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Der regelmäßige Pulsschlag jenes Junggesellenlebens mit dem Vater ward meinerseits durch eine Exkursion ins Thüringer Land unterbrochen. Die Reise ging nach Hummelshain. Was mich dazu veranlaßt, habe ich vergessen, wie ich mich denn überhaupt gar keines Anfangs dieser Sache mehr zu entsinnen weiß, desto lebhafter freilich der mancherlei eindrücklichen Begebenheiten ihres Fortgangs.
Die erste Erinnerung findet mich bereits in der Postkutsche auf dem Wege zwischen Leipzig und Altenburg. Der sechssitzige Wagen war nur schwach besetzt: außer mir zwei Juden und ein junges Mädchen. Die beiden ersten, gesprächige und anscheinend wohlhabende Handelsleute, hätte Falstaff schwerlich unterlassen, trotz ihrer Ringe, Uhrketten und gewaltigen Vatermörder einem Zwillingspaar von Pavianen zu vergleichen. Das junge Mädchen schien mir auch kein Engel. Ziemlich finster und etwas pockennarbig, saß sie mir gegenüber in der Ecke, hielt ihr Bündelchen auf dem Schoße und nahm nicht den geringsten Anteil am Gespräche. Trotz ihrer sauberen Kleidung hielt ich sie für irgendeine dienstbare Person und beachtete sie wenig.
Desto größere Aufmerksamkeit aber schenkte ihr der neben ihr sitzende Orientale, welcher durch die abschreckende Kälte, die sie ihm entgegensetzte, nichts weniger als entmutigt schien. Er wandte kaum den Blick von ihr und war ununterbrochen bemüht, sie ins Gespräch zu ziehen, ohne jedoch mehr aus ihr herauszubringen als ein fast widerwilliges »Ja« oder »Nein«. Immer zudringlicher ward der Jude und rückte ihr mit hereinbrechender Dämmerung so nahe, daß seine Ecke völlig frei ward.
Die damaligen Postwagen saßen auf der Achse, die Wege waren nicht zum besten, und es gab daher bisweilen Stöße, daß die Passagiere, von ihren Sitzen fliegend, gegeneinanderprallten. Eine derartige momentane Verwirrung benutzte jener, seinen Arm um die erschrockene Nachbarin zu schlingen, und versichernd, daß sie hier weniger von Stößen leiden würde, versuchte er sie auf seinen Schoß zu ziehen. Da sie sich jedoch mit Entrüstung sträubte, legte ich mich ins Mittel und bot ihr einen Platzwechsel an, der sogleich vollzogen wurde. So saß sie nun in meiner Ecke, ich beim Juden.
Der fuhr auf: ob das mein Platz sei? Ich sagte: »Ja!« und überdem sei ich entschlossen, von jetzt an in anständiger Gesellschaft zu reisen. Der Lümmel murmelte noch etwas in den Bart, und die Unterhaltung erlitt eine kleine Unterbrechung. Bald fingen jedoch die beiden sich jetzt gegenübersitzenden Landsleute untereinander ein halblautes Gespräch »von's Geschäft« an, während meine Schutzbefohlene sich in ihr Tuch gewickelt hatte und zu schlafen schien, ich aber meinen Gedanken Audienz erteilte. Diese Gedanken waren von der angenehmsten Art: sollte ich doch morgen mittag schon in Hummelshain eintreten, die teueren Verwandten ans Herz zu schließen. Es bemächtigte sich meiner eine so freudige Unruhe, daß ich am liebsten aus dem Wagen gesprungen wäre, um nebenherzutraben.
Es war schon dunkle Nacht, als wir abends 9 Uhr in Altenburg anlangten, wo ich zu meinem Schrecken erfuhr, daß die Post hier zwölf Stunden liegen bliebe – ein unerträglicher Gedanke! Der sehr gefällige Wagenmeister erbot sich zwar, mich nach einem, wie er sagte, sehr anständigen und ebenso wohlfeilen Gasthause zu führen, dessen Wirt sein Schwager sei, und wen er empfehle, der hätte es dort so gut, wie's einer haben könne. Allein meine Ungeduld, nach Hummelshain zu kommen, war stärker als diese Verlockungen, und ich erkundigte mich nach dem Ronneburger Wege, um auf der Stelle zu Fuße abzuwandern. Natürlich widerriet mir dies der freundliche Schwager des Wirtes. Der Weg sei weit, bemerkte er, bei Nacht leicht zu verfehlen und überdem nicht sicher wegen eines jüngst von der Leuchtenburg entsprungenen Briganten. Ich beharrte indessen auf meinem Entschluß, dankte jenem für seine Teilnahme und schenkte ihm ein Trinkgeld, womit er sich entfernte.
Die Juden hatten sich verlaufen, das junge Mädchen aber mit ihrem Bündelchen anscheinend wartend dagestanden. Jetzt, da wir allein waren, trat sie mich an: »Würden Sie mich denn mitnehmen?« fragte sie.
