Wilhelm von Kügelgen
Jugenderinnerungen eines alten Mannes
Wilhelm von Kügelgen

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9. Der Özweig.

Meine Eltern fühlten sich so wohl in Hummelshain, daß fürs erste keine Rede vom Weiterreisen war, der Vater sich sogar zu seiner gewohnten Tätigkeit einrichtete und zu malen begann. Unter anderem entwarf und vollendete er hier ein Gemälde von halb prophetischer Natur, das mir noch lebhaft vorschwebt. Das Bild sollte zunächst den Sturz des Luzifer durch den Erzengel Michael vorstellen. Aber die dämonisch schönen Gesichtszüge des Luzifer erinnerten lebhaft an das Felsenantlitz des Helden von Korsika, wie die des Engels an den Kaiser Alexander – eine Beziehung, die heute vielleicht abgeschmackt sein würde, damals aber um so zulässiger erschien, als man in beiden Imperatoren die historischen Träger sich entgegengesetzter Prinzipien erblicken wollte und nicht abgeneigt war, den nordischen Kaiser als Repräsentanten der großen Hilfe Gottes anzusehen, die man bereits erfahren hatte.

Wenn aber der Sturz Napoleons auch von Rußland her datierte, so konnte er doch nur durch die gemeinsame Anstrengung der Verbündeten vollendet werden. In der Bewaffnung, in den Farben und sonstigen Attributen des Engels fanden sich daher speziellere Beziehungen auf jede der alliierten Mächte, auf England, Österreich, Preußen. Der Schild z. B. mit dem Marien-Theresienkranze deutete auf Österreich, das Adlerschwert auf Preußen, der Greif über dem Helm auf die sich keck erhebende Volkskraft usw.

Man konnte damals noch gerecht sein, weil man unter den gewaltigen und wahren Eindrücken der Ereignisse stand. Man durfte sich gegenseitig gelten lassen, weil man sich gegenseitig noch brauchte. Aber schon ein oder zwei Jahre später wurde alles anders, und ein Bild wie dieses, welches Gott die Ehre gab und jedem seinen Anteil, wäre kaum noch da verstanden worden, wo man am wenigsten geprahlt hat, nämlich in Wien und Petersburg. Um ein Berliner Verständnis zu ermöglichen, hätte der Engel einem preußischen Landwehrmanne gleichen müssen, während John Bull ebenfalls nicht abgeneigt war, sich ganz allein für den großen Michael zu halten.

Als jenes Bild begonnen wurde, war der Ausgang des Krieges, obgleich man sich bereits auf französischem Boden schlug, doch noch sehr zweifelhaft; aber die Ereignisse rechtfertigten die Voraussicht meines Vaters, die Verbündeten zogen in Paris ein, Napoleon stürzte von seinem Kaiserstuhl ins Meer, der Friede wurde unterhandelt, und endlich erlebten wir eine Nacht, deren herzerhebende Feier mir immer unvergeßlich bleiben wird. Es mochte neun Uhr abends sein, als wir, alt und jung, noch sämtlich auf dem Hofe waren, um uns der Kühlung des Abends zu erfreuen. Über das Staket des Gartens hingen die Blütentrauben des Zytisus und der Springen, vom Hetzgarten herüber ertönte das Lied der Nachtigall und über das Dorf der ferne Froschteich. Die Eltern saßen im Gespräche beieinander auf der breiten Freitreppe des alten Schlosses, und wir Kinder rannten umher, mit Haselstöcken Kröten erlegend, die um diese Stunde ihre Promenade zu beginnen pflegten – als der pastor loci, ein kleiner, runder Mann, sehr eilig und erhitzt mit Hut und Wanderstab durchs Schloßtor schwenkte.

Ich habe den Namen dieses Herrn vergessen, vielleicht nie gehört, da er bloß der Herr Pastor genannt wurde. Ziegesars hatten wenig Umgang mit ihm, daher man ihn eigentlich nur auf der Kanzel zu sehen bekam, wenn er seine Predigt hersagte. Desto häufiger erblickten wir die Frau, wenn auch nur aus der Vogelperspektive. Unsere Mansardenfenster hatten nämlich die Aussicht auf den Pfarracker, wo sich die Frau Pastorin fleißig zeigte, und zwar in Reiterstiefeln mit hochgeschürzten Röcken und einem dreieckigen Bauernhute auf dem Kopfe. So trieb sie unter Hott! und Hüh! ein Joch Milchkühe mit dem Pfluge vor sich her, oder auch sie düngte, hackte und beschaufelte das Feld. Sie besorgte allein die ganze Ökonomie des Pfarrhofs und war recht eigentlich der Großknecht wie auch der Großherr ihres Mannes, der für einen menschenscheuen und unbeholfenen Weisen galt, mit dem im praktischen Leben nichts Sonderliches anzufangen sei.

