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Zu den denkwürdigen Büchern der deutschen Literatur, die das Andenken eines Mannes lebendig erhalten, der während seines Lebens nicht an literarischen Ruhm gedacht und ganz andere Ziele vor Augen gehabt hat, als ein gepriesener Schriftsteller zu werden, zählen die »Jugenderinnerungen eines alten Mannes«, deren lebensvolle Anschaulichkeit und deren glücklicher Humor weit über die Kreise der unmittelbaren Gesinnungsgenossen des wahrhaft frommen Verfassers hinaus wirkten. Seit ihrem ersten Hervortreten hat diese Selbstbiographie des Malers Wilhelm von Kügelgen Tausende und aber Tausende von Lesern entzückt und ist mit allgemeiner Zustimmung, als ein Meisterstück von ursprünglichem Gehalt und vollendeter Form, dem eisernen Bestand unvergänglicher Werke unserer Literatur eingereiht worden. Um den Zauber, den diese frischen Bilder aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts auf alle empfänglichen Gemüter ausüben, auch nur annähernd schildern zu können, müßte man Dutzende von Stellen der »Jugenderinnerungen« selbst herbeiziehen und würde doch nur einen schwachen Begriff von der Eigenart, der Mannigfaltigkeit und der ganz einzigen Mischung kräftigen Lebensbehagens und demütiger Gottergebenheit hervorrufen, die das Buch auszeichnen. Kügelgens »Jugenderinnerungen« dürfen weder durchblättert, noch in Auszügen mitgeteilt, sie müssen durchaus gelesen und genossen werden, wie man ehedem Bücher las: mit liebevollem Anteil am Reiz des einzelnen, mit frischer Lust am Lebenshauch einer vergangenen Zeit, der uns aus den Blättern dieser Jugendgeschichte in seltener Unmittelbarkeit entgegenweht. Durchaus nur die Erinnerungen eines lebensfrohen und begabten Knaben und Jünglings, der aber durch Abstammung, Umgebungen und ein besonderes Familiengeschick schon in früher Zeit mit einer ganzen Anzahl hervorragender und ursprünglicher Menschen in Berührung kam und von verschiedenen geistigen Strömungen persönlich ergriffen wurde, haben Wilhelm von Kügelgens Aufzeichnungen neben ihrem poetischen auch einen kulturhistorischen Wert. Die Fäden, die sein Jugendleben mit Zuständen, Menschen und Sitten der drei ersten Jahrfünfte des vergangenen Jahrhunderts verknüpften, leiten die Phantasie des einigermaßen unterrichteten Lesers zu Erinnerungen und Denkwürdigkeiten, von denen in Kügelgens Buche nichts steht; die Treue und Wahrheit seiner Erzählung läßt sich beim Vergleich gerade aller der Dinge, die durch andere Schriften festzustellen und zu bestätigen sind, vortrefflich nachweisen. Obschon auf einzelne Irrtümer und Verwechselungen nicht eben viel ankommen würde, ist die bewährte Zuverlässigkeit der Kügelgenschen Erinnerungen besonders wohltuend. Der Hauptschauplatz dieses Jugendlebens war Dresden mit seinen unmittelbaren Umgebungen, aber Bernburg und Ballenstedt, Thüringen, namentlich das altenburgische Schloß Hummelshain, und ein paar zwischen diesen äußersten Ost-, Nord-, West- und Südpunkten gelegene Städte mit ihren Besonderheiten, dienen gleichfalls den Erinnerungen Kügelgens zum Hintergrunde.
Wilhelm Georg Alexander von Kügelgen, der Verfasser der »Jugenderinnerungen«, die er in der Tat als alter Mann niederschrieb, nachdem er sie treulich durch ein langes, in mehr als einem Sinne wechselvolles und nur in einer Richtung – die ihm freilich als die Hauptsache galt – befriedigtes Leben getragen hatte, war am 20. November 1802 zu Petersburg als der älteste Sohn des Malers Gerhard von Kügelgen und seiner ihm 1800 vermählten Frau Marie Helene Freiin Zöge von Manteuffel geboren. Gerhard von Kügelgen, rheinischen Ursprungs, mit seinem Zwillingsbruder Karl zuerst ein Zögling des Historienmalers Zeck in Koblenz, danach in Rom zwischen 1791 und 1794 auf seine eigene Weise das Studium der Antike und der Renaissancekunst betreibend, ein Eklektiker wie andere Maler seiner Zeit auch, mit einem Zuge zu süßlichem Idealismus, aber nicht ohne Grundlage sicheren Naturstudiums und als Porträtmaler von lebendigem Verständnis der Individualität besser unterstützt, als die meisten Künstler seiner Tage, war, nachdem infolge der französischen Revolution seine kurkölnischen Stipendien und das Kurfürstentum Köln überhaupt aufgehört hatten, nach dem Norden gegangen. Er hatte in Riga und Reval reiche künstlerische Beschäftigung, auf den Gütern des baltischen Adels gastfreundliche Aufnahme gefunden. Daß er sich auf dem Manteuffelschen Gute Harm in Estland in die Tochter des Hauses, Marie Helene, verliebte und deren Neigung gewann, brachte ihm und namentlich seiner Geliebten schwere Kämpfe, deren Gedächtnis das Buch »Marie Helene von Kügelgen, geb. Zöge von Manteuffel«, ein Lebensbild in Briefen (Leipzig 1900) erneuert hat. Als durch die Auffrischung des Adels der Familie Kügelgen den Standesvorurteilen des Barons von Manteuffel genügt war und der glänzende Erfolg, den Kügelgen als Porträtmaler in Petersburg jahrelang hatte, ihm selbst zu einem rasch erworbenen Vermögen verhalf und die materielle Zukunft für immer sicherzustellen schien, da erfolgte endlich die Verbindung des liebenden Paares. Bald nach der Geburt des Sohnes Wilhelm trieb es den Künstler im Jahre 1803 nach Deutschland zurück. Ein längerer Aufenthalt auf dem Gute Harm ging dem Wiedereintritt in neue Verhältnisse voran, es folgte ein Versuch, am Rhein wieder heimisch zu werden, eine Reise nach Paris und endlich im Jahre 1805 die Niederlassung in Dresden. Mehr von den Kunstschätzen, als vom damaligen Kunstleben der sächsischen Hauptstadt angezogen, die überdies von altersher ein beliebter Sammelpunkt des baltischen Adels war, fand der Maler trotz der kriegerischen, unruhigen Zeiten, die mit der Schlacht von Jena und ihren Folgen auch über Mitteldeutschland kamen, die Art von Lebensbehagen, die dem Geschlecht von damals unentbehrlich dünkte. Beim Beginn dieser Dresdner Jahre setzen Wilhelm von Kügelgens Erinnerungen ein. Es mag wohl auf einem Irrtum beruhen, daß der dreijährige Knabe den Kanonendonner der Schlacht von Jena in Dresden gehört haben will. Aber es unterliegt keinem Zweifel, daß seit der österreichischen Okkupation Dresdens im Kriege von 1809 und seit dem Vorüberziehen des Herzogs von Braunschweig mit seinen Schwarzen im gleichen Sommer, die Augen des Malersohnes für die wechselnden Erscheinungen jener Jahre weit geöffnet waren und daß die merkwürdige Mischung von idyllischen und bunten Welteindrücken, die dem Heranwachsenden gegönnt wurde, tief in seine Seele drang. Wilhelms Vater Gerhard, der im Dezember 1808 sein bekanntes Bildnis Goethes gemalt hatte (die Goetheschen Tagebücher vom 13. Dezember 1808 bis zum 25. Januar 1809 verzeichnen wiederholt seine Anwesenheit im Goetheschen Hause), ein Bild, das den Dichter in Lebensgröße, fast völlig en face, mit dem Mantel drapiert und mit dem russischen St. Annenorden und der französischen Ehrenlegion geschmückt, zeigt, und ein Werk, durch das sein Name als Künstler besser und dauernder erhalten wurde, als durch seine mythologischen und religiösen Historienbilder, wurde in jenen Jahren einer der gepriesensten Maler seiner Zeit und hegte früh den Wunsch, daß ihm sein älterer Sohn auf dem Kunstpfad folgen möchte. Die lange Zeit so begünstigten, ja glänzenden äußeren Verhältnisse des Hauses wurden durch die fortgesetzten Opfer, die die Kriegsjahre forderten, und durch die Zerrüttung der russischen Staatsfinanzen wesentlich verändert. Ein Petersburger Bankrott beraubte Kügelgen schließlich 1815 des größeren Teils seines Vermögens. Mit rastlosem Fleiß und von der Ahnung eines frühen Todes erfüllt, gewann er durch zwei angestrengte Jahre als Porträtmaler in Berlin eine neue Unterlage seiner Existenz. In seinen letzten Lebensjahren trat er als ordentlicher Professor unter die Lehrer der Dresdener Kunstakademie und hatte auch noch die Freude, seinem Wilhelm als Meister die ersten Schritte in der Malerkunst wesentlich zu erleichtern, ihm als Vorbild und Führer zu dienen. Ehe der junge Kügelgen noch die Akademie durchlaufen hatte, brach das furchtbare Ereignis über ihn und seine Familie herein, mit dem die »Jugenderinnerungen eines alten Mannes« abschließen. Gerhard von Kügelgen, der 1819 ein Weinbergsgrundstück halbwegs zwischen der Mordgrundbrücke und dem Dorfe Loschwitz erkauft hatte und die Herstellung eines stattlichen Wohnhauses auf diesem Grundstück mit Eifer betrieb, wurde auf dem Heimweg nach der Stadt am 27. März 1820 von einem Unterkanonier Kaltofen ermordet und beraubt. In dem stillen Dresden der Restaurationszeit wirkte dies erschütternde Ende des liebenswürdigen und allbeliebten Künstlers mit doppelter Gewalt. – Der Dichter Karl Förster schrieb in seinem Tagebuche vom 30. März 1820: »Ein Gefühl des Schmerzes, der Trauer, des Unwillens erfüllt die Gemüter; eine allgemeinere Teilnahme ward hier wohl keinem Ereignisse.« Daß der Prozeß gegen den Mörder sich zu einer cause célèbre auswuchs und seine Darstellung im »Pitaval« und ähnlichen Sammlungen das Gedächtnis Gerhard von Kügelgens auch bei solchen erhielt, die von dem Künstler nichts wußten, mag nur nebenher erwähnt sein.