»Wohin denn?«
»O, nur bis Ronneburg, wo ich zu Hause bin.«
Ich fiel aus den Wolken und sagte was von weiten Wegen wie von möglichem Irregehen und Angefallenwerden; aber die Kleine ließ sich nicht irremachen. Sie erwiderte mir, daß an der Räubergeschichte mit dem Entsprungenen kein wahres Wort sei und ebensowenig an eine Schwierigkeit zu denken, den Weg zu finden. Sie kenne diesen genau, sagte sie, und werde meine Führerin sein. Wenn sie freilich gewußt hätte, daß diese Post hier liegen bleiben würde, so hätte sie sich anders eingerichtet; nun aber habe sie Scheu, allein in einem unbekannten Gasthause zu nächtigen, was auch sonst nicht ginge.
Indem die Reisende so sprach, schien sie mir ganz verwandelt: ihre an sich nicht schönen Gesichtszüge belebten sich auf pikante Weise, und die Stimme fiel so angenehm ins Ohr, daß ich mich unter allen Umständen für sie interessiert hätte. Das Zutrauen, das sie mir schenkte, bestach mich vollends, und so gewährte ich mit Freuden, was ich ihr doch nicht abschlagen durfte, selbst wenn sie mir mißfallen hätte. Wir kamen überein, gleich aufzubrechen; um aber das Nachsehen des Postpersonals zu vermeiden, ging meine Reisegefährtin allein voraus, als wolle sie ins Gasthaus.
»Wer war denn das Mamsellchen?« fragte mich der Wagenmeister, als ich mein Bier bezahlte. Ich wußte es nicht und hatte mich selbst noch nicht danach gefragt. Auch schien es mir fürs erste auszureichen, daß sie ein nettes Mädchen war und mir gefiel. Ich freute mich darauf, mit ihr zu wandern, und da ich sie, als ich das Haus verlassen, nicht gleich sah, besorgte ich schon, es könne ihr leid geworden und sie mir entwischt sein.
Aber nein! Da stand sie ja am Bäckerladen, wo sie sich ein Brötchen eingehandelt, und empfing mich mit heller Freude. Nun solle ich sehen, rief sie, wie sie marschieren könne, und schlug einen Schritt ein, den ich sogleich zu mäßigen suchte. »Langsam aus dem Stalle«, sagte ich, sei die erste Regel für jede weitere Entfernung und »Eile mit Weile« das beste Beförderungsmittel.
Da meine Begleiterin Bescheid wußte, kamen wir ohne Frage zum richtigen Tore hinaus, wo sie vorerst ihr Brötchen aus der Tasche zog, von dem sie mir die Hälfte aufdrang. Auch wäre es jetzt wohl angebracht gewesen, wenn wir uns endlich einander vorgestellt hätten; doch unterblieb dies wenigstens der Form nach, und nur ganz allgemach und bruchweise löste sich das gegenseitige Inkognito. Ich erfuhr gelegentlich, daß der Vater meiner Domina Witwer und, wenn ich nicht irre, Pastor oder sonst was Gutes in Ronneburg sei, wie auch, daß sie selbst aus irgendeinem Grunde nach Leipzig fahren mußte, wo sie Verwandte hatte. Aber über ein paar Tage hatte sie nicht bleiben können, denn sie war zu Hause nötig; der Vater konnte nicht hin ohne sie. Bei der Art, wie dergleichen Mitteilungen gemacht wurden, gefiel mir das Mädchen immer besser. Ihre Ausdrucksweise war fein und heiter, ihr Interesse stets angeregt und ihr Benehmen mädchenhaft. So zutraulich sie war, beobachtete sie anderseits doch alle Zurückhaltung, welche die Umstände erheischten. Sie schlug beharrlich meinen Arm aus, und selbst ihr Bündelchen, das ich so gern getragen hätte, war nicht zu erlangen. Ganz frei und selbständig schritt sie neben mir hin, die Gegenstände der Unterhaltung mit sanguinischer Leichtigkeit wechselnd.
Es war eine schimmernde Sommernacht, und wir amüsierten uns, die Sterne zu benennen, die über uns funkelten. Die Pfarrerstochter wußte besseren Bescheid darin als ich, der ich bei Roller mehr auf die Winterhalbe einstudiert war und mich daher nur kümmerlich zurechtfinden konnte. Sie zeigte mir die Leier, den Schwan, die Krone, die Andromeda, den Perseus und andere berühmte Sternbilder, examinierte mich dann und hielt darauf, daß ich's behielte.
Ich glaube, daß niemand, der nicht gerade Astronom ist, die Sterne lange ansehen kann, ohne an die Ewigkeit zu denken. Daß wir beide in derselben auch einstmalen unser liebliches Erbteil finden würden, daran mögen wir nicht im mindesten gezweifelt haben, wenigstens kamen wir überein, daß wir nach unserem Tode dort oben in jener seligen Lichtwelt wohnen würden. Hierbei gedachte meine Gefährtin ihrer verstorbenen Mutter und weinte etwas. Dann aber fragte sie mich plötzlich wieder ganz heiter, welchen Stern ich mir zum Wohnort wählen würde, wenn ich dürfte. Ich erwiderte, sie habe ja gesehen, wie wenig ich Bescheid wisse; doch hätte ich eine kleine Vorliebe für die Kassiopeja, weil sie wie ein W aussähe, denn ich hieße Wilhelm.
Sie lachte und sagte, aus ähnlichem Grunde könