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Ich bin hiermit vor einem Abschnitt meines Jugendlebens angelangt, welcher vorzugsweise durch das Bild eines Mannes illustriert ist, dessen fremdartige und doch sympathische Art entschiedenen Einfluß auf meine Entwicklung übte, eines teueren Lehrers und sehr werten Freundes, freilich von sonderbarem Außenwerke und oft verkanntem innerem Werte – doch eines Edelsteins vom reinsten Wasser.
Zu schildern vermögen wir nur, was wir begreifen und verstehen, daher kein Mensch vom andern ein getreues Bild zu entwerfen vermag, ja keiner von sich selbst. Es sind nur Bruchteile, die wir aneinander erkennen, um so geringere, als die uns entgegenstehende Natur die unselige überragt, und solche Bruchstücke können es denn auch nur sein, die sich in meiner Erzählung von den Personen finden, die ich schildere.
Ich war im vergangenen Herbste vierzehn Jahr alt geworden und schien alt genug und ausreichend gelehrt, um kommenden Frühlings die Kreuzschule oder ein auswärtiges Gymnasium zu beziehen. Über die Wahl der Schule war noch nichts entschieden. In jedem Falle sollte ich vorher konfirmiert werden, und meine Mutter sah sich nach einer geeigneten Vorbereitung für mich um. In Dresden wollte sich nichts finden, wohl aber wurden wir durch Freunde, namentlich durch die Gräfin Dohna, auf einen Landgeistlichen namens Roller hingewiesen, der, wie wir jetzt erfuhren, für den einzigen gläubigen Theologen der Umgegend galt. Er war Pfarrherr zu Lausa, einem Dorfe, das zu dem Dohnaschen Gute Hermsdorf gehörte, und sehr empfehlend schien es, daß der regierende Graf zu Stolberg-Wernigerode sich entschlossen hatte, zwei seiner Söhne von weitem herzubringen, um ebenfalls von diesem Manne unterrichtet und konfirmiert zu werden. Mich an so ausgezeichneter Unterweisung teilnehmen zu lassen, schien wünschenswert, und meine Mutter war daher nicht wenig erfreut, als Roller sich bereit erklärte, mich in sein Haus zu nehmen.
So wurde denn mein Köfferchen gepackt, und eines schönen Nachmittags fuhr meine Mutter mit mir hinaus nach Lausa. Ich war in jener Gegend völlig fremd, hatte aber von Menschen und Dingen die günstigste Erwartung, besonders von der Person des Herrn Pastors selbst, den ich mir nach allem, was ich gehört hatte, als einen Heiligen dachte, strahlend und mild, noch liebreicher und sanfter als meinen ehemaligen Lehrer Schulz. Ich freute mich auf die Freiheit, die ich unter dem milden Regiment eines so guten Mannes genießen würde, auf das Landleben, auf Wald und Flur, auf das Dohnasche Haus und den Umgang mit den beiden jungen Grafen.
Wir waren lange durch Tannenwald gefahren, als sich dieser endlich lichtete und das hübsch gelegene Kirchdorf Lausa in einiger Entfernung sehen ließ. Rechts ab vom Wege zeigte sich ein blauer See, der Großteich genannt, umkränzt von Wald und Wiesen, die größte Wasserfläche, die ich bis dahin gesehen hatte. Es lag kein Schnee, die liebe Sonne blickte warm und freundlich über den Tannenhügel, und der Gedanke, an jenen einsamen Gestaden täglich zu spazieren und zu schwärmen, entzückte mich nicht wenig. Mit so angenehmen Voraussetzungen rollte ich im Pfarrhof ein.
Der Pastor Samuel David Roller war ein kleiner, untersetzter Mann, von breiten Schultern, hoher Brust und markigem, sehr starkem Gliederbau. Sein großes, männlich schönes Gesicht, dessen feste Züge aus Stein gehauen schienen, trug den Stempel unwandelbarer Kraft, deren Starrheit jedoch durch einen Zug des Leidens um die dunklen Augen wie durch das lange, glatt gekämmte Haar gemildert wurde, das bis über den Rockkragen fiel. Der Frack von grobem Tuch, kurze Kniehosen und hohe rindslederne Stiefel gaben seiner Erscheinung einen bäuerlichen Anstrich. In straffster Haltung, wie ein Korporal, trat er uns entgegen, verbeugte sich vor meiner Mutter und reichte mir die Hand, die sich wie Büffelhorn anfühlte; dann richtete er mich gerade. Endlich sehr bedächtig redend, legte er mir gleichgültige Fragen vor und entließ mich. Ich sollte zu seinen Schwestern gehen oder in den Garten, bis ich gerufen würde.
Diese Schwestern mochten irgendwo vorhanden sein, aber den Garten sah ich vor mir und ging hinein. Ein sonderbarer Mann! dachte ich, der freilich meinem Ideale von einem Heiligen wenig gleichkam. Ich war zweifelhaft, ob er mir gefallen sollte, und mit sehr gemischter Empfindung durchstöberte ich den weitläufigen, noch sehr winterlichen Garten.
Siehe! da langte ein Fliederzweig nach meiner Mütze, hätte sie mir fast vom Kopfe gerissen. Halt! dachte ich, riß ihn ab und schnitt mit meinem Taschenmesser ein Stück davon, um aus langer Weile das Mark herauszuschälen. Aber nein, es konnte auch ein Pfeifenköpfchen daraus werden! Voll plötzlichen Interesses schnitzte ich es so sauber aus, als ich vermochte, steckte ein Schilfrohr dran, das ich am Ententümpel fand, und gefiel mir darin, kalt zu rauchen, bis man mich ins Haus rief.
Ich fand die ganze Pfarrgenossenschaft beisammen, der ich nun vorgestellt wurde. Der Junggeselle Roller hauste mit drei unverheirateten Schwestern und einem Bruder, sämtlich älter als er. Die Schwestern waren wie ehrbare Bäuerinnen gekleidet, denen sie auch im Wesen und Benehmen glichen. Luise und Charitas teilten sich in die materielle Pflege des Bruder Pastor, indem sie der Haus- und Feldwirtschaft vorstanden, während die kränkliche, aber sehr lebhafte Marianne seine Interessen pflegte und ihn durch ihre Munterkeit erheiterte. Sie unterstützte ihn in seinen Liebhabereien, hielt seine mancherlei Sammlungen in Ordnung, liebte und lobte seine Blumen und machte die Honneurs im Hause. Mir kamen sie alle freundlich entgegen, selbst die kleine, windschiefe Gestalt des Bruder Jonathan, der sehr wider seine Neigung zu meiner und meiner Mutter Begrüßung herbeigeschleift und uns unter dem Prädikate eines Ökonomen präsentiert ward. In der Tat war er gelernter Schneider, hatte aber sein Handwerk wegen Leibesschwäche aufgegeben. Jetzt verrichtete er allerlei Dienste im Hause, tat Botengänge und war wie der Papst servus servorum, oder mit anderen Worten Hausknecht. Endlich hatte ich noch drei Mägden die Hand zu reichen, nachdem sie sich die ihrigen gehörig an den Schürzen abgerieben hatten. Sie wurden unter der Benennung von Hauskindern herbeigerufen und unmittelbar nach der Begrüßung wieder weggescheucht. Die älteste, etwas verwachsene, führte, wie die jedesmalige Großmagd des Hauses, den Namen Rhode aus der Apostelgeschichte, weil eine ihrer Vorgängerinnen den Grafen Dohna, als dieser eines Abends spät zur Pfarre kam, während man ihn doch verreist glaubte, für ein Gespenst gehalten hatte. Die jüngste, Christiane, war von ihrem vierten Jahre unheilbar taub gewesen, und als Roller sie nach dem Tode ihrer Mutter aus Barmherzigkeit zu sich nahm, hatte sie sogar die Sprache vergessen. Doch war es seinen Bemühungen gelungen, sie nicht allein notdürftig sprechen, sondern auch die Rede anderer mit den Augen absehen zu lehren. Sie schrieb und las geläufig, war in der Religion unterrichtet, konfirmiert und hing mit schwärmerischer Verehrung an ihrem Lehrer. Nach der naiven Art der Taubstummen begrüßte sie mich mit besonderer Emphase, drückte meine Hand ans Herz und schrie mir mit weit aufgerissenem Munde zu, sie werde meine Stiefel putzen und meinen Rock ausklopfen.
Auf diese Präsentationen folgte der Abschied von meiner Mutter, mit welcher ich am liebsten wieder nach Dresden zurückgefahren wäre, da ich an meinen sämtlichen neuen Hausgenossen, sowohl an den Brüdern als an den Schwestern und nicht minder an den sogenannten Hauskindern, nur sehr wenig Geschmack fand. Ich stellte mich aber getrost und folgte den schwerfälligen Schritten des Pastors die Holztreppe hinauf in sein Studierzimmer, wo ich mich, während jener seinen Rock wechselte, als künftiger Mitbewohner zu orientieren suchte.
Dies Studierzimmer war ein längliches Gemach mit zwei Fenstern in der Front und einem im Giebel. Von dem letzteren zog sich durch das halbe Zimmer eine schmale, mit Wachstuch überzogene Tafel, während der untere Raum für beliebige Zwecke frei blieb. Ein kleines Schreibepult, ein Spiegeltisch ohne Spiegel mit einer Stutzuhr, ein Bücherbrett, mehrere Stühle und ein Sofa bildeten das übrige Mobiliar. Über dem Sofa hing ein Immortellenkranz, der ein lebensgroßes Brustbild einschloß, von Roller selbst in Pastell gemalt. Es stellte seine verstorbene Mutter dar, erdfahl, mit halbgeschlossenen Augen und einer großen, widerwärtigen Haube.
Roller beleuchtete dies Kunstwerk mit seiner blechernen Küchenlampe und sah mich forschend an. Da ich nichts äußerte, sagte er in seiner langsamen Weise: »Nun, mein Sohn! Wenn es dir nicht gefällt – ich kann auch Tadel ertragen!«
Ich erwiderte, es möchte wohl recht ähnlich sein.
Roller lachte hart, setzte die Lampe auf den Wachstuchtisch und sagte: »Es ist schon gut!« Er hatte augenscheinlich Lob erwartet, worüber ich mich nicht genug verwundern konnte.
Darauf bemerkte er mein selbstgemachtes Tabakspfeifchen, das ich noch immer in der Hand hielt. Er nahm es mir ab und schien im Anschauen verloren, worüber ich abermals verwundert war, da dergleichen Allotria bei mir zu Hause nicht beachtet wurden. Für Roller aber hatte alles Ding Interesse, selbst das geringste, und fast mit gleicher Aufmerksamkeit konnte er ein wirkliches Kunstwerk wie auch ein Paar neue Stiefel prüfen und betrachten bis ins Detail. So zerlegte er denn auch mein Pfeifchen in seine Teile, die er seiner Kurzsichtigkeit wegen einzeln zum Auge führte und schweigend der genauesten Besichtigung unterwarf.
Dies stumme Examen dauerte so lange, daß ich wegen des Endurteils besorgt ward. Aber nein! mein Pastor schien befriedigt. Ob ich denn schon rauche, fragte er sanft. Ich verneinte, fügte aber hinzu, daß ich sehr große Lust dazu hätte.
»Diese Lust,« erwiderte Roller, »liegt in der männlichen Natur, soweit sie nämlich unverderbt ist. Nur Weichlinge und Schwachköpfe verleugnen sie und halten die Pfeife für ein unreines Tier, was jüdisch ist und nichts beweist; denn als Petrus einmal auf dem Dache saß wie ein Sperling, hatte er eine große Offenbarung. Ein Tuch voll unreinen Gewürmes schwebte zu ihm nieder, und es geschahe eine Stimme aus den Wolken, die sprach: ›Schlachte und iß!‹ So stopfe denn, mein Sohn, und zünde an!«
Mit diesen Worten schob er mir den bleiernen Tabakskasten zu, und wer war glücklicher als ich? Es war der erste Augenblick in diesem Hause, zu dem ich hätte sagen mögen: bleibe! du bist so schön! wenn ich nicht vielmehr gewünscht hätte, daß er schon vorüber wäre und die Pfeife brenne.
Während ich nun stopfte, bereitete mein Pastor alles zur ersten Lektion vor, die sogleich beginnen sollte. Der öffentliche Unterricht hatte nämlich schon vor vierzehn Tagen angefangen, und ich mußte privatim nachgefördert werden. Zwei Kammern mündeten in das Studierzimmer. Die eine war Schlafstube, die andere, mit Büchern, Naturalien, Kuriositäten und allerlei Trödel angefüllt, hieß das Museum. Dahinein war Roller jetzt gegangen, um, wie er sagte, die notwendigsten Requisiten herauszuholen. Ich dachte, es würde eine Bibel sein; aber statt dessen kam er mit einem alten unüberzogenen Schafspelz zurück, den er sorgfältig vor dem Ofen ausbreitete, das Fell nach oben. Er habe ihn vom Nachtwächter gekauft, sagte er, für einen Taler, und jener von den Kosaken für fünf Groschen und vier Pfennig; doch könne ihn der König tragen, wenn er wolle.
Hierauf untersuchte Roller meine Pfeife, fand sie zu lose gestopft und drückte den Tabak fester ein. »So wenig als möglich Luft,« belehrte er, »damit die Saugwerkzeuge sich mit aller Kraft dagegen legen und das edle Gut nicht zu schnell abbrennt.« Dann zündete auch er sich eine Pfeife an.
Endlich waren alle Vorbereitungen beendet. Der Pastor blies die Lampe aus und öffnete die Ofentüre, aus welcher ein mächtiger Feuerschein hervorbrach, dessen rote Glut dem alten Fell des Pelzes das Ansehen eines goldenen Vlieses gab. Wir aber streckten uns darauf nieder wie ein paar Seehunde, ein alter und ein junger, die sich am Strande sonnen, und in dieser Situation empfing ich rauchend meinen ersten Katechumenenunterricht.
Roller begann mit einem Examen. Er fragte mich nach dem ersten Gebot: ich kannte es nicht. Ich wußte auch vom ersten Glaubensartikel nichts, hatte nie davon gehört, und selbst das Vaterunser war mir fremd. Endlich mußte ich sogar die sehr allgemeine Frage nach dem, was ich denn eigentlich wisse, unbeantwortet lassen, teils weil vielleicht der Hochgenuß des Rauchens mich zu sehr in Anspruch nahm, besonders aber, weil ich in der Tat gar nichts zu wissen glaubte. Meine bisherigen Lehrer hatten mir nichts Positives gegeben, sie hatten mein Gedächtnis leer gelassen, und auch meine Mutter hatte mehr das Herz als den Kopf bedacht. Von Katechismus und Gesangbuch hatte ich nie Notiz genommen und war ganz formlos.
Stadtkinder, sagte Roller entschuldigend, wüßten freilich in der Regel wenig und die kleinsten Bauernmädchen in seiner Schule mehr als ich. Zwar sähe er, daß ich kein Wilder oder Anthropophage sei, sonst würde er nicht so ruhig bei mir auf dem Fell liegen, aber viel gelehrter sei ich auch nicht. Doch, fügte er hinzu, das schade wenig, da er dennoch einen Grund in mir legen wolle, an dem sich Welt und Teufel zuschanden kratzen sollten. Nach solcher Einleitung ging er sogleich ans Werk, sagte mir die Gebote mit der Lutherschen Erklärung vor und ließ sie mich wörtlich nachsprechen. Da schien es mir denn, daß ich dennoch mehr wisse, als ich gedacht hatte, denn ich kannte den Inhalt sämtlicher Gebote, nur nicht dem Wortlaute nach und nicht nach der Reihe.
»Ist es nicht genug,« sagte ich, »wenn ich den Sinn weiß? Auf die Worte kommt's ja nicht an!«
Aber Roller erwiderte: »Hier liege ich, und da liegst du! Wenn du's besser weißt, so unterweise mich. – Aber,« fuhr er auf, »was ist denn das mit deiner Pfeife?«
Ich blickte nieder – mein Pfeifenkopf war eine glühende Kohle. Ich hatte den Tabak aufgeraucht und, ohne es zu merken, den Fliederkopf dazu. Roller nahm mir die Brandstätte ab und warf sie in den Ofen.
Ob mir's nicht übel sei? – aber ich war kerngesund.
»Dergleichen!« sagte Roller ganz verwundert, »dergleichen! dergleichen!« zündete die Lampe an, ging ins Museum und kam mit einer niedlichen kleinen Tabakspfeife zurück, die er mir spendete, weil ich – wie er sagte – zum Raucher geboren sei. Zu meinem Entzücken fügte er hinzu, ich könne rauchen, soviel ich wolle. Dann ergriff er seinen vier Fuß langen, aus einer fast armsdicken Weinrebe geschnittenen Stab und wanderte nach dem eine halbe Stunde entlegenen Hermsdorf zu Dohnas, wo er mit Ausnahme der Dienstage und Sonnabende jeden Abend zuzubringen pflegte. Mich aber schickte er mit meiner Pfeife hinunter zu seinen Geschwistern.
Lieber wäre ich freilich mit nach Hermsdorf gegangen oder hätte mich für mich beschäftigt; doch verging der Abend besser, als ich dachte, und der befremdliche Eindruck, den die Hausgenossen mir anfangs machten, verlor sich gänzlich. Die Schwestern waren schlecht und recht, so auch der Bruder Jonathan, und allen konnte ich das Bestreben abfühlen, mir den Aufenthalt bei ihnen angenehm zu machen. Sie fragten mich nach meinen Gewohnheiten und Bedürfnissen und klärten mich über die Ordnungen des Hauses auf. Unter anderem erfuhr ich, daß ich beim »Bruder,« wie der Hausherr par excellence genannt ward, schlafen und arbeiten, auch allein mit ihm speisen würde, im übrigen könne ich mich aufhalten, wo ich wolle, und wolle ich allein sein, fügte Jonathan hinzu, so möge ich zu ihm kommen; er wohne drüben über dem Hof im Auszug.
Als wir zu Abend gegessen hatten – ein treffliches Mahl von Kartoffeln und sauren Gurken, mit frischem Ziegenkäs zum Nachtisch – kamen auch die Hauskinder mit ihren Spinnrädern herein, setzten sich um den Kachelofen und fingen an zu schnurren wie der Kater. Luise und Charitas spannen ebenfalls, doch nicht am Rade, sondern mit der Spindel, worin sie große Meisterschaft besaßen. Herr Jonathan, den Klemmer auf der Nase, flickte einen Rock für den Bruder, und nur Marianne, welche an der Gicht litt, saß untätig im Lehnstuhl. Ich zeichnete und hörte den Dorfgeschichten zu, die man sich erzählte, und die fast so natürlich waren als die Auerbachschen.
Unter anderem sollte Dahlheims Eve Rosine zu dem säbelbeinigen Gottlieb Menzel gesagt haben, er wäre gut im Kriege.
»Nu, warum denn, Evchen?«
»Darum, daß dir die Kugeln zwischen den Beinen durchfahren.«
»So hätte das Mensch nicht zu mir sprechen sollen!« bemerkte die Großmagd Rhode.
»Wäre auch keine Ursache gewesen,« sagte Jonathan, »und was die Antwort anbelangt, die würdest du nicht schuldig geblieben sein.«
»Nun freilich nicht, Herr Roller! Um die hätte ich mich noch lange nicht geniert, wenn ich der Gottlieb wäre.«
»Der ist aber besser,« sagte Jonathan, »er hat die Jungfer heute früh bloß beim Bruder angezeigt.«
»Recht so, wie ein Schuljunge!«
»Oder wie ein Bräutigam,« fuhr Jonathan fort: »als seine Braut hat er sie angezeigt. Im Mai wollen sie Hochzeit machen.«
Rhode riß ihre schwarzen Augen auf. »Ich habe nichts dagegen,« sagte sie und spann ihre Fädchen weiter.
Noch lange glossierten die Hauskinder über diese und andere erstaunlichen Begebenheiten; ich aber rückte näher zu Marianne, welche angefangen hatte, mir von ihrer Familie zu erzählen. Sie sprach insonderheit vom Bruder David, wie der sich den Pfarrherrn habe sauer werden lassen und nun die Stütze der Familie sei. Was mir davon sowie aus späteren Mitteilungen Rollers noch erinnerlich ist, mag hier auf die Gefahr hin folgen, daß (da 50 Jahre zwischen damals und heute liegen) manche meiner Angaben vielleicht nicht aktenmäßig erfunden werden möchten.
Der Vater der Rollerschen Geschwister war Pastor in Heynitz bei Meißen gewesen und früh verstorben. Er hatte eine Witwe mit sieben Kindern hinterlassen, von denen nur der älteste Sohn, mit Namen Benjamin, versorgt war. Dieser hatte studiert und stand als Hauslehrer in Polen. Dagegen war das jüngste Kind, unser Samuel David, erst sechs Jahre alt, als die Mutter, den Heynitzschen Pfarrhof verlassend, sich mit ihrem Häuflein nach dem Dorfe Söbrigen bei Pillnitz wandte, wo sie für ein paar hundert Taler, die sie aus dem Verkaufe der Sachen ihres Mannes wie aus ihrem Anteil an der letzten Ernte zog, ein kleines Anwesen erwarb. Von hier aus gingen die heranwachsenden Töchter nach und nach in Dienste, während der zweite Bruder, Jonathan, fürs erste ein Unterkommen im hallischen Waisenhause und später in einer Schneiderwerkstatt fand. Sich selber und den kleinen David mußte die Witwe mit einer Jahrespension von etwa zwanzig Talern und ihrer Hände Arbeit durchzubringen suchen, so gut und übel es gehen wollte. David besuchte die Dorfschule und war ein Wunder an Fleiß und Fähigkeit. Daß er Pastor werden wollte, darüber kam kein Zweifel in seine Seele. Wie sein seliger Vater, so wollte auch er, wenn er groß wäre, im Priesterrock und Kragen vor der horchenden Gemeinde stehen und des Abends mit würdevollem Grüßen durchs Dorf spazieren. Auch setzte er seine Mutter des öfteren in Erstaunen, wenn er sich Sonntags nach der Kirche vor ihr aufpflanzte und die Predigt fast wörtlich wiederkäute oder auch eine eigene hielt, daß ihm die Weisheit nur so vom Munde floß. Da mochte es der armen Frau schon manche Träne kosten, wenn sie dachte, daß bei ihrer großen Armut aus dem David doch nichts anderes werden könne als ein Winzer oder Drescher.
Inzwischen war der Pastor Löffler in Hosterwitz, zu dessen Gemeinde Söbrigen gehörte, auf den fähigen Jungen aufmerksam geworden. Er nahm sich seiner an und ließ ihn an dem Unterrichte teilnehmen, den seine eigenen Söhne am Vormittage durch einen jungen Kandidaten namens Müller erhielten. Von nun an rannte David jeden Morgen nach dem benachbarten Hosterwitz hinüber, wo er sich Kopf und Magen füllte, denn zur Ehre der Hosterwitzer Pfarrfrau sei es gesagt, daß sie den armen Jungen nicht ohne Mittagsbrot entließ. Des Nachmittags blieb er in Söbrigen, und da ihn alle ländlichen Arbeiten sehr vergnügten, so half er Winzern und Gärtnern bei Schnitt und Pflege des Weinstocks und der Obstbäume, drosch, als er stärker wurde, mit den Dreschern oder stand dem alten Fährmann auf der Elbe in seiner Profession bei.
Das Schifferwesen hatte für den stämmigen Burschen besonderen Reiz, und wenn, wie das nicht selten vorkam, die großen Elbkähne in Söbrigen anlangten, so machte David sich hinzu und war unter dem Schiffsvolk wohl gelitten, weil er alles richtig angriff und rudern konnte wie ein Seehund. Als er heranwuchs, nahm ein befreundeter Schiffer ihn sogar auf verschiedenen Fahrten mit nach Torgau, Wittenberg und Magdeburg und lohnte ihn wie andere Knechte. Von solchen Reisen erzählte Roller später mit Vergnügen, sowohl von der harten Arbeit des Ruderns, Stoßens und Ziehens, was die Brotsuppen würzte, als auch von der Behaglichkeit des Segelns, das Muße zum Studieren gab. Wenn sich der Wind in die große graue Leinwand legte und das schwere, mit Pirnaischen Quadern beladene Schiff wie eine Flaumfeder auf dem Strom hinblies, dann zog der gelehrte Matrose seinen Horaz hervor oder sein griechisches Testament und erbaute seinen Geist, während der Leib sich in bequemer Ruhe auf einem Sacke streckte.
Fast ist es unbegreiflich, wie ein Dorfjunge unter anstrengender Feld-, Garten- und Schiffsarbeit mittelst einiger oft unterbrochener Privatstunden doch so weit gefördert werden konnte, daß er es wagen durfte, sich mit achtzehn Jahren auf der gelehrten Kreuzschule in Dresden zum Examen zu melden. Aber er bestand es und erhielt das Maturitätszeugnis. Dieser seltene Fall mochte Aufmerksamkeit erregt haben und zu den Ohren des Ministers Grafen Hohenthal von Königsbrück gekommen sein, welcher sich bewogen fand, dem angehenden Studenten eine Studienunterstützung auf drei Jahre zu gewähren. Ein Bauer in Söbrigen schenkte das Reisegeld mit einem Taler und acht Groschen, und damit machte der glückselige Jüngling sich auf den Weg zur Musenstadt.
In Leipzig ging es an ein tüchtiges Studieren, wenn auch unter mancherlei Entbehrungen, denn das Stipendium war, nach Art von dergleichen Hilfen, so knapp zugeschnitten, daß damit weder zu leben noch zu sterben war. Obgleich der eifrige Studiosus durch Unterrichtgeben noch zuverdiente, konnte er doch, wenn er nicht nackend gehen und verhungern wollte, die nötigen Kollegiengelder nicht erschwingen. Er mußte sich auf Puplika wie auf ein paar geschenkte Vorträge beschränken, und was den Tisch anlangte, so glich er des Juden Esel, dem das Fressen abgewöhnt werden sollte. Da gedachte er denn wohl der kräftigen, wohlgeschmalzten Brot- und Zwiebelsuppen auf dem Schiffe, und die sonst so heiteren Studentenjahre waren die bittersten seines Lebens.
