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In Sachsen hatte sich während der Zeit unserer Abwesenheit sehr viel verändert. Die Zustände waren besser und schlechter geworden. Zwar waren es harte Drangsale gewesen, denen das geängstete Land im Jahre dreizehn fast erlag; aber jetzt, da es, freier aufatmend, sich den Schweiß vom Angesicht wischte, erblickte es vornehmlich nur das Unrecht, das seine Befreier ihm anzutun gedachten.
Gerade jetzt, da endlich die fremden Dränger ausgetrieben waren, die übrigen deutschen Stämme, den Frieden und das wiederkehrende Recht begrüßend, in jugendlicher Freiheit erstanden und allerlei geraubter Besitz zurückging in die Hände der rechtmäßig Besitzenden, sah das arme Sachsen sich mit seinem Könige von solcher Gerechtigkeit ausgeschlossen. Der edle König saß im fremden Lande als Gefangener, büßend für die Sünden, die wesentlich nicht er, sondern die begangen hatten, die ihn gefangenhielten. Nicht seine Schuld war es gewesen, daß die Eifersucht deutscher Großmächte die Hoheit des Reiches unter die Hand eines Fremden beugte, und nicht er hatte, wie so manche andere, partikulären Vorteils halber mit der Gunst des Auslandes gebuhlt. Er war ganz ehrenhaft mit den Waffen in der Hand unterlegen und hatte sich dem Feinde erst dann verbündet, als er sich von seinen Riesenarmen umklammert fand. Und endlich – was konnte er dafür, daß er der letzte war, den der Übermächtige aus jener tödlichen Umarmung entließ?
Ebensowenig konnte man dem Lande einen Vorwurf machen. Das Volk war immer deutsch gesinnt, nichts weniger als verblendet durch die Vorteile, welche die französische Allianz gewährte. Es hatte die Befreiungsheere mit offenen Armen empfangen, ihnen jeden Vorschub geleistet, und selbst die Armee hatte bei Leipzig den schmerzlichsten Beweis geführt, daß sie nur deutsch sein wollte.
Wenn also Sachsen dennoch als Feindesland behandelt wurde, so blieb kaum etwas anderes zu denken übrig, als daß Europa einzig und allein gegen Sachsen Krieg geführt, denn daß dies gegen Frankreich nicht geschehen, hatten die Mächte nicht allein erklärt, sondern die Natur des Friedensschlusses hatte es auch bewiesen. Frankreich war als befreundete Macht mit der zartesten Schonung behandelt worden; aber Sachsen sollte mit seinem Herzblut zahlen. So urteilte man damals in Dresden, wahrscheinlich auch heute noch, und ob mit Recht oder Unrecht, mögen diejenigen entscheiden, die sich die Geschichte jener Tage genauer angesehen haben als der Schreiber dieses.
Wir fanden vorerst ein russisches Gouvernement im Lande. Aber obschon dieses die gesprengte Brücke aus Landesmitteln restaurierte, auch von der Brühlschen Terrasse herab auf den Schloßplatz eine schwerfällige Treppe niederführte, so war die Stimmung, wie gesagt, doch sehr verbittert und verbitterte sich noch mehr, als im November an die Stelle der russischen eine preußische Verwaltung trat. Gleichzeitig begannen auch die Sitzungen des Wiener Kongresses. Von dort sollte die Entscheidung kommen, und welche es auch sein mochte, so ahnte man es doch in Sachsen, daß der schwarzweiße Storch den grünen Elbfrosch auf eine oder die andere Art verspeisen würde.
Rußland, dreimal größer als ganz Europa, mochte immer noch zu eng sein, um sich an sich selber genügen zu lassen. Es verlangte nach Lohn zu seiner Befreiung. Aber zu großmütig, diesen von Frankreich zu nehmen, gegen das es ja keinen Krieg geführt hatte, schien es ihm angemessener, sich, wie beim Tilsiter Frieden, an seinem Bundesgenossen zu erholen; es beanspruchte Warschau, und Preußen mochte sich dafür an Sachsen schadlos halten, das zufälligerweise niemandem gehörte. Die Sache war einfach genug, und man schien nur noch zu streiten, was besser sei: alles zu nehmen oder bloß das meiste. Darum stritt man auch in Dresden, und es waren gewiß nicht die schlechtesten Patrioten, die das völlige Aufgehen des Landes in Preußen einer Zerstückelung vorzogen. Dieser Ansicht war auch mein Vater. Er fürchtete Verkümmerung für den zurückbleibenden Rest eines geteilten Landes und ward dafür von anderen hart getadelt, die ihrem geliebten Könige, damals vielleicht dem edelsten und gewissenhaftesten Monarchen der Welt, lieber jenen Rest als nichts erhalten wollten, sowie einem Teil der Bevölkerung wenigstens den altberühmten Namen.
Diese letztere Partei trug eiserne Ringe mit des Königs Bildnis, Kokarden an den Hüten, verachtete die Andersdenkenden und haßte Preußen wie den Tod – dasselbe Preußen, das vor kurzem noch als Vorkämpfer deutscher Freiheit so bewundert, so ehrenwert und groß gewesen, nun aber seinen Lohn dahinzunehmen schien. Ob es nun die Ringe taten, die Kokarden und der Haß, kurz, diese sächsische Partei behielt den Sieg, und Sachsen ward geteilt. Der größere und fruchtbarste Teil des alten Kurlandes ward abgerissen, und die altangestammte Treue der Untertanen umgeschworen. Was aber übrigblieb, empfing und ehrte den endlich im Juni zurückkehrenden König wie einen vom Tode auferstandenen Vater.
An diesem herzlichen Empfange beteiligte sich ein jeder nach Maßgabe seiner Begeisterung, seiner Mittel und seines Geschmackes. Einheimische und Fremde wetteiferten miteinander, dem gekränkten Könige ihre Teilnahme zu beweisen. Allen zuvor an Sinnigkeit und persönlicher Dahingabe aber tat es der obberegte Fürst Putjatin.
Der König kam von Böhmen her und hatte unweit Pirna das dem Fürsten gehörige Landgut Zschachwitz zu passieren. Hier angelangt, fand er sich durch singende Schulkinder aufgehalten, und zwar unmittelbar unter einer Ehrenpforte, in deren Wölbung eine kolossale Blumenkrone schwebte. Darin wiegte sich wie in einer Schaukel höchstselbst der alte Fürst und begrüßte den erschrockenen Monarchen von oben herab mit einer französischen Jubelrede, ihn reichlich mit Rosen bestreuend. Aus Furcht vor dem Blumenhagel soll der König gar nicht aufgeblickt und nichts erwidert haben. Erst beim Weiterfahren äußerte er gegen den neben ihm sitzenden Kavalier, der Prinz Putjatin scheine ihm etwas mentekapt zu sein.
Ich war damals ein Junge von zwölf Jahren, nahm aber lebhaften Anteil an den Dingen, die ich täglich verhandeln hörte. Bei dem Enthusiasmus, den ich von meinen Reisen für alles Deutsche zurückgebracht hatte, ärgerte und irrte mich sowohl das Verhalten Preußens gegen Sachsen als auch die brudermörderische Stimmung Sachsens gegen Preußen. Recht eigentlich Partei zu nehmen vermochte ich daher nur gegen die, freilich erst durch Provokation wachgerufenen undeutschen Sympathien, die sich hin und wieder, und namentlich nach Napoleons Rückkehr von Elba, selbst unter Schulkindern zeigten. Von neuen Siegen des erkannten Erbfeindes Besserung zu erwarten, schien zu empörend und diente sächsischer Landsmannschaft nicht gerade zur Empfehlung. Wer aber undeutsch war, der war zu solcher Unnatur erst durch das Unrecht angestiftet, das Deutsche Deutschen angetan, und solches Unrecht ist von alten Zeiten her der alleinige Grund der großen Demütigungen gewesen, die unser teures Vaterland vom Auslande zu erdulden hatte.
Als wir von Hummelshain zurückgekehrt waren, fanden mein Bruder und ich uns sogleich wieder in jenem eigentümlichen Gedränge bunten Lehrerwechsels, der wie ein Schicksal an unserer Jugend haftete. Fürs erste hatte man uns von neuem den Unterricht im Schönbergschen Hause teilen lassen, aber nur auf kurze Zeit, da der Magister Schulz ein Pfarramt annahm und Freund August der Schnepfentaler Anstalt übergeben wurde. Hierauf ein abermaliger Durchgang durch das Haansche Institut, bis wir aus vergessenen Gründen auch von dort wieder weggenommen und der in nächster Nähe gelegenen Neustädter Rektorschule übergeben wurden.
Das gute Ansehen, in welchem diese Schule stand, dankte sie dem Talente und Verdienste des derzeitigen Rektors Anger, eines trefflichen Schulmannes, dessen Liebenswürdigkeit und natürliche Würde zwanglose Disziplin hielt. Die Schüler wurden im Lateinischen bis zur Quarta, wohl auch zur Tertia der Gymnasien gefördert, während der Standpunkt dieser Gymnasialklassen in den Realien überschritten wurde.
Der Religionsunterricht, vom Rektor selbst erteilt, ward jeden Morgen mit einem Choral eröffnet, welchen der musikalische Mann auf der wohlklingenden Schulorgel zu begleiten und mit einem Vorspiel einzuleiten pflegte. Diese Präludien waren jedenfalls das beste an der Sache; es waren freie, die Ausdehnung gewöhnlicher Vorspiele weit überschreitende Phantasien, in welche der Spielende die ganze Fülle seiner religiösen Empfindung ausströmte, und zwar so gründlich, daß für den darauffolgenden Unterricht davon nichts mehr übrig zu bleiben schien.
Was Anger uns lehrte, war weniger Christentum als vielmehr Angertum. Zwar wurde jedem Vortrag ein Kapitel aus den Evangelien zugrunde gelegt, nicht aber als Glaubensbasis, sondern wunderlicherweise als Gegenstand einer das Verständnis der Klasse weit überbietenden Kritik, welche ermitteln sollte, was in dem verlesenen Abschnitt Wahrheit, was temporärer und lokaler Glaube, und was offenbarer Unverstand sei. Als Wahrheit blieb dann eigentlich nur das zurück, was sich für jedermann, der sich nicht gerade Ohrfeigen zuziehen will, von selbst versteht.
Es trat mir hier zum ersten Male in meinem Leben der nackteste Rationalismus ohne alle Heuchelei mit offenem Visier entgegen; ich erkannte aufs deutlichste den Unterschied zwischen dem Bekenntnis meiner Mutter und dem Bekenntnis Angers und fühlte mich zu sehr entschiedenem Widerspruche aufgeregt, den ich mich denn auch gelegentlich nicht enthalten konnte laut werden zu lassen.
Mein lieber Anger – ich kann nicht leugnen, daß ich ihn trotz seiner Neologie noch heute lieb habe – pflegte in seinen Religionsvorträgen nicht selten naturgeschichtliche, physikalische und physiologische Exkursionen zu machen, um uns zu zeigen, was sein könne und was nicht. So hatte er uns einmal die Lebensbedingungen des menschlichen Körpers und die Veränderungen geschildert, welchen derselbe im Tode unterworfen sei, um die Unmöglichkeit zu erweisen, wirklich Totes wiederzubeleben. Da trieb mich's auf von meinem Sitze, und so verlegen ich auch war, brachte ich's doch glücklich heraus, daß, was vor Menschen unmöglich sei, doch wohl dem allmächtigen Gott gelingen möge, und ob denn Christus nicht auferstanden sei?
Ein beifälliges Gemurmel ging durch die Klasse, und der arme Rektor mochte in einiger Verlegenheit sein, da er trotz des herrschenden Rationalismus doch so weit nicht gehen durfte, die Auferstehung Christi vor Schulkindern zu leugnen. Was er erwiderte, weiß ich nicht mehr, mochte es auch nicht verstanden haben. Vielleicht sagte er, daß ein erwiesenes Wunder wie dieses allerdings nicht zu bezweifeln sei, daß aber der großen Unkenntnis alter Zeiten manches als Wunder erschienen sein möchte, was ganz natürlich oder vielleicht auch gar nicht zugegangen sei und bloß auf superstitiösem Hörensagen beruht haben möge. Jedenfalls nahm er mir dergleichen Einwürfe nicht übel und blieb mir immer freundlich.
Mit besserem Erfolg als die Religion behandelte Anger die übrigen Zweige seines Unterrichtes, namentlich Physik und Geometrie, die meine Lieblingsdisziplinen wurden. Die geometrischen Wahrheiten ließ er uns, wie ehedem Senff die arithmetischen, soviel als möglich selbständig finden und regte uns überdem noch durch Privataufgaben zu eigenem Forschen an. Daß ich damals die Quadratur des Zirkels nicht erfunden habe, war nicht meine Schuld; gebrütet habe ich sehr viel darüber. Einmal erlaubte ich mir sogar recht triumphierend in der Schule zu erscheinen, weil ich endlich das Problem gelöst zu haben glaubte. Ich war auf den ingeniösen Gedanken geraten, einen Zwirnsfaden genau um einen pappernen Zylinder zu passen und dann denselben Faden mittelst Stecknadeln in ein Quadrat zu spannen. Das Quadrat war leicht zu messen, und es ergab sich daraus, daß ein Zirkel von soundso viel Diagonaldurchmesser soundso viel Quadratmaß halten müsse. Ich wurde aber nur ausgelacht mit meinem Fündlein.
Ganz besonders und vorzugsweise interessierte mich die Physik, welche Anger auf so klare Weise vortrug, daß mir das damals Erkannte großenteils noch heute geläufig ist. Hierzu mochte der Umstand helfen, daß die Schule ohne allen physikalischen Apparat war. Der Lehrer war genötigt, die fehlenden Instrumente in allen ihren Teilen scharf und genau an die Schultafel zu zeichnen, und indem ich sie nachzeichnete, begriff ich sie vollständiger, als dies durch das Anschauen wirklicher Maschinen gelingen mochte. Durch so erlangte Einsicht fand ich mich befähigt, mir mancherlei Instrumente selbst anzufertigen und dann für mich das in der Schule Erlernte zu erproben. Ich studierte die Schwingungen des Pendels und der Darmsaiten, machte Versuche mit der Chladnischen Tafel, fabrizierte eine Wasserwage aus Wachs und brachte aus Pappe, Stanniol und Pech einen Elektrophor zustande, der so wohl geriet, daß ich ihn mit Ehren in der Schule präsentieren konnte.
Da nun mein Vater sah, mit welchem Eifer ich diesen Studien nachhing, schenkte er mir eine kleine veritable Elektrisiermaschine. O welch ein Glück war das! Ich vergaß darüber sogar den Kosakensäbel und frappierte die ganze Hausgenossenschaft, von den Eltern an bis hinab auf Talkenberg, der wieder Stiefel putzte, durch derbe elektrische Schläge. Den Apparat vervollständigte ich von Tag zu Tag, machte ganze Batterien von Leidner Flaschen, Blitztafeln, Isolierschemel und dergleichen und gab Vorstellungen, die auch die Großen mit ihrer Gegenwart zu verherrlichen geruhten.
Endlich ward durch das Interesse, welches alle an diesen Wundern nahmen, auch unser Hausarzt, Dr. Pönitz, bewogen, mit seinem reichen Apparate bei uns zu experimentieren. Da sah ich die erste Voltasche Säule und spürte ihre Zauberwirkung, ich lernte die Kräfte des Magnetes kennen, sah Stahlfedern in Sauerstoff verbrennen und mehr dergleichen Sonderbarkeiten. Es entstanden mannigfache Fragen, und wenig fehlte, so hätte ich mich entschlossen, mein künftiges Leben gänzlich dem Studium der Naturkräfte zu widmen.
Aber auch zu künstlerischen Leistungen regte mich die Schule an. Mehrere Schüler waren nämlich auf den Einfall gekommen, den Geburtstag unseres sehr verehrten Rektors durch ein Schauspiel zu zelebrieren und hatten auch mich zu ihren Beratungen gezogen. Welches Stück wir gewählt hatten, weiß ich nicht mehr, nur erinnere ich mich, daß ein Dieb durchs Fenster steigen mußte. Nun hatten wir zwar kein eigentliches Theater und wollten die Kulissen nur durch spanische Wände herrichten, die meine Mutter liefern sollte; wegen des Diebes war aber doch eine Wand mit einem Fenster nötig, Dinge, die wir uns selber machen mußten, und ein anstelliger Junge, Sohn eines Stubenmalers, namens Lehmann, übernahm die Leitung dieses Werkes. Als Atelier benutzten wir die Klasse nach geschlossener Schule. Die Bänke wurden weggeräumt, und bei dem matten Schein von ein paar mitgebrachten Talglichtern gingen wir mit Holzleisten, Nägeln, Kleister, Leim und Pappe, mit Schneiden, Hämmern und Farbereiben frisch ans Werk. Jeder tat sein Bestes, und wie der Rektor sich endlich freuen würde, war gar nicht auszusprechen. Freilich würde die Überraschung noch größer sein – schlossen wir – wenn der Gefeierte die schöne Dekoration erst beim Anfange des Stücks zu sehen kriegte, aber dazu war ein Vorhang nötig, und woher den nehmen? »Der wird von Papier zusammengeklebt!« sagte ich und vermaß mich des weiteren zu versprechen, daß, wenn die anderen nur wüßten, wie er anzubringen sei, so wollte ich ihn wohl malen. Ich dachte: wenn der Sohn des Stubenmalers die Wand mit dem Fenster zwingt, so wird der Sohn des Historienmalers wohl auch den Vorhang zwingen.
Mein Vorschlag wurde mit Applaus gelohnt. Lehmann umarmte mich sogar. »Ich male,« sagte ich trocken, »den Genius der Kunst, schwebend mit seiner Leier auf himmelblauem Grunde, und Lehmann faßt das Ganze mit einer Wein- oder Hopfengirlande ein, oder wie er will, denn ich verstehe mich nur auf Figuren.« Sogleich skizzierte ich den Schweber auf ein Blatt Papier, Lehmann entwarf etwas wie eine Girlande darum, und diese erste Erfindung übertraf die Erwartung aller, auch meine eigene; ich brannte vor Begierde, sie auszuführen.
Die nächsten Abende fanden uns in voller Arbeit. Wir leimten erst Papiere an Papiere, verkleisterten uns dabei die Hände, die Hosen, Jacken und Haare, und am Ende klebte die ganze Geschichte unlösbar fest am Boden. Es war entsetzlich! Nur in Fetzen brachten wir den Vorhang wieder los und verbrauchten den ganzen Rest des Abends mit Reinigen des Fußbodens. Aber immerhin hatten wir jetzt gelernt, wie man's nicht machen müßte, und das nächste Mal ging's besser. Die Tabula rasa brachten wir wirklich zustande, und es fehlte jetzt nur noch eine Kleinigkeit, der Genius nämlich, den man von meiner Geschicklichkeit erwartete.
Ich überzog nun – wie es der Vater machte – die Skizze mit gelehrten Quadraten, desgleichen auch den Vorhang, und begann mein Werk ins Große aufzuzeichnen. Ich war durchglüht von Schöpferlust und arbeitete mit Begeisterung. Nie habe ich später wieder so kecke und markige Kohlenstriche gemacht. Die anderen umstanden mich staunend, und als nun nach und nach die deutlichsten Umrisse einer lebensgroßen Gestalt erschienen, erquickte mich aufrichtiger Beifall. Nur das Gesicht ließ noch zu wünschen übrig. An dem seinigen, das er verzerrte, zeigte mir einer, wie es sich ausnähme. Ich sagte aber, das gäbe sich bei der Ausführung.
Darauf verließ ich die Werkstatt zwar sehr befriedigt von dem, was ich bis dahin geleistet hatte, aber doch mit einiger Besorgnis, die nicht bloß jenem Gesichte galt: ich wußte überhaupt nicht, wie's weiter werden sollte. Wohl konnte ich einen Umriß zeichnen, der mir und meinesgleichen genügte; ihn aber mit Farben, Licht und Schatten, und noch dazu in so bedeutender Größe auszufüllen, das fing mir an, bedenklich zu werden. Indessen war der Hintergrund das nächste, und das weitere, hoffte ich, würde sich finden. Auch fand sich's wirklich.
Der treffliche Lehmann hatte einen großen Topf voll Farbe gerieben, schöne himmelblaue von erster Qualität, und in Strümpfen auf dem Bilde umherkriechen, begannen wir den Anstrich. Ich umzog die Umrisse, andere füllten, und in Zeit von einer einzigen Stunde war alles radikal verdorben. Unser bis dahin so wohlgeratener Vorhang war mit Falten überzogen wie ein Sturmmeer, welches verknöchernd die Farbe fleckig auftrocknen ließ. Trotz unserer physikalischen Gelehrtheit waren wir mit der Natur des Papiers doch zu unbekannt geblieben.
Mir fiel ordentlich ein Stein vom Herzen und den andern auch; denn so wenig ich mich einer weiteren Ausführung gewachsen fühlte, so wenig wußten jene, wie und wo sie den großen Vorhang befestigen, und auf welche Weise sie ihn zum Auf- und Niederrollen bewegen wollten. Es machte mir daher keiner einen Vorwurf, und nach einiger Überlegung wickelten wir unser Tableau zusammen, um es auf dem Schulboden bis zum nächsten Geburtstage zu verwahren. Bis dahin konnten sich wohl Mittel finden, es zu glätten. Die Komödie führten wir ohne Vorhang auf.
Nach so mannigfaltigen Bereicherungen meiner Erfahrung sollte ich in jener instruktiven Zeit auch noch mit einem andern Genre des Ruhmes bekannt werden, nämlich mit den Künsten graziöser Gebärdung. Die berühmte Madame Hendel-SchützHenriette Hendel-Schütz aus Döbeln in Sachsen (1772-1849), zuerst Schauspielerin, dann als Darstellerin mimisch-plastischer Rollen berühmt. war nach Dresden gekommen und erfüllte die Stadt mit Gespräch. Auch bei uns hatte sie Besuch gemacht und meinen Eltern zwei Billetts zu einer Theatervorstellung verehrt. Meine Mutter zwar, deren nüchternem Wesen dergleichen eitle Schaustellungen ebenso zuwider waren als die Person der Schaustellerin selbst, wollte keinen Gebrauch davon machen, der Vater aber ging hin, und damit das Billett nicht umkäme, nahm er auch mich mit.
Da sahen wir denn den wunderbarsten Wechsel von lebenden Bildern, zuletzt die Künstlerin selbst als selige Mutter Gottes unter einer Schar von Engeln gen Himmel fahren. Mein Vater glossierte zwar über ungemalte Gemälde, die überall so reichlich vorhanden seien, daß man sich ihrer gar nicht erwehren könne, dennoch aber ging er nach beendigter Vorstellung mit mir auf die Bühne, um seine höfliche Anerkennung auszusprechen.
In ihren leichten Himmelfahrtsgewändern trat uns die blendend schöne Frau mit prachtvoll langem, aufgelöstem Haar entgegen, umgeben von jungen Mädchen, welche die Engel gemacht hatten. Sie hatte die hübschesten Backfische der Stadt mit sicherem Griffe zusammengerafft und sie in täglicher Übung vollbereitet, was mein Vater eine Magdalenenschule nannte. Ich glaubte nie etwas Schöneres gesehen zu haben als die ganze himmlische Gesellschaft, und ganz verblüfft, wie ich war, stellte mich mein Vater der Himmelskönigin vor.
»Ja« – rief Madonna – »das ist des Meisters Sohn!« breitete mir die Arme entgegen und schloß mich an ihr Herz. So habe ich denn, ebenso wie ich in aller Unschuld einen Ritt mit den berühmten Totenköpfen machte, auch die Umarmungen jener schönsten Frau gekostet. Ich war aber spröde wie ein Käfer und sehr zufrieden, als sie mich wieder losließ. Ich wischte mir den Mund mit der Kehrseite der Hand und starrte die hellen, jugendlichen Engel an, die mir viel besser gefielen.
Inzwischen suchte die gütige Künstlerin den Vater wegen Abwesenheit seiner Frau, die er entschuldigt hatte, zu beruhigen. Wenn ihre Freunde nicht zu ihr kämen, sagte sie, so käme doch sie zu ihnen, und gewiß sollte die Mutter nichts verlieren, da sie sich ein Vergnügen daraus machen werde, bei ihr in ihren eigenen Zimmern eine Vorstellung zu geben; und recht viel liebe, gute Menschen möge mein Vater dazu laden. Dieser deprezierte mit Eloquenz; da er aber nur Bescheidenheitsgründe hatte, so blieb endlich nichts anderes übrig, als die seinem Hause angebotene Ehre anzunehmen.
Auf dem Rückweg sagte er, die Mutter werde gewiß verreisen, wenn sie's höre. Er brachte ihr die Neuigkeit mit zartester Schonung bei, alles ihrem eigenen Ermessen anheimstellend. Sie kam ihm aber aufs freundlichste entgegen und richtete ihre Zimmer für den Kultus jener fremdartigen Priesterin ein. Das nötige Arrangement ward bald getroffen. Unter einem Kronleuchter von Argentschen Lampen – eine neue Erfindung damals – ward ein erhöhtes Podium errichtet und mit Teppichen belegt, der grünseidene Vorhang vor dem großen Raffaelischen Bilde aber sorglich zugezogen, um einen ruhigen Hintergrund zu gewinnen, und vielleicht auch, daß die heiligen Augen des Christuskindes den Spuk nicht sähen. Zahlreiche Stühle wurden geordnet und ein Büfett durch Schirme versteckt. Die geladenen Freunde fanden sich zahlreich ein, und mit besonderer Auszeichnung ward die von ihrem Manne, dem Professor Schütz, begleitete Künstlerin empfangen; doch bat meine Mutter dringend, bei der beabsichtigten Vorstellung von jeder Mitwirkung ihrer Kinder absehen zu wollen. Zögernd und bedauernd gab Madame Hendel-Schütz nach.
Als die herrliche Gestalt das Podium bestieg, war alles Auge, und nun begannen die wunderbaren, so berühmt gewordenen Gewandwandlungen, an denen mein Vater sich aufrichtig ergötzte. Alle weiblichen Kostüme des klassischen Altertums, priesterliche und profane, vornehme und geringe, ägyptische, griechische, römische wechselten schnell vor unseren Augen in den Attitüden bekannter antiker Bildwerke, und immer war die Künstlerin höchst reizend. Jede Stellung, jeder Faltenwurf stand ihr wohl an, und selbst meine Mutter schien ihr mit wachsendem Interesse zuzusehen. Ich hing mit trunkenem Blicke an der götterartigen Erscheinung.
Da öffnete sich geräuschlos die Außentür, an der ich lehnte, so daß ich fast gefallen wäre, und herein trat, von weiten Reisen kommend, ein sehr lieber Freund unseres Hauses. Es war dies ein Privatgelehrter, namens Prztschstnowski, seines Zeichens Mineralog und Geolog und nebenbei ein großer Kunst- und Kinderfreund. Der Unaussprechlichkeit seines eigentlichen Namens wegen wurde er Prestanowski genannt, im vertraulichen Verkehr auch nur Prestano. Als er die große Gesellschaft und die befaltete Marionette auf dem Tritt sah, malte sich das dümmste Erstaunen auf seinem Gesicht; da ich ihm aber eine Erklärung zuflüstern wollte, hielt er mir den Mund zu und schlüpfte ungesehen hinter den Reihen der Zuschauer weg, sich im Büfett verbergend. Ich folgte leise nach und sagte ihm von der berühmten Person, die sich hier sehen lasse, aber er war nicht wegzubringen. Er blieb in seinem Versteck, fing an zu essen und behauptete, man sei am besten blind, wo so verrücktes Zeug vorgehe. Die Vorstellung nahm unterdessen ihren ungestörten Fortgang. Als Sibylle imitierte die Künstlerin ein bekanntes Bild meines Vaters. Dann streckte sie sich nieder auf die Estrade, und unter ihren weiten Schleiern schienen die mächtigen Glieder einer Löwin zu schwellen: sie stellte eine Sphinx dar. Die Sphinx aber ward zur Jammergestalt einer büßenden Magdalena mit langem, aufgelöstem Haar, und diese erhob sich dann als Mater dolorosa, um sich endlich in eine heitere, strahlend schöne Himmelskönigin zu verklären. Ein Zuck und Ruck in den Gewändern, und die Verwandlung war stets vollständig vollbracht.
Gleich beim Eintritt hatte Madame Hendel-Schütz gefragt, warum das herrliche Marienbild verhangen sei, und nun, indem sie sich selbst zur Himmelskönigin wandelte, wußte sie ihre Drapierung so zu werfen – oder war es Zufall? – daß sie den Vorhang auseinander trieb und das hohe, stille, schneeweiße Gesicht der Raffaelischen Maria über dem ihrigen hinwegschaute wie der Mond aus Wolken über einem Küchenfeuer. Das Raffaelische Gesicht war nur fingiert, das andere wirklich und wirklich schön – doch aber war dies etwas, was man sehen mußte, um sich des Unterschiedes zwischen Wahrheit und Manier recht vollbewußt zu werden. Ich begriff jetzt plötzlich etwas von dem Zorn des Trefflichen, der hinter dem Schirm saß, und selbst Professor Schütz schien so gestört, daß er herbeischlich und hinter dem Rücken seiner Frau den Vorhang leise wieder zuzog.
Nun aber geschah das Überraschendste. Die Züge der Aktrice verdunkelten sich, ihr Auge stierte, ihr Haar geriet in Unordnung, die schwereren Gewänder fielen ihr vom Leibe, und in wüstem, liederlichem Aufzug schien sie heißen Gewissenskampf zu kämpfen. Sie kniete nieder, wollte beten, aber der Himmel war verschlossen, die Hölle siegte. Da plötzlich schoß sie wie ein Lämmergeier herab auf meine kleine Schwester, packte sie, riß sie mit festem Griff vom Schoß der Mutter und sprang zurück mit ihrem Raube. In ihrem Gesichte malte sich Wahnsinn und Verzweiflung, ein Dolch blitzte auf, und das vor Schrecken halbtote Kind hing den Kopf zu unterst über dem nackten fleischigen Arm der Kindesmörderin. Das alles war das Werk von ein paar Augenblicken und diese Darstellung vielleicht die glänzendste und beste; aber meiner Mutter war's doch außer allem Spaße. Erschrocken sprang sie auf und nahm ihr Kind sanft aus den Händen der Furie zurück.
Mit solchem Knalleffekte war die Schaustellung beendet, es ward ein Butterbrot gegeben, und Prestano ging zur freudigsten Überraschung seiner Freunde ungeschädigt an Leib und Seele hinter dem Schirm hervor.
Die Folge von diesen Vorgängen war natürlich, daß ich und mein Bruder alles nachmachten. Wir übten uns in Gebärdung und Drapierung und waren bald imstande, unseren Freunden eine Vorstellung zu geben, an welcher selbst Prestano nichts auszusetzen hatte. Madonnen und Magdalenen ließen wir weg, die Sphinx aber gelang nicht übel, und ganz vortrefflich war mein dicker Bruder als Sibylle. Plötzlich sprang er jedoch aus seinen Schleiern, fuhr sich mit allen zehn Fingern durch die Haare, und mittelst eines räuberischen Sprunges der Schwester, die als kleinste Zuschauerin voransaß, die Puppe Salli entreißend, übertraf er sich selbst als Kindesmörderin. Ich glaube nicht, daß die Kleine bei dieser Szene weniger empfand als vordem ihre Mutter; auch schalt sie den Bruder laut und ernstlich, besonders weil er in der Tat der Puppe eins versetzt hatte.