Wilhelm von Kügelgen
Jugenderinnerungen eines alten Mannes
Wilhelm von Kügelgen

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Sechster Teil.

1. Täuschungen.

Mein Vater wurde durch gehäufte Arbeit in Berlin so festgehalten, daß er für seine Person von der Ballenstedter Reise abstehen mußte; er hatte jedoch die Mutter autorisiert, sich mit uns übrigen allein auf den Weg zu machen und wegen des Gymnasiums eine Wahl für mich zu treffen. Ich war daher von Lausa mit der angenehmen Erwartung heimgekehrt, sofort eine schöne Frühjahrsreise anzutreten, und sehr unangenehm überrascht, statt dessen als Patient ins Bett wandern zu müssen.

In Dresden grassierte das Scharlachfieber, und da sämtliche Hausgenossen meine Stimme verändert, rauh und übeltönend fanden, ich auch nicht leugnen konnte, daß mir der Kopf ein wenig eingenommen sei, so schien die Vorsicht meiner Mutter nicht ganz grundlos. Der Arzt war leider über Land, aber was er anordnen würde, glaubte man zu wissen, nämlich Bettwärme und Fliedertee. Beides ward auf der Stelle angewandt, ich schwitzte wie ein Braten, und gegen Abend war nicht allein der Puls beschleunigt, sondern es schien auch, als röte sich die Haut. Ich fühlte mich sehr unbehaglich, und mit Teilnahme wünschten mir die Mädchen gute Nacht, während die besorgte Mutter sich im anstoßenden Alkoven zur Ruhe legte.

Ich kann nicht leugnen, daß ich wie ein Sack schlief. Als mich am anderen Morgen die Sperlinge mit ihrem Morgenliede wachschrien, war ich vorerst ganz angenehm überrascht, mich nicht in Rollers Kammer, sondern in einer Umgebung zu finden, an der die süßesten Erinnerungen meines Lebens hafteten, im Wohnzimmer der Mutter. Dann fiel mir ein, daß ich das Scharlachfieber habe. Ich besah Brust und Arme; aber da war keine Spur von Ausschlag. Ich fühlte mich so gesund wie die Spatzen in den Linden, sprang aus dem Bett und öffnete das Fenster, die frische Luft in vollen Zügen einzuatmen. Ein glänzender Morgen! Drüben aus dem Schönbergschen Hause stieg der von der Sonne durchleuchtete Rauch wie eine Lichtgestalt auf, Marktleute zogen durch die Straßen, und über die Elbe her riefen die katholischen Glocken zur Frühmesse. Es war herrlich. Ich gedachte des Wiedersehens mit meinem Bruder, dem nun nichts mehr im Wege stand, und fühlte mich sehr selig.

Mittlerweile war auch die Mutter aufgestanden und ins Zimmer getreten. Als sie den Patienten fast unbekleidet am offenen Fenster sah, mochte sie glauben, das Delirium sei schon in voller Blüte, und rief mich erschrocken beim Namen. Ich wandte mich um; ich wollte sagen, daß ich wieder ganz gesund sei – aber da ich zu sprechen begann, befremdete es mich selber, wie Bässe, Gurgellaute und Diskante durcheinanderpfiffen. Ich war in der Tat sehr heiser und wurde ohne Kommiseration wieder ins Bett gesteckt. Jedenfalls sollte ich liegen bleiben, bis der Doktor entschieden haben würde. Der kam auch endlich, besah und examinierte mich genau. Dann sagte er schmunzelnd, ich sei nicht kränker als ein junges Hähnchen, das zu krähen beginne; die Stimme bräche sich, und das sei alles.

So war ich denn nun offiziell für gesund erklärt, und der Reise stand nichts mehr im Wege. Der unbequeme Wagen des Lohnkutschers Hempel war hoch aufgepackt worden, die Mutter, Marianne, Marie, meine Schwester und ein Dienstmädchen nahmen Platz im Inneren, und ich schwang mich zum Kutscher auf den Bock mit meiner Pfeife.

»Rauchst du denn?« fragte meine Mutter.

»Nur mäßig!« rief ich zurück; »ich habe es vom Pastor Roller gelernt.«

Da mußte ich wieder absteigen und die Pfeife dem Hausmann in Verwahrung geben. Es sei dasjenige von dem bei Roller Erlernten, sagte die Mutter, was ich vergessen müsse, bis der Vater darüber entschieden haben würde.

Am dritten Tage gegen Abend langten wir in Merseburg an. Als der Reisepaß am Tore vorgezeigt worden, bemerkte der wachthabende Unteroffizier, er habe Befehl, eine Dame dieses Namens anzuhalten und mit ihrer Begleitung aufs Schloß zu führen.

Meine Mutter protestierte und berief sich auf den Regierungspräsidenten von Schönberg,Regierungspräsident von Schönberg. Der »getreue Schönberg« hatte während seines Aufenthalts in Dresden zum Kreise C.G. Körners gehört und war gleich diesem nach der Teilung Sachsens im Jahre 1815 in preußische Dienste übergetreten. der sie kenne und für sie bürgen werde. Aber jener ließ sich auf Erklärungen nicht ein; er täte nur seine Schuldigkeit, sagte er, und bäte, ihm das nicht übelzunehmen. Ich ward nun zu den übrigen in den Wagen verpackt, ein Kriegsknecht nahm an meiner Stelle Platz auf dem Bocke, und so karrten wir langsam als Gefangene durch die Straßen. Meine liebe Mutter war sehr verwundert, sich in dieser Lage zu sehen, und Marianne seufzte über die Rücksichtslosigkeit in Preußen, während es uns Kindern ganz gelegen kam, zur Abwechselung einmal etwas Kerkerluft zu riechen, zumal der mächtige Herr von Schönberg uns ja bald befreien mußte.

Endlich rasselten wir in den weiten Schloßhof ein und hielten am Portale; ein Diener riß den Schlag auf, und lachend über seinen gelungenen Anschlag trat uns Herr von Schönberg entgegen, der, was wir nicht ahnten, seine Amtswohnung hier hatte. Er entschuldigte die Gewalttat, welche er sich gegen uns erlaubt, damit, daß ihm in der Eile ein anderes Mittel, sein Haus eines erwünschten Besuches zu versichern, nicht eingefallen sei, und führte uns hinauf zu seiner Gemahlin. Diese war eine Schwester der Gräfin Dohna, durch welche sie erst tags zuvor von der Reise meiner Mutter unterrichtet worden, und wie denn der hervorragendste Zug ihres Charakters eine ungemeine Herzensgüte war, so mochte sie den Wunsch haben, den Reisenden bei dieser Gelegenheit so viel Gutes zu erweisen, als in ihren Kräften stand. Meine Mutter hatte diese treffliche Frau in Hermsdorf kennen lernen, war auch in Dresden, wo Herr von Schönberg während des preußischen Guberniums eine einflußreiche Stellung innehatte, in einiger, die Armenpflege betreffender Geschäftsberührung mit ihr gewesen und liebte sie so sehr, daß sie ihr keinesfalls vorbeigereist wäre. Ein Besuch im Schönbergschen Hause lag allerdings im Reiseplan, und wenn auch nicht im allerentferntesten daran gedacht worden, dort zu Herbergen, so erlagen wir doch jetzt recht gerne der Gewalt. Es ward beschlossen, einen Tag in Merseburg zu rasten.

Schönbergs hatten ein einziges Töchterchen, namens Auguste, ein seines kleines Mädchen mit klugen Augen und langen blonden Locken. Diese nahm sogleich meine Schwester und Marien in Beschlag, während die Großen sich zurückzogen und ich mir selbst überlassen blieb. Verlegen klemmte ich mich in einer Fensternische umher, den Blick bald auswärts auf die Gegend, bald einwärts auf die Mädchen werfend, bis ich daselbst ein derbes altes Buch entdeckte, eine Chronik von Merseburg, und bald war ich in diese Lektüre so vertieft, daß ich nichts mehr von Verlassenheit wußte. Es waren wunderliche Geschichten, für deren Wahrheit ich nicht einstehen möchte, dazumal aber glaubte ich alles, weil das Buch so ernst und fromm war. Unter anderem stand da schwarz auf weiß mit Angabe aller Namen und Data die folgende Begebenheit verzeichnet:

»In der heiligen Osterzeit, des Morgens früh, da es noch dunkelt, wackelt der alte Küster des Domstiftes mit seinem Laternchen über den Schloßhof, um zur Frühmette zu läuten. Da, beim Eingang in die Kirche, huscht etwas an ihm vorüber; er blickt auf und sieht sich umgeben von schattenartigen Gestalten, unter denen er mehrere erst jüngst begrabene Personen erkennt. Entsetzt läßt er sein Laternchen fallen und entwischt zurück ins Kämmerlein. Beim Anbruch des Tages aber wird er zum Bischof entboten, der ihn hart anläßt, seiner Erzählung keinen Glauben beimißt und ihn mit schwerer Strafe bedroht, wenn er je das Läuten wieder verträumen sollte.

In der zweiten Nacht geht der beängstete Küster denselben Weg, sieht weder rechts noch links, obgleich ihm manches verdächtig ist, und tritt, an allen Gliedern zitternd, in den Dom. Hier blickt er auf und findet das Schiff der Kirche angefüllt von einer gespenstischen Gemeinde; auf der Kanzel aber steht im weißen Predigerhemdchen ein schlotterndes Gerippe, das dem Eindringlinge seine dünnen Knochenhände entgegenschwenkt.

Die Domherren hören abermals kein Läuten, und der ergrimmte Bischof läßt beim Anbruche der dritten Nacht den Geisterseher samt seinem Bette in die Sakristei sperren, damit er's ja nicht wieder verschliefe; und sollte es auch zum drittenmal nicht läuten, so würde er's mit seinem Kopfe büßen, wird ihm versichert. Aber es hat dennoch nicht geläutet, und der Küster war verschwunden. Keine Spur war von ihm übrig, nur vor dem Hochaltare fand sich ein Häufchen Asche.«

Der Dom.

Unterdessen mochte unsere gütige Wirtin sich meiner doch erinnert haben, denn kaum hatte ich die obige Geschichte beendet, als sie zu mir trat und mir einen Schlüssel überreichte. Wenn es mir Vergnügen mache, sagte sie, die Kirche zu besehen, so ginge der Weg durch jene Türe und immer weiter; die letzte Türe öffne der Schlüssel.

Das hieß meinen Geschmack ins Schwarze treffen. Ohne Verzug machte ich mich auf den Weg, und daß ich so allein war, war das beste, denn bei Besuchen, die man der Vorzeit abstattet, braucht man keine Zeugen. Ich konnte fühlen, denken und träumen, was ich wollte, erinnere mich auch, daß ich dachte, wie die alten Regenten des Domstiftes ohne Zweifel mit demselben Schlüssel denselben Weg gewandert seien, wie ehrwürdig sie etwa dabei ausgesehen haben könnten mit ihren Krummstäben, hohen Mützen und goldenen Gewändern, und wie schade es sei, daß sie sich jetzt in bloße Regierungspräsidenten verwandelt hätten.

Unter dergleichen elegischen Betrachtungen durchwanderte ich eine Reihe von Gemächern und Gängen, bis ich an die verschlossene Türe gelangte, die richtig meinem Schlüssel wich und mir den Eintritt in einen kleinen, weißgekalkten Durchgang voll sonderbarer Schildereien gestattete. Das war denn etwas ganz Verwunderliches! In alten, wurmstichigen Rahmen hing hier Bild an Bild, neben-, unter- und übereinander, daß die Wände davon bedeckt waren. Es waren lauter Stilleben; nicht aber, was die Maler so zu nennen pflegen, gerupftes Geflügel, tote Hasen und dergleichen – nein, es waren vielmehr die toten Herren Bischöfe des Stiftes selbst. In Lebensgröße, mit eingesunkenen Augen und hippokratischen Gesichtern, an denen die Verwesung bereits genascht zu haben schien, waren sie da in ihren Särgen liegend abgebildet, einer beim andern. Ich hatte keine Liebhaberei für Leichen, und dennoch war ich hier wie festgebannt. Ich las die Namen, besah die Wappen und empfand ein tiefes Mitleid mit diesen abgefallenen welken Blättern und mit mir selber, der ich ja auch dereinst ein solches werden sollte.

Mühsam riß ich mich los und gelangte mittelst einer kleinen gewundenen Steintreppe hinab in eine altersgraue Sakristei, wo mir sogleich ein Gegenstand ins Auge fiel, der mich versteinerte. Dem Treppchen gegenüber war mit Eisenklammern ein hohes Kreuz an die Wand geheftet, und daran hing unter Staub und Spinnweben ein lebensgroßer, aus Holz geschnittener Leichnam, angestrichen mit der Farblosigkeit des Todes, voll Blut und Schwielen. Wirkliche Dornen umflochten das natürliche Haar, das über den vorgebeugten Kopf herabfiel und das Gesicht bedeckte. Der tote Christus schien leibhaftig dazuhängen – aber dergleichen Leibhaftigkeit erweckt mehr Schauder als Erbauung. Ich mußte des Küsters denken, der hier schlafen sollte, und dessen Bett vielleicht gerade unter jenem Bilde stand. Da war's natürlich, daß nichts übrig bleiben konnte als ein Häufchen Asche.

Wie aus einem Grabe trat ich gedankenvoll und wohlvorbereitet aus der Sakristei hinaus in die Hallen des altehrwürdigen Domes. Ich durchschritt den weiten, geheimnisvollen Bau nach allen Richtungen, durchforschte die Seitenschiffe und Kapellen, faltete meine Hände am Hochaltare, besah die Bilder, Schnitzwerke, Fahnen und Wappen an den Pfeilern und wich, nachdem ich mich etwa eine Stunde umhergetrieben, erschrocken zurück vor einem zweiten lebensgroßen Kruzifix, das mir aus einer dunkeln Ecke unerwartet entgegenstarrte.

Der sinkende Abend wob bereits seine Schleier um die Gewölbe, und es begann mir etwas unheimlich zu werden; doch tritt ein Knabe zur Abwechselung recht gern einmal heraus aus der gewohnten Lebenszuversicht, und ich genoß das Gruseln wie eine Kalteschale zur Sommerszeit, besonders vor einem gewissen hohen reichverzierten Eisengitter, hinter welchem schwarze Nacht war. Als mein Auge sich jedoch gewöhnte, unterschied ich die Umrisse mehrerer hochaufgebauter Laden, wahrscheinlich die Särge der Bischöfe, die vor alters hier in Merseburg ihr Wesen hatten. Da lagen sie nun weggepackt wie alte abgelegte Mäntel in engen Koffern, vielleicht – wie denn manche Grüfte wohl konservieren – noch mit denselben Gesichtern, die ich eben gesehen. Über das alles hatte ich meine Gedanken, und die Totenpredigt der Chronik fiel mir auch wieder ein. Dunkel genug war's dazu schon, wie es mir schien, und so gut wie vor 400 Jahren konnte der gespenstische Prädikant auch heute seine Knochenhände schwingen, wenn er wollte. Ein kalter Grabeshauch ging durch die Eisenstäbe, und ein Geräusch ließ sich vernehmen wie das Knarren eines Kastendeckels, den man mit Vorsicht öffnet. Rüsteten sie sich vielleicht da drinnen schon, die Predigt anzuhören?

Jetzt wurde meine Kalteschale mir zu frisch, und ich trat den Rückzug an, wiewohl bedächtig und gemessenen Schrittes, denn ich wagte nicht zu eilen, um das Entsetzen nicht zu wecken und zu reizen, das sich hinter mir zu erheben drohte wie ein bissiger Hund. Das schlimmste war die Passage durch die dunkle Sakristei mit ihrem Bildwerk; aber man muß nur bei solchen Gelegenheiten den Kopf nicht wenden und sich nicht umsehen. Ich kam glücklich durch, wie auch durch die Leichengalerie, die Tür fiel ins Schloß, und bald befand ich mich wieder in bewohnten Räumen. Inzwischen sollte meine Mannhaftigkeit noch auf eine härtere Probe gestellt werden.

Der Schloßboden

Herr von Schönberg galt für einen Mann von gutem Humor. So komisch sei Papa, hatte die kleine Auguste meiner Schwester vertraut, daß es ganz einerlei sei, was er sage, und wenn er auch nur nach dem Salzfasse verlange, ausplatzen müsse man. Ich fand dies auch bestätigt: der liebenswürdige Herr war während des Abendessens so wohl aufgelegt, daß ich vor Lachen kaum schlucken konnte und mich in der sorglosesten Stimmung befand – als ein einziges Wort der Hausfrau mich plötzlich aus allen Himmeln warf.

Frau von Schonberg fragte mich nämlich, ob ich mich auch fürchte, allein auf dem Boden zu schlafen; sonst möchte ich's sagen, und es würde anderer Rat zu schaffen sein.

Ich? und allein auf dem Boden dieses großen alten Schlosses? – Alle Leichen, Gespenster und Schrecknisse des Domes fielen mir plötzlich wieder auf die Seele, und ich fürchtete mich entsetzlich. Aber wer wird so etwas sagen?

»Ich fürchte mich niemals,« log ich tapfer, trotz meiner gerühmten Ehrlichkeit, sagte gute Nacht und folgte schaudernd dem Bedienten, der mich hinaufgeleitete.

Der Schloßboden, den wir weithin durchschritten, war allerdings der richtige Ort für jedes denkbare Entsetzen. Er erschien mir als ein großer schwarzer Raum ohne Anfang und Ende; nur hin und wieder streifte der Schein der Laterne die Balken des Dachstuhls und das schräg auslaufende Gemäuer eines kolossalen Schornsteins. Und wohin ging denn endlich meine Reise? Ich hoffte allerdings nicht, in dieser unheimlichen Grenzenlosigkeit verbleiben zu müssen, hatte aber von der Kammer, in die man mich etwa führen würde, auch nicht gerade die glänzendste Erwartung. Da öffnete mein Begleiter eine Türe, und ich ward sehr angenehm durch ein allerliebstes, sauber möbliertes Zimmer überrascht, dessen freundliche Tapete beim Schein der beiden Kerzen, die jener anzündete, hell aufleuchtete. Mit einer weniger als die meinige durch Chroniken und Bischofsgrüfte erfüllten Phantasie hätte es einem hier ganz behaglich werden können.

Inzwischen waren da ein paar verwünschte Seitentüren. Ich untersuchte sie und fand, daß sie zwar einzuklinken, aber nicht zu verschließen waren.

»Wer schläft denn dort?« fragte ich, in der Hoffnung, der Diener werde dies von sich selber oder einem seiner Mitknechte bekennen. Schon eine Magd wäre mir zum Trost gewesen. Aber jener erwiderte lakonisch: »Leere Bodenkammern!« und es wollte mich bedünken, als wenn er unheimlich dazu gelächelt habe.

»Der scheint mehr zu wissen,« dachte ich, »als wünschenswert ist,« und sagte: »So wird einen hier wohl niemand stören!«

»Niemand, es ist keiner auf dem ganzen Boden als der junge Herr.« Damit zog der gefühllose Mensch mir die Stiefeln aus, und ich entließ dies letzte lebendige Wesen mit schwerem Herzen, um mit meinen Einbildungen vielleicht mit Schlimmerem, allein zu bleiben.

In der Tat befand ich mich in einer Lage, die nur ganz phantasielosen Knaben gleichgültig sein konnte; aber die Notwendigkeit ist die beste Gouvernante. Ich faßte mich, so gut es gehen wollte, betete den Paul Gerhardtschen Vers: »Unverzagt und ohne Grauen,« löschte mein Licht aus und kroch ins Bett. Dann suchte ich mir die angenehmsten Dinge vorzumalen, ich dachte an meine Tabakspfeife und an Rollers Schmerlbach und war bereits dem Einschlafen ganz nahe – als sich etwas ereignete, was mir urplötzlich mein volles Bewußtsein zurückgab. Es war mir nämlich, als hörte ich Atemzüge, wie von einem zweiten Schläfer.

Befremdet fuhr ich auf und horchte: – es ward laut geatmet.

»Ist jemand hier?« rief ich mit meiner übergeschnappten Stimme. Da war's ganz stille.

Vielleicht hatte ich mich doch betrogen, wie bei den Gesichtstäuschungen meiner Kindheit. Ich entsann mich aber, daß damals alles verschwunden war, wenn ich die Augenlider schloß. Ähnlich konnte es ja auch mit dem Gehöre sein, und da ich leider keine Ohrenlider hatte, so mußte das Kopfkissen als ein solches dienen. Ich kroch darunter und zog die Decke über alles. So lag ich eine Weile und dünkte mich gesichert, wie der Vogel Strauß, wenn er seinen Dummkopf in den Sand steckt.

Aber dennoch! war's da nicht wieder? Ja, wahrhaftig! – Durch Decken und Kissen atmete es hindurch, und immer deutlicher und kräftiger, so etwa, als wenn einer zwar tonlos, aber recht aus tiefer Brust geseufzt hätte.

Ich streckte den Kopf wieder vor. Wach war ich ganz vollständig und konnte nicht an Täuschung denken; ich dachte aber auch nicht mehr an Spuk. Es drängte sich mir vielmehr in diesem Augenblicke eine natürliche Erklärung auf. Hatte doch der Diener bei Ewähnung der Seitentüren nichts weniger als unverdächtig ausgesehen, und war es daher nicht sehr wohl anzunehmen, daß nebenan eine scheintote Leiche liege? und daß diese, im Begriff, sich zu ermuntern, schwer mit dem Atem ringe?

Ich mußte mir dies zugeben, wie auch die weitere Konsequenz, daß nämlich besagte Leiche jeden Augenblick ins Zimmer treten und sich in ihrem halbtoten Zustande zu mir ins warme Bett legen könne. Mit solchen Aussichten aber liegen zu bleiben und einzuschlafen, war ganz unmöglich. Ich schleuderte alles ab, was auf mir lag, sprang aus dem Bett und fuhr in meine Kleider, in die Strümpfe nämlich, denn alles übrige hatte der Bediente mitgenommen, und so gerüstet, tappte ich nach der Türe und trat hinaus in die absolute Finsternis des Bodens.

Glücklicherweise fehlte mir der Ortssinn nicht. Ich wußte, wo ich hergekommen war, und mit Händen und Füßen vor mich fühlend, erreichte ich die Treppe, aus welcher mich eine tröstliche bewohnte Luft anhauchte. Jetzt war mein Plan gemacht: ich wollte hinab in den Hausflur steigen und mich bis zum Tagesanbruch im Domestikenzimmer verhalten, das ich leer glaubte, dann aber unbemerkt in meine Mansarde zurückgehen. Als ich jedoch die Tür öffnete, schimmerte mir Licht entgegen, und umgeben von geputztem und ungeputztem Schuh- und Stiefelwerk, den Kopf auf den Tisch gelegt und schlafend, fand ich den Mann, der mich so furchtlos zu Bett gebracht, und fast hätte ich's bereut, ihn angerufen zu haben, also erschrak er. Da ich ihm nun die Erlebnisse des Bodens mitgeteilt und den Entschluß zu erkennen gegeben hatte, hier unten zu verbleiben, war er zwar nicht ohne Teilnahme, wußte mich aber doch zu überreden, daß es namentlich wegen des Aufsehens vernünftiger sein würde, wieder hinaufzugehen. Er wolle mich begleiten, sagte er, und bei mir bleiben, bis ich mich überzeuge, daß es der Wind sei, der etwa in Schornsteinen oder Dachschiefern röchle, oder irgend etwas anderes. Jawohl, was anderes! – Das dachte ich eben auch.

Daß mein Tröster mit mir ging, war noch das beste. Wir durchstöberten furchtlos die Seitenkammern und alle Umgebungen des Zimmers. Dann setzten wir uns nebeneinander hin und horchten – ich in großer Spannung, jener abgespannt und unschlüssig, wie lange er eigentlich zu bleiben habe. Er war entsetzlich schläfrig. Um ihn festzuhalten, befleißigte ich mich der anziehendsten Unterhaltung, ähnlich wie jenes Mädchen in »Tausendundeiner Nacht«, das dem mörderischen Sultan endlose Geschichten erzählte, um ihre Hinrichtung zu verzögern. Dennoch aber rieb er sich die Augen, gähnte und erhob sich endlich. Ich sei ja nun beruhigt, sagte er, und würde mich nicht mehr fürchten. Das war freilich keine ganz richtige Voraussetzung; doch schämte ich mich, den armen Kerl länger zu belästigen. Er zündete sein Laternchen an, wünschte mir abermals gute Nacht und wandte sich, die Türklinke zu erfassen – da! –

Da strich noch rechtzeitig und sehr vernehmlich wieder einer jener geisterhaften Seufzer durchs Zimmer hin. Der abgehende Bursche stutzte. »Meiner Sixen!« sagte er, »es ist an dem!« Beide lauschten wir in atemloser Stille den schauerlichen Tönen.

In Gesellschaft ist so etwas erträglicher, man ist vernünftiger und geneigter zu besonnener Forschung. Das Atmen schien vom Fenster herzukommen, und als wir dieses geräuschlos geöffnet hatten, hörten wir es deutlicher.

Es war schon tröstlich, daß es draußen war, und da mein Beschützer jetzt nach einigem Besinnen den Grund erriet, schwand jegliche Besorgnis. »Davor können Sie ruhig schlafen,« sagte er, »das sind die alten Eulen in den Dachluken, die blasen so!«

Ich blieb nun gern allein und horchte nicht allein in dieser, sondern auch in mancher anderen Nacht dem sonderbaren Schnaufen mit Befriedigung: rührte es doch von lebendigen Wesen her, die in meiner Nähe wachten. Meine nächtliche Flucht blieb übrigens verschwiegen, so daß sich wenigstens keine Schmach zur ausgestandenen Angst gesellte.

Der erste Roman

Meine arme Mutter war in jener denkwürdigen Nacht noch schlimmer dran gewesen. Zwar hatte sie keine Eulen gehabt, wohl aber Schmerzen; sie war an einem Herzübel erkrankt, von dem sie ab und zu ohne merkliche Veranlassung belästigt und umgeworfen wurde. Ans Weiterreisen war jetzt nicht zu denken, und unsere Wirte hätten Gelegenheit gehabt, ihre eigenmächtige Gastfreundschaft zu bereuen, wenn sie nicht die Menschenfreundlichkeit selbst gewesen wären.

Was mich anbelangt, so war ich mit dem verlängerten Aufenthalte wohl zufrieden, denn von Tage zu Tage gefiel es mir besser in Merseburg, und daß ich viel allein war, kränkte mich am wenigsten. Genoß ich doch zum ersten Male in meinem Leben die Süßigkeiten eines eigenen Zimmers, das mir, seitdem ich mich mit den Gespenstern abgefunden, immer heimischer und lieber wurde. Sagt doch das Sprichwort, eigener Herd sei Goldes wert; aber auch schon ein eigenes Zimmer ist was Großes, eine Welt, in welcher auch ein Knabe König sein und herrschen kann. Die Untertanen sind Träume und Gedanken von großer Schönheit, wenn man jung ist; ungehindert heißt man sie gehen und kommen, gestaltet und wandelt sie ganz nach Belieben; und überdem, so stört man niemand, wenn man sich ein Liedchen dazu pfeift, und macht man sich's bequem, etwa die Beine auf den Tisch gelegt, so darf es einem keiner verweisen.

In solcher überaus günstigen Lokalität saß ich nun stundenlang mit einem Büchlein, das die sorgliche Dame des Hauses mir gegen die Langeweile verordnet und verehrt hatte, indem sie es zugleich, um ihm mehr Wert zu geben, als eine Lieblingslektüre ihres Mannes bezeichnete. So brauchte ich mich seiner denn auch nicht zu schämen, obgleich es eigentlich ein Kinderschriftchen war. Es führte, wenn ich mich recht erinnere, den Titel: »Geschichte der heiligen Genoveva, für die Jugend bearbeitet von dem Verfasser der ›Ostereier‹« und war meines Wissens der erste Roman, den ich zu lesen kriegte.

Romane werden für nachteilig gehalten, weil sie die Phantasie erhitzen, in welcher Beziehung selbst zwischen guten und schlechten ein Unterschied nicht stattfindet, und auch der meinige, ein recht guter, trug in der Einsamkeit des eigenen Zimmers dieselbe Frucht. Die mich umgebende Wirklichkeit nahm ein romantisches Gewand an, indem ich unwillkürlich die Züge des Gelesenen in sie hineintrug. Das alte Schloß, in welchem ich herbergte, wurde mir zur Burg von Simmern, Frau von Schönberg zur Gräfin Siegfried und die kleine Auguste mit ihren langen Goldlocken und feinen, geistvollen Gesichtszügen zur kleinen, von frommen Eltern in gottesfürchtiger Häuslichkeit erzogenen Genoveva. Umgeben von dem Strahlenkranz der letzteren, stahl sich das allerliebste Mädchen mir ins Herz, und willig hätte ich Taten getan und Blut verspritzt, wenn ich das liebliche Kind dadurch vor allen Golos, Felsenlöchern und Hirschkühen hätte schützen können, die möglicherweise ihrer Zukunft drohten. Das war aber keineswegs der ganze Vorteil, den ich aus meiner Lektüre und gehobenen Stimmung zog.

Ich würde mir unrecht tun, wollt' ich behaupten, daß ich meine Zeit nur mit Zimmerhocken zugebracht hätte. Ich trieb mich vielmehr sehr umher, allein und mit den Mädchen, und alles, was ich sah, gefiel mir. Zwar glaube ich kaum, daß Merseburg mit seinen nächsten, überaus nüchternen Umgebungen damals für gewöhnliche Reisende viel Anziehendes haben konnte; ich aber sah es im Zauberlichte der Romantik, und das war der wesentlichste Vorteil, den ich von meinem Romane hatte. Das alte Schloß zwar und die Kirche hatten jedenfalls Interesse für jedermann, aber die kahlen Weidenufer der Saale, welche zur Sommerszeit hier nur ein Bach ist, die kleine, baufällige Brücke, über die wir täglich spazierten, die öde Windmühle und der Galgenberg, von welchen Höhen aus die spitzgetürmte Stadt betrachtet wurde, das alles und mehr dergleichen mochte an sich selber gleichgültig genug sein; für mich aber bildeten alle diese Punkte die Szenerie zu dem schwärmerischen Aufschwung, den ich genommen, und dem damit verbundenen Gefühle eines ungewöhnlichen inneren Wohlseins.

Ich hatte bis jetzt, und keineswegs als Blinder, in einem der schönsten Teile des Elbtales gelebt und mich doch nie versucht gefühlt, nach der Natur zu zeichnen, weil ich dachte, ich hätte dazu keine Fähigkeit; jetzt aber, begeistert von Merseburgs Gänseweiden, sollte ich erkennen, daß der Mensch bei weitem mehr zu leisten vermag, als er gewöhnlich denkt, sobald ihm nur die rechte Lust ankommt. Die Lust ist das Talent.

In dieser Beziehung erzählte mir Roller einst die folgende Episode aus seinem Leben. Bis in sein fünfundzwanzigstes Jahr hatte er nie »gemalt«, wie er sich ausdrückte, weil er dachte, er könne es nicht. Da schenkte ihm jemand ganz zufällig einen Rotstift, um Korrekturen anzustreichen. Roller hatte noch niemals einen Rotstift besessen; er war neugierig auf seine Wirkung und konnte der Versuchung nicht widerstehen, ihn noch vor Schlafengehen mit einem scharfen Messer anzuschneiden und zu probieren.

Lichtenberg hat gesagt, es mache jedermann Vergnügen, Stanniol mit der Schere zu schneiden. Es ist der weiche Schnitt, der so vergnügt; aber ebenso vergnügt auch der fette Strich des bunten Rötels. Dies war es auch, was Roller reizte, und da es gerade nichts zu korrigieren gab, so zog er ziemlich gedankenlos die Umrisse einer Aurikel nach, die vor ihm im Wasserglase blühte. Es war ihm anfänglich nur um die Lust des fetten Striches zu tun; bald aber wurde er warm bei seiner Arbeit, denn zu seiner eigenen Überraschung wollte das Bild fast ähnlich werden, und mit steigendem Eifer schraffierte er drauflos, bis die Aurikel samt dem Glase wie ein Wunder auf dem umgedrehten Briefkuvert stand, das er dazu benutzt hatte.

In der glücklichsten Stimmung schickte sich Roller nun zum Schlafengehen an, aber ehe er das Licht löschte, trieb es ihn noch einmal aus der Kammer, und noch einmal würdigte er die Zeichnung seines ungeteilten Beifalls.

Am anderen Morgen, als er aus dem Bette fuhr, war die Aurikel sein erster Griff, und so gelungen fand er sie, daß, wenn er nicht sein eigener Zeuge gewesen wäre – einem anderen würde er's gar nicht geglaubt haben, daß er das selbst gemacht hätte. »Von da an konnte ich malen,« sagte mein alter Freund.

Ähnliche Überraschungen erlebte ich nun auch an mir. Wie jenen das Handwerkszeug, so hatte mich das Objekt gereizt; ich wagte mich dran und übertraf meine Erwartungen. Das erste war die Saalbrücke, die schon mit einigen Strichen dastand, weil die gefällige Phantasie alle Auslassungen supplierte. Ich zeichnete nun viel im Freien, und wenn ich dann, in meine Bodenkammer zurückgekehrt, die Mappe aufschlug, glaubte ich die Sachen selbst zu sehen, die Brücke, das Schloß, die Mühle, den alten Turm im Garten und anderes. Es war eine glückselige Zeit, da mir das alles gelang und ich nicht müde wurde, meine eigenen Aurikeln zu betrachten. Kleinmut und Mißlingen lernte ich erst später kennen, denn Anfänger bedürfen des Mutes, um fortzuschreiten, und Fortgeschrittene der Demut, um nicht zurückzugehen.


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