konversation war zwar sehr überflüssig, da wir uns nicht verstanden, doch gab es andere Mittel, sich zu befreunden, und Taten sind mehr wert als Worte. Wir schleppten unseren Freunden Lebensmittel zu, schenkten ihnen unsere ersparten Kupfermünzen und gingen ihnen zur Hand, so gut wir es vermochten. Sie dagegen schnitzten uns hölzerne Lanzen und Säbel, zeigten uns ihre Waffen, unter denen uns besonders ihre langen, in diversen Türkenkriegen erbeuteten und zum Teil sehr reich mit Silber eingelegten Pistolen wohlgefielen, und ließen uns auf ihren kleinen Pferden reiten.

Diese Kosaken aus den Freiheitskriegen waren gutartige, kindliche Burschen, zwar etwas diebisch und sehr versoffen, wie unser Hauswirt finden wollte, aber doch dabei recht fromm. Als einer von ihnen mit einer Meldung an seinen Offizier zu uns ins Zimmer trat und das große Marienbild erblickte, bekreuzte er sich sogleich und blieb mit aufgerissenem Munde wie angenagelt an der Türe stehen, keinen Blick von jenem Heiligtum verwendend. Der Offizier ersuchte meine Eltern in französischer Sprache, dem armen Kerl, der noch nie in seinem Leben ein so schönes Bild gesehen, zu gestatten, daß er näher hinzutrete, und meine Mutter, in aller Eile die Trümmer ihres halb vergessenen Russisch zusammenraffend, lud ihn nun selbst in seiner eigenen Sprache dazu ein.

Da überwog fürs erste die freudigste Überraschung jede andere Empfindung. Die heimischen Laute entzückten den Weithergekommenen, er krümmte und schmiegte sich mit lauten Exklamationen vor meiner Mutter bis zur Erde, küßte und streichelte den Saum ihres Kleides und suchte auf alle Weise seine Freude zu bekunden. Dann wieder betrachtete er das Bild mit größter Verwunderung und erbat sich schließlich die Erlaubnis, auch einige Kameraden herzuführen.

So dauerte es denn nicht lange, daß ein ganzer Haufe von Kosaken mit ihren Schleppsäbeln die Treppe hinaufrasselten. Sie nahten sich dem Bilde aufs ehrerbietigste, warfen sich auf die Knie, bekreuzten sich und verrichteten ihre Andacht wie in der Kirche. Dann besprachen sie sich leise über das Wunderwerk, vor dem sie standen, und zogen sich dankend mit vielen Verbeugungen wieder zurück. Dasselbe wiederholte sich an demselben Tage noch öfter.

Der im vergangenen Jahre bei uns einquartiert gewesene französische General hatte sich vor demselben Bilde schmunzelnd eine Köchin gewünscht, die der Maria gleiche, worauf seine Adjutanten lachten und dem Gespräch eine so frivole Wendung gaben, daß meine Mutter das Zimmer verließ. Unsere Kosaken waren indes keine Generale, sondern nur gemeine Russen, denen man noch etwas Ehrfurcht vor dem Heiligen zugute halten konnte. Außerdem waren sie ein frisches, fröhliches Völkchen, voll Gesang und guter Laune und, wie gesagt, bisweilen auch voll Branntwein. Nüchtern aber oder trunken gingen sie doch immer ihrem Feinde keck zu Leibe, und täglich erzählte man sich von der unerschrockenen Gewandtheit, mit der sie ihre Streiche auszuführen wußten. Auf ihren unermüdlichen Pferden schwammen sie über den Strom, erschienen plötzlich im Rücken der Franzosen, die sie unablässig neckten und erschreckten und ihnen Abbruch taten, wo sie konnten. Bei Nacht gelang es ihnen sogar, zahlreiche am anderen Ufer versteckte Kähne wegzunehmen und nach der Neustadt überzuführen.

Der schlaue Führer dieses kecken Haufens, Obrist Brendel, war wunderlicherweise ein Deutscher und interessierte demnächst durch seinen ungeheuren Bart, der an üppiger Vegetation alle Vorstellung übertraf und ihm bis zum Gürtel reichte. Brendel hatte dem Vernehmen nach früher in österreichischen Diensten gestanden, wo er, wie man sagte, sich genötigt gesehen, jenen reglementswidrigen Auswuchs, da er ihn nicht abschneiden wollte, in langen Flechten unter die Uniform zu knöpfen. Als ihm aber auch dies verleidet worden, habe er endlich in der Vorliebe für seinen Bart seinen eigentlichen Beruf erkannt und sei Kosak geworden. In Dresden erfreute sich dieser bärtige Obrist einer dreifachen Huldigung. Die nichts von seiner Herkunft wußten, feierten ihn als Russen und furchtbaren Barbaren, die anderen als wohlgesinnten deutschen Landsmann, und alle, die mit ihm in Berührung kamen, freuten sich seiner kräftigen und jovialen Persönlichkeit. Er ward schnell zum Löwen des Tages; aber obschon man ihn nach Kräften zu fetieren suchte, konnte er sich doch mit dem faulen Leben nicht vertragen. Er mußte vorwärts und die Nachhut der Franzosen weiterdrängen.