Wilhelm von Kügelgen ging den Pfad, auf den ihn Beispiel und Wunsch des Vaters gezogen hatten, weiter; wurde durch einen jahrelangen Aufenthalt auf dem Gute Poll in Estland, wo sein Onkel, der Landschaftsmaler Karl Kügelgen, der Bruder seines Vaters und Schwager seiner Mutter, lebte, (er hatte Helene von Kügelgens jüngere Schwester, Emilie von Manteuffel geheiratet) in die ursprünglichen Lebenskreise seiner Mutter zurückgeführt. Mitte der zwanziger Jahre wandte er sich als junger Maler zur Fortsetzung seiner Studien nach Rom, verlobte und verheiratete sich 1827 mit Julie Krummacher, der jüngsten Tochter des geistlichen Parabeldichters, in dessen Hause zu Bernburg er sein letztes Gymnasialjahr vor Bezug der Dresdner Kunstakademie verlebt hatte. Der Versuch, sich gleich seinem Vater dauernd in Petersburg niederzulassen und hier zu Künstlerruf und Vermögen zu gelangen, scheiterte daran, daß weder Mutter noch Frau des Malers sich an die Strenge des Petersburger Klimas gewöhnen konnten, auch Wilhelm von Kügelgen selbst sehr geringe Neigung in sich trug, sich durch fortgesetzten Verkehr in der großen Welt bedeutende Aufträge zu sichern. Die Familie ließ sich erneut in Dresden nieder,Seine Freundschaft mit Ludwig Richter siehe »Richter, Lebenserinnerungen« im gleichen Verlag. und Kügelgen fuhr fort, als Künstler zu schaffen, obschon er das Glück des Schaffens, das im Glauben an die eigenen Gebilde besteht, beinahe nie kennen lernte. Selten wurde er »durch innere Zufriedenheit für seine Mühe entschädigt«, und fast immer empfand er »tiefes Mißvergnügen über das Mißlingen seiner künstlerischen Unternehmungen«. Die Wahrheit war, daß der vielseitig gebildete und von mannigfaltigem Interesse erfüllte junge Maler den leidenschaftlichen Drang zur Kunst, der jeden anderen Ausdruck des inneren Lebens ausschließt und das ganze Dasein eines echten Künstlers unter das unwiderstehliche Muß des Schaffens zwingt, nicht in sich fühlte. Äußerlich hatte er größere Erfolge als mancher höherstehende Maler. Wie Wilhelm von Kügelgens ganzes Dasein gleichsam im Bann seiner Jugendeindrücke und Jugenderinnerungen verlief, so führten die alten Beziehungen, die er in Knabentagen zu dem Erbprinzen und letzten regierenden Herzog von Anhalt-Bernburg, Alexander Carl, angeknüpft hatte, zu seiner Ernennung als Herzoglicher Hofmaler und seiner dauernden Übersiedelung nach Ballenstedt. Da auch seine Mutter sich dort niederließ, so daß er das gewohnte Familienleben auch in den neuen Verhältnissen fand, so fühlte er sich in dieser Lebenslage zufriedener als in jeder voraufgegangenen. Um als Künstler in dem kleinen Ort und an dem kleinen Hof nicht ganz und gar einzurosten, unternahm er noch einzelne längere Arbeitsausflüge, war an den Fresken der Petersburger Isaakskirche beschäftigt und hielt sich je einige Monate in Münster und Bremen auf, wo »er viel Arbeit und Anerkennung« erntete. Mit der Zeit verwuchs er enger und enger mit dem Hofleben in Ballenstedt, wurde der Vertraute der frommen Herzogin Friederike, geborene Prinzessin von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Glücksburg, die bei der geistigen Schwäche ihres Gemahls schon in früheren Jahren großen Einfluß auf die Verwaltung des Herzogtums Bernburg gewann und seit 1855 zur Mitregentin ernannt war. Schließlich ließ er sich bestimmen, die halbe Unabhängigkeit, die dem Herzoglichen Hofmaler noch geblieben war, aufzugeben und in den unmittelbaren Hofdienst des kranken Herzogs, als dessen Kammerherr, einzutreten. Der Tod Alexander Carls gab ihm für seine letzten Lebensjahre volle Muße für alle seine Lieblingsbeschäftigungen und Neigungen, und dieser Muße sind die köstlichen »Jugenderinnerungen eines alten Mannes« zu danken.
Er selbst hat wahrscheinlich auf die Elemente des vorzüglichen Buches, die in Wahrheit die reizvollsten und unvergänglichsten sind: auf den überquellenden echten Humor, auf die höchste Anschaulichkeit seiner knappen Schilderungen, auf den wunderbar feinen und glücklichen Wechsel des Vortragstons, auf die vollendete Charakteristik aller Persönlichkeiten, die er im natürlichen Lichte sah, und auf die tiefe Pietät, mit der er an allem hängt, was ihm ein Stück Leben erschlossen oder verklärt hat, geringeres Gewicht gelegt, als auf jenen durch alle Blätter der »Jugenderinnerungen« hindurchgehenden Hauch der religiösen Gesinnung, der ihn in früher Jugend zuerst von Seite der Mutter ergriffen hatte. Die gläubige Überzeugung seines Herzens war durch alle Erlebnisse und Schicksale des Verfassers unablässig gestärkt und entwickelt worden, sie warf rückwirkend ihr Licht auf die Blätter, in denen Kügelgen nicht bloß die Tatsachen, sondern auch die Stimmungen seiner Knaben- und Jünglingszeit treu wiederzugeben trachtete. Die denkwürdige Umbildung des deutschen Geisteslebens, in der die Aufklärung des 18. Jahrhunderts überwunden und das biblische Bekenntnischristentum, das Kügelgen »das Kontagium einer ewigen Heilung« nennt, in engeren Lebenskreisen neu belebt wurde, hatte sich in seinem Elternhause in so besonderer Gestalt und in so eigentümlicher Stärke vollzogen, daß ihm die Versuchung nahegelegen hätte, jener Umbildung einen viel breiteren Raum in seiner Erzählung einzuräumen, als mit ihrer inneren Wahrheit verträglich gewesen wäre. Kügelgen verhehlt nichts von allem, was ihm für sein eigenes Leben bedeutsam und erquicklich geworden ist, erinnert sich aber zu rechter Zeit immer wieder daran, daß er, trotz des inneren Zuges zur Frömmigkeit seiner Mutter, trotz der wachsenden Abneigung gegen die herrschende Neologie, ein fröhlicher, lebensdurstiger Knabe, ein strebender, hoffnungsreicher und ehrgeiziger Jüngling gewesen ist. Er hütet sich, die Melancholie und die Demut späterer Tage in seine »Jugenderinnerungen« hineinzutragen, obschon sie zur Zeit, als er das Buch schrieb, die vorherrschenden Elemente seiner Seele waren. Seit dem schweren Verlust seiner jüngsten Tochter im Jahre 1862 fühlte er die irdischen Wurzeln seines eigenen Daseins gelockert und erschüttert. Als vollends sein ältester Sohn, der preußische Hauptmann Gerhard von Kügelgen, am 28. Juni 1866 im Treffen bei Skalitz den Heldentod fand, ging es mit Wilhelm von Kügelgen rasch zu Ende; er starb am 25. Mai 1867 zu Ballenstedt. Sein Buch lenkte die Augen von Tausenden auf ihn, die von seinem Leben nichts gewußt hatten.
Die kulturhistorische Seite der »Jugenderinnerungen eines alten Mannes« bringt den ungeheuren Unterschied der Lebensverhältnisse und Sitten zwischen dem Anfang des neunzehnten und dem Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts lebendig zur Erscheinung. Ungesucht und unbefangen stellen die Erzählungen Kügelgens die so viel einfacheren und anspruchsloseren Gewöhnungen, die größere Förmlichkeit des Umgangstones, die große Zahl von Originalen und wunderlichen Gestalten, die damals noch gediehen, vor Augen. Kügelgen meint einmal: »Kinder sind glückselige Poeten. Der frische Spiegel ihrer Seele reflektiert noch alle Wunder der Natur mit gleicher Schärfe, und überall ist eine Fülle des Genusses«, er hätte hinzufügen dürfen, daß diese jugendlichen Poeten auch die unermüdlichsten Beobachter jeder Art von Wirklichkeit sind und jeden besonderen Zug mit nimmersatter Spürkraft aufsaugen. Die Mannigfaltigkeit solcher Züge in den »Jugenderinnerungen« ist erstaunlich und ein Zeugnis mehr dafür, mit welcher Deutlichkeit und Bestimmtheit im höheren Lebensalter die Knabenerinnerungen wiederkehren. Bis auf die naiven Deutungen, die Kinder den ihnen unverständlichen Eindrücken zu geben wissen, fehlt nichts, und wenn der Erzähler getreulich berichtet, daß er bei der Trauung der goetheberühmten schönen Base Silvia von Ziegesar mit Professor Köthe sich das Weinen der Braut »nicht anders erklären konnte, als weil sie von dem dicht vor ihr stehenden Pastor so angeschrien wurde« oder wenn er die jugendliche Zuversicht einer Knabenseele, die die Schule hinter sich hat, mit den Worten schildert: »Dem philosophischen Kaiser Marc Aurel konnte es kaum natürlicher erscheinen, ein guter Mensch zu sein, als mir. Ja, wenn ich an der Brustwehr des Altans lehnte, die Herrlichkeit der Schöpfung um mich her zum Tempel Gottes wurde, so war ich fest entschlossen, ein Heiliger zu werden,« so fühlt jeder Leser unwillkürlich, daß der Verfasser nicht bloß in den Erinnerungen, sondern auch in den Gefühlen seiner Jugend lebt. Mit wenigen charakteristischen Strichen weiß Kügelgen nicht nur Landschaften und das Innere von Häusern, sondern auch ihre Wirkung auf die jugendliche Phantasie hervorzuzaubern. Die Schilderungen der Dresdner Heide, des Dorfidylls von Lotzdorf, der Harzreise und ihrer ganz neuen Eindrücke, des Hauses zum Gottessegen in der Dresdner Neustadt, des Barduaschen Hauses in Ballenstedt und des herzoglichen Schlosses daselbst, des Schlosses zu Hummelshain, des Poncetschen Weinbergs über der Elbe und des Pfarrhofs zu Lausa, der Superintendentur zu Bernburg sind lauter Meisterstücke, die, mit dem malerisch-sinnlichen, die Eindrücke aufs Gemüt wiedergeben. Und doch stehen sie noch hinter der Kunst der Charakteristik zurück. Gestalten wie die des Hofrats Näke, des Schulrektors Anger, der alten Schwestern von Poncet, Fräulein Fritze und Fräulein Lore, und ihres polnisch-adligen neunzigjährigen Bedienten, wie die des Lausaer Pastors Samuel David Roller, dessen Zeichnung sich zur Höhe Shakespearescher Charakteristik erhebt, wie die der Akademieschüler Kopmann und der lahme Berthold, Figuren wie Peter Groll und der Fürst Putjatin, sind voller Leben. Auch wo der Selbstbiograph nichts beabsichtigt, als einen vorübergehenden Eindruck zu spiegeln, tritt uns noch ein wohlgerundetes deutliches Bild entgegen, die kurzen Erzählungen vom Zusammentreffen mit Goethe oder mit dem Herzog Alexius von Anhalt-Bernburg prägen sich unauslöschlich ein. Die Aufnahme der »Jugenderinnerungen eines alten Mannes« war überall eine freudige, und so dürfen wir hoffen, daß die »Jugenderinnerungen«, die sich über nahezu zwanzig Jahre erstrecken und ein Werk aus einem Guß und mit einem eigenartigen, nur ihm gehörigen Schimmer sind, auch dieses Jahrhundert überdauern werden; das zauberische Licht, das über dem Garten Eden dieser und jeder rechten Kindheit liegt, wird nach wie vor Tausenden den eigenen Lebensweg erhellen.
Adolf Stern.
Der Abdruck der »Jugenderinnerungen eines alten Mannes« erfolgt in dieser Ausgabe völlig wortgetreu. Nur ein paar Namen, die Wilhelm von Kügelgen aus dem Gedächtnis niederschrieb und deren eigentliche Beschaffenheit seitdem ermittelt wurde, sind gleich im Texte richtiggestellt worden, anstatt sie erst in den Anmerkungen zu berichtigen.
Die zahlreichen Kunstbeilagen verdanken wir zum großen Teil dem liebenswürdigen Entgegenkommen von Mitgliedern der Kügelgenschen Familie. Der Verlag hofft durch die Beigabe dieser schönen und interessanten Bilder dem vortrefflichen Buche viele neue Freunde zu gewinnen und den von verschiedenen Seiten geäußerten Wünschen entsprochen zu haben.