Roller war indessen aus festem Holz geschnitten: er überwand Hunger und Blöße wie auch die Neologie seiner Lehrer und Genossen, und rettete den Glauben seiner Väter aus dem Schiffbruch der damaligen Theologie. Endlich absolvierte er zu Dresden sein Examen, und zwar in nassen Hosen, weil er unterwegs einer in die Elbe gefallenen Bauernfrau nachgesprungen war und ihr samt ihrem Korbe wieder herausgeholfen hatte. Jetzt stand der Weg zur Kanzel offen.
Fürs erste mußte freilich gehauslehrert werden, und später befähigte das Vertrauen verschiedener Dresdener Familien den überaus tüchtigen Kandidaten, mit Hilfe seiner Schwester Marianne ein eigenes Erziehungsinstitut anzulegen, was den besten Fortgang hatte. In dieser Lage fühlte er sich ganz zufrieden und dachte vorderhand nicht an Veränderung – als ihn eines Morgens der alte Gönner Graf Hohenthal zu sich entbieten ließ und ihm das Pfarramt auf seinem Gute Döbernitz bei Delitzsch übertrug. Das war nun freilich besser, als Schulmeister sein. »Es war mir zu Sinne,« sagte Roller zu seiner Schwester, »da ich vom Herrn Minister fortging, als fielen die Häuser über mich, so tanzte mein Herz!«
Döbernitz war zwar nur eine kleine Stelle, allein sie genügte den Bedürfnissen, die Roller für sich und die Seinigen hatte, um so mehr, als ihm eine Anzahl seiner Pensionäre dahin folgte. Mit diesen teilte er nun sein Leben wie in Dresden, blieb ihnen Vater, Lehrer und Gespiele, durchschweifte die Umgegend mit ihnen nach Pflanzen, Schmetterlingen und Insekten, lehrte sie den Garten bauen, fischte und krebste mit ihnen in Teichen und dem kleinen Erlenbach, der das Döbernitzer Gebiet durchirrt. Dazu der Vollgenuß der ersten Amtsführung und eine Anhänglichkeit der Gemeinde, die heute, da ich dieses schreibe, ihren ehemaligen Pastor in wertem Andenken hält. Es war die glücklichste Periode in Rollers Leben, von der er gern erzählte, wie auch von der seltsamen Art und Weise, mit welcher sie schon nach vier Jahren wieder abschloß.
Als unser Pastor nämlich eines Sonntags aus der Kirche kam, fand er einen unbekannten Herrn auf seinem Zimmer. Es war eine hohe, zugeknöpfte Gestalt von aristokratischem Typus. Die tiefliegenden Augen wie das dunkle ins Gesicht gezogene Kopf- und Barthaar gaben dem Fremden ein auffallend düsteres Aussehen. Geradeso hatte sich Roller die Stuhlherrn heimlicher Gerichte des Mittelalters gedacht, wenn sie sich einen recht darauf ansahen, ob sie ihn spießen oder würgen sollten.
Inzwischen stellte sich der Fremde nur als Burggraf zu Dohna vor und gewann noch mehr in Rollers Augen durch Annahme einer Pfeife Tabak. Das Gespräch war bald im Gange. Der Graf war in der Küche gewesen und knüpfte an die Predigt an, sich mannigfaltige Erläuterung erbittend; es war, als wolle er die Gesinnung des anderen bis auf den Grund erforschen. Aber überall begegneten sich die gleichen Sympathien, und die dunkeln Gesichtszüge des Grafen klärten sich nachgerade zu einer so herzgewinnenden Freundlichkeit auf, daß Roller bald die wärmste Zuneigung für ihn empfand.
Als die Pfeifen ausgedampft hatten, erhob sich der Graf und langte nach seinem Hute. Er sei eigentlich gekommen, sagte er, dem Herrn Pastor die in seinem Kirchdorfe Lausa vakant gewordene Pfarrstelle anzutragen, und hoffe zuversichtlich, derselbe werde ihn nicht abschlägig bescheiden.
Roller stutzte und erwiderte kein Wort. Als aber der andere in ihn drang, sich zu entscheiden, sagte er, er kenne weder Lausa noch den Grafen, noch dies und das. Die Sache wolle überlegt sein.
Der Graf dagegen schien vom Überlegen nichts zu halten. Er mochte denken, daß ein richtiges Ding auch gleich sein Ja und Amen in der Tasche habe, und wo das fehle, sei das Ding nicht richtig; kurz, er umarmte den Pastor herzlichst und verließ das Zimmer. Jener folgte, bittend, er möge bleiben und ihm und seinen Schwestern verzehren helfen, was Gott etwa bescheren werde; auch könne nach dem Schluß des Nachmittagsgottesdienstes noch manches gute Wort am Platze sein. Aber der Rückzug des Grafen war gar nicht aufzuhalten. Er habe Eile, sagte er, und stieg in seinen Wagen. Da schwang sich Roller nach, so wie er eben war, und fort ging es im schärfsten Trabe.
Graf Dohna war ein Enkel Zinzendorfs, und wenn er diesem großen Manne auch weder an Genialität noch an praktischem Geschick gleichkam, so doch gewiß an ungefärbter Frömmigkeit wie auch an treuer Sorgfalt für das geistliche Gedeihen seiner Untertanen. Die Besetzung der Pfarr- und Schulämter auf seinen weitläufigen Besitzungen war ihm daher ein Gegenstand gewissenhaftester Bemühung. Aber wenn er auch nur bekenntnistreue Männer berief, so konnte doch auch unter solchen fehlgegriffen werden, daher es wohl zu denken wäre, daß er sich im gegenwärtigen Falle ein rasches, ja ein augenblickliches Entgegenkommen Rollers als ein Zeichen höherer Ratifikation gesetzt hätte.
Doch dem sei, wie ihm wolle. Jetzt saßen die beiden trefflichen Männer nebeneinander im Wagen und mochten nicht wenig erstaunt übereinander sein – Roller über das kurzangebundene Wesen des Grafen und dieser, Rollern ohne Hut an seiner Seite zu sehen. Anfänglich fand keiner das Wort, bis Roller endlich fragte, ob Lausa in Polen oder in Schweden liege.
»Über der Elbe,« lautete die Antwort, »zwischen Dresden und Königsbrück!«
Als Roller darauf nach anderen unwesentlicheren Fragen nun auch die tat, ob die Gemeinde sich auch zur Kirche hielte, erzählte der Graf von einer uralten Kanzel, an welcher ein Gebetlein eingegraben stehe, daß Gott sie allezeit vor falscher Lehre bewahren wolle. Das sei denn auch in Gnaden so geschehen und dieser Predigtstuhl vielleicht der einzige in Sachsen, von welchem seit dreihundert Jahren das Wort Gottes unverkürzt und ohne Unterbrechung verkündet worden. Wo das der Fall sei, da hielten sich die Leute auch zur Predigt und zum Sakrament, und so groß sei in Lausa der Andrang der wachsenden Gemeinde, daß jüngst die Kirche habe erweitert werden müssen. Jetzt wolle er – der Graf – noch einen neuen Turm darauf setzen, der weit ins Land hineinlocken solle.
Immer mehr des Guten ward berichtet; das Bestechendste aber blieb immer die Persönlichkeit des Grafen, dessen Eigentümlichkeit unseren Pastor im hohen Grade befriedigte. Mit einem Kollator Hand in Hand zu gehen, der in solcher Weise im Worte Gottes lebte und Gottes Werk zu fördern strebte, das mußte eine gesegnete Amtsführung geben. Nach einer Meile Weges ließ Roller halten und stieg aus. Daß er nach Lausa käme, stehe fest, sagte er. Der Graf rief erfreut zurück, das sei ein gutes Ding! und fort flog die leichte Chaise. Die Sache war abgemacht.
Wenn Jean Paul die Menschen ganz einfach in zwei Klassen teilt, nämlich in Arkadier und Schafmeister, so war Roller unbedingt ein Arkadier vom reinsten Blute. Er wußte daher, als er nach Döbernitz zurückkam, auch nicht, ob er sich pekuniär verbessert oder verschlechtert habe, weil er zum Schrecken seiner Schwestern vergessen hatte, nach den Lausauer Pfarreinkünften zu fragen. Doch fand er nachmals eine Stelle, die ihn in den Stand setzte, nicht nur seine Mutter reichlicher zu unterstützen als bisher, sondern auch nach deren bald erfolgtem Tode alle seine unverheirateten Schwestern nebst dem kränklich gewordenen Schneider Jonathan zu sich ins Haus zu nehmen. Die älteste Schwester, Konkordia, hatte sich von Döbernitz aus an einen schon bejahrten Delitzscher Pastor, einen Magister Faber, verheiratet. Als dieser sich nun bald nach Abzug seines Schwagers altershalber pensionieren ließ und Graf Dohna ihm sein nahe bei Lausa gelegenes Schloß Grünberg zum Wohnsitz anwies, hatte Roller die Freude, mit Ausnahme des Bruders Benjamin, der eine Rektorstelle in Marienwerder innehatte, alle die Seinigen, wenn nicht unter seinem Dache, doch so nahe zu haben, daß er sie täglich sehen konnte. So standen die Sachen, als ich nach Lausa kam.