Der Marschall Davout war zwar unmittelbar nach Sprengung der Brücke mit dem Kerne seiner Truppen abgezogen, doch standen in der Altstadt immer noch 3000 Mann, die mit der Pudelmütze nicht wegzuschlagen waren. Da geschah es aber, daß wir etwa in der zweiten Nacht nach Brendels Ankunft durch starken Trommelwirbel und ein schwerfälliges Gerassel aus dem Schlafe aufgestört wurden. Jedermann dachte an den Einmarsch eines Armeekorps mit zahlreicher Artillerie, und man war daher nicht wenig erstaunt, am nächsten Morgen die Straßen leer und alles beim alten zu finden. Der ganze Spektakel war nichts anderes gewesen als ein Gespenst, das Brendel heraufbeschworen, um die Franzosen aus der Altstadt wegzuschrecken. Er hatte nämlich aus den benachbarten kleinen Städten und Ortschaften die sämtlichen Trommler der Schützengesellschaften zusammentreiben und durch die Straßen der Neustadt wirbeln lassen. Hinter ihnen fuhren mit Steinen schwer beladene Leiterwagen. Die Franzosen aber hatten richtig Schein mit Sein verwechselt: sie waren abgezogen, und Brendel schwamm mit seinen Kosaken durch den Strom, sie zu verfolgen. Erst hinter ihnen schloß ein interimistischer Holzbau die große Bresche in der Brücke.

Jetzt brachte jeder Tag sein Neues. Auf die Kosaken folgten reguläre russische Truppen. Das Wintzingerodesche Armeekorps zog größtenteils durch Dresden, und zwar in bester Haltung mit Sang und Klang, mit fliegenden Fahnen und umgeben von dem Nimbus der gerechten Sache, für die es stritt. Solche Durchmärsche mit anzusehen, wäre an und für sich schon gut genug gewesen; wir Kinder aber hatten dabei noch ein spezifisches Interesse. In der russischen Armee nämlich dienten viele Livländer, unter denen sich leicht Verwandte finden konnten, eine Menschenklasse, die uns Kindern bis dahin fremd geblieben war, da die Familien des Vaters wie der Mutter so weit von uns zu Hause waren. Wir sahen daher jeden russischen Offizier darauf an, ob nicht vielleicht ein Onkel in ihm stecke, suchten auch einzelnen, die uns wohlgefielen, durch vertrauliches Zunicken eine Entdeckung zu erleichtern, an der ihnen, wie wir meinten, ebensoviel gelegen sein mußte als uns selbst. Auf diese Weise erhielten wir manchen freundlichen Gruß zurück, ohne jedoch zu unserem Zweck zu kommen. Aber die rechten Onkels stellten sich ganz von selber ein, und o wie klopfte mir das Herz, als ich eines Morgens in der Haustür stehend, von einem anreitenden Husarenoffizier gefragt ward, ob hier mein Vater wohne. Es war ein Vetter meiner Mutter, namens Georg von Bock, ein wunderschöner junger Mann vom stattlichsten Aussehen. Fast verschlang ich ihn mit den Augen und hatte eine Freude, die nur durch die vergangene Verwandtendürre erklärlich werden konnte. An seinem Arme ging ich stolz durch die Straßen bei den präsentierenden Posten vorüber und fühlte mich nicht schlecht geschmeichelt, wenn begegnende Soldaten Front vor uns machten. Das war doch anders als mit Talkenberg! Und o wie anziehend waren die Gespräche dieses Onkels für groß und klein, denn er hatte die ganze Kampagne in Rußland mitgemacht und erzählte in trefflicher Weise als Augenzeuge von den Schlachten bei Smolensk, bei Moshaisk, bei Maloi-Iaroslawez und von den Greueln an der Berezina. Leider konnte er nicht immer bleiben: er mußte weiter, wie andere liebe Verwandte, die ihm folgten, und wie ein Traumbild sind mir diese ersten Russen mit ihren Onkels hingeschwunden.


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