Heute war der Herr Pastor aber wie ausgetauscht. Er kam zu Fuß von Jena angerannt, wo er gelehrte Freundschaft begrüßt haben mochte, und brachte den Frieden mit. Diese Nachricht hatte er, einen Teil des Dorfes durcheilend, schon in die Fenster geschrien, und viele Leute folgten. Der nächtliche Schloßhof füllte sich mit Männern, und der Oheim ersuchte den von Freude berauschten, über sich selbst erhobenen Friedensboten, ein Dankgebet zu halten. Da verlieh ihm Gott ein fröhliches Auftun seines Mundes, und er sprach begeisterte Worte. Nach dem Amen aber stimmte er mit allem Volk das herrliche deutsche Volkslied an: »Nun danket alle Gott!« Ziegesars Jäger fielen mit ihren Waldhörnern ein, und weithin schallte der Lobgesang über das Dorf hinaus in die stille Frühlingsnacht.

Wir Kinder hatten den Krieg gar nicht als Last empfunden; jetzt aber war es uns doch zumute, als sei der Teufel aus der Welt gefahren, und da die Großen Hände schüttelnd durch die Reihen der Leute schritten und alles sich beglückwünschte und umarmte, umarmten auch wir Kleinen uns untereinander und die Eltern und den Pastor und die Bauern, und hatten großen Jubel. Die Männer aber hoben ihren Pfarrherrn auf die Schultern und trugen ihn nach seiner Wohnung.

Es war nun Friede in Europa, und allerwärts ward er gefeiert mit Orgelton und Glockenklang, mit Kuchen und unendlich vielem Schießen. Man glaubte einer herrlichen Zukunft entgegenzugehen, und eine Zeitlang ließ sich's auch so an – aber diese Erde ist kein Himmelreich; sie ist es nie gewesen und wird's nie werden. Die Franzosen war man freilich los; aber der Geist der Verneinung, dessen Repräsentanten sie gewesen, blieb, erstarkte je mehr und mehr und führte eine innere Feindschaft und einen Krieg der Ansichten und Meinungen herbei, der aufreibender ist als jeder andere und nachgerade unser Staats- und Kirchenleben in seinen Grundfesten erschüttert hat.

Nur eine ganz kurze Geschichte.

Fast unmittelbar an jene Friedensnacht reiht sich die Erinnerung an ein Erlebnis anderer Art, das die Hummelshainer Physiognomie für kurze Zeit sehr wesentlich veränderte. Der Erbgroßherzog von Weimar machte nämlich mit seiner Gemahlin einen mehrtägigen Aufenthalt bei Ziegesars, womit, wenn ich nicht irre, die Frau Erbgroßherzogin noch den Nebenzweck verband, sich von meinem Vater malen zu lassen. Da prangte das Schloß in Blumen und Girlanden, die Herren in Uniformen, die Dienerschaft in Tressen, und wir Kinder traten in den Hintergrund. Wir waren von den Tafeln ausgeschlossen und durften überhaupt nur wenig sichtbar werden, denn die Hofetikette läßt die Kindlein fernbleiben. Auch hatten wir gar kein Verlangen, vorzutreten, und waren ganz zufrieden, uns hinter den Kulissen von den angenehmen Schnippelbrocken zu ernähren, die uns die Tante reichlich zukommen ließ.

Inzwischen geschah es, daß die Frau Erbgroßherzogin uns eines Tages ganz privatim zu sich befahl. Uns allen, und besonders mir mit meiner Senffschen Natürlichkeit, war wenig an dieser Ehre gelegen; aber die Güte, mit der wir empfangen wurden, die milde Schönheit und der ganze feine kaiserliche Nimbus der hohen Frau versöhnten uns in solchem Grade, daß wir höchstderselben alles übrige verziehen hätten, wenn wir darum angegangen worden wären.

Der Erbgroßherzog dagegen würde sich wahrscheinlich in keiner Weise um uns gekümmert haben, wenn nicht einer von uns genötigt worden wäre, sich ganz unwillkürlich selber vorzustellen. Das ging so zu:

Nachdem wir Kinder aus respektvoller Entfernung Zeugen vom ersten Empfange der hohen Herrschaften gewesen waren, hatte sich eins von uns in der Freudigkeit seines Herzens veranlaßt gefunden, ein Asyl aufzusuchen, dessen notwendige Existenz ein offenkundiges Geheimnis in allen Häusern ist. Da er aber vergessen hatte, den Riegel vorzuschieben, so konnte es geschehen, daß ihn ein Kammerdiener überraschte, der hohen Besuch vermeldete. Der erschrockene Junge wollte entwischen, wie er eben war, aber der rasch eintretende Fürst hielt ihn zurück und fing in dem geräumigen Gemach sogleich zu konversieren an. Aufs wohlwollendste fragte er nach Namen, Alter und Aussichten, und ob man diesen Ort oft zu besuchen pflege.

Es gibt so manche Parallelen zwischen den höchsten und niedrigsten Ständen, unter denen die Unbefangenheit in natürlichen Dingen obenan steht. Diese Unbefangenheit hatte den überraschten Neuling schnell zutraulich gemacht, und während beide auf entgegengesetzte Weise mit ihrer Toilette beschäftigt waren, ging die Unterhaltung leicht und gut vonstatten. Ich hatte übrigens den Vorteil von dieser improvisierten Audienz, daß mir bei anderweitigen zufälligen Begegnungen als altem Bekannten freundlich zugenickt wurde.

Die Asiaten.

Meine arme Mutter war recht schwer erkrankt, und ich erinnere mich, daß ich bisweilen große Sorge um sie hatte und manche Träne weinte, besonders wenn ich sie so gar nicht sehen durfte, oder wenn der Arzt geheimnisvollen Angesichts aus ihrem Zimmer trat und mit dem Vater flüsterte. Aber Kinder sind nur momentaner Sorge fähig. Wenn ich dann wieder mit den anderen wilderte, sah mir kein Mensch was an. Die Mutter lag am Nervenfieber und war in ihren Phantasien umgeben von den Eindrücken der letzten Jahre, von Krieg und Kriegsgeschrei, sah Truppen ziehen und hörte die Fanfaren der Hörner und Trompeten unausgesetzt bis zur Erschöpfung.

Wir anderen erlebten unterdessen ähnliches in Wirklichkeit, was namentlich für die Tante nicht viel weniger erschöpfend als Phantasien sein mochte. Verschiedene auf dem Rückmarsch begriffene Kosaken- und Baschkirenregimenter passierten nämlich nacheinander Hummelshain und rasteten daselbst. Das Schloß lag voll von fremden Reitern, und das arme Mühmchen hatte viel zu schaffen, um allen Anforderungen zu genügen, die aus Küche und Keller wie aus der Krankenstube ohne Unterlaß an sie ergingen.

Ich war durch diese friedlichen Kriegsszenen nur angenehm zerstreut. Wir Knaben trieben uns, soviel wir konnten, unter dem fremden Volk umher, befreundeten uns mit einzelnen der Leute und hatten sogar das Glück, daß ein besonders liebreicher Baschkire, ein unproportionierlich dicker Kerl, uns nicht allein den Gebrauch seines Bogens lehrte, sondern uns sogar selbst dergleichen schnitzte, die trefflich schossen. Der Dienst, den unser dicker Gönner uns damit erwies, war aber um so dankenswerter, als er nicht wie unsereiner so ohne weiteres zu seinem Taschenmesser kommen konnte, sondern erst viel Umstände damit hatte. Wir fahren brevi manu in die Tasche und holen heraus, was uns beliebt; jener Baschkire aber hatte zu unserem Erstaunen erst drei Paar weite Hosen ab- und drei lange Unterwesten aufzustreifen, ehe dasjenige Kleidungsstück erreicht war, in dessen Tasche seine sieben Sachen waren. Wie viele Hüllen unter dieser noch zu beseitigen gewesen wären, um bis zum Menschen an sich zu kommen, konnte nicht ermittelt werden; doch dachte ich, daß, wenn der Kerl erst ganz vollständig abgewickelt wäre, so würde er vielleicht so schlank sein wie ein Aal.

Alle diese Asiaten schienen sich in Hummelshain besonders zu gefallen. Denn nicht allein, daß die Tante jezuweilen mit ihnen in ihrer Muttersprache koste, sie beköstigte sie auch mit nationalen Speisen, mit Roggenbrei, mit Sauerkraut, mit Zwiebeln, Kohl und Salzfischen, so daß sie die meiste Zeit den Hof mit ihrem Jubel füllten, sangen, tanzten, auf dem Kopf standen und sich balgten.

Ein junger Kosak spielte die tatarische Leier, die Balalaika, als Meister und sang dazu wie Orpheus. Die anderen tanzten dann und waren dabei so natürlich, daß Rousseau seine Freude daran gehabt hätte. Sie glichen überhaupt dem Ideale jenes Philosophen ziemlich und hatten alle Eigenschaften der Wilden, mit Ausnahme des eigentlichen Kannibalismus. Ein Rest zwar war auch von diesem noch geblieben, aber doch nur in sublimiertester Gestalt, indem sie nicht sich selber verspeisten, sondern nur, etwa zum Nachtisch und während der Siesta, ihr gegenseitiges Ungeziefer. Mein Vater fand, es gäbe dies den wahren Kreislauf der Säfte, wie wenn Kühe mit ihrer eigenen Buttermilch gefüttert würden.

Mir hatte die Balalaika ganz außerordentlich gefallen. Sie klimperte so hell und lustig, und es erschien mir keine Hexerei, sie zu spielen. Ich fabrizierte mir daher auch eine, welche wohl gelang und, wenn auch gerade nicht fürs Auge und noch weniger fürs Ohr, doch ausreichend für mein Bedürfnis war. Ich befestigte nämlich ein Lineal auf eine alte Schachtel und spannte darauf freilich nicht zwei Saiten, als welche auf eine richtige Balalaika gehören, sondern nur eine, weil mehr nicht aufzutreiben waren. Auch brachte ich die Verschiedenheit der Töne nicht durch Fingerdruck, sondern dadurch zuwege, daß ich das gefällige Lineal mehr oder weniger zurückbog, Wodurch die Spannung der Saite verändert ward. Ich hatte ein ganz neues Instrument erfunden, auf welchem ich so viel Geschicklichkeit erwarb, daß Hermann bisweilen, wenn auch mit Anstrengung, die Melodien erraten konnte, die ich vortrug. Die Kosaken lobten mich sehr ausdrucksvoll und legten mir nichts in den Weg, wenn ich den zweiten Diskant zu ihren Tänzen klimperte.

Kurz vor dem Abzug des fröhlichen Völkchens erlebten wir noch eine kleine Untat und deren Korrektion. Es wurden ein paar Löffel, ein Bettuch und andere Kleinigkeiten vermißt, die sich sämtlich in den weiten Hosen des Balalaikakünstlers wiederfanden. Dafür ließ ihn sein Herman vor das Schloßtor führen und ihn ohne alle Kommiseration zerdreschen. Ein paar Kameraden packten den Delinquenten bei den Haaren, rissen ihn zu Boden und walkten ihn dermaßen mit ihren Kantschun ab, daß der Jagdjunker von Ende ihm wenigstens hundert bleierne Kreuzchen als Äquivalent geschuldet hätte. Der arme Kerl wand sich im Staube wie ein Wurm, und seine Kleider, Bart, Haar und Gesicht überzogen sich mit allen Elementen des Fahrweges, bis die Fürsprache des zufällig dazu kommenden Oheims ihn befreite. Es war das erstemal in meinem Leben, daß ich einer ernstlichen Prügelexekution beiwohnte. Der Eindruck war überaus empörend. Daß Menschen eine Gewalt über ihresgleichen übten wie über Hunde, schien mir schimpflich. Man hätte meiner Meinung nach den Mann vermahnen mögen so eindringlich und beweglich als man irgend wollte oder auch ihn einsperren bei gesunder Kost und in gesunden Räumen; sich aber an ihm vergreifen, das schien aller Menschenwürde Hohn zu sprechen und entehrend für beide Teile.

Mein Kosak schien sich inzwischen an seiner Ehre so wenig gekränkt zu finden als etwa ein Korpsstudent, der aus dem Karzer tritt. Als er sich kniend bei seinem Offizier für Strafe und bei dem Oheim für dessen Fürsprache bedankt hatte, zogen die Kameraden mit ihm davon. Sie achteten ihn gerade wie zuvor und tanzten auch am Abend wieder nach seiner Balalaika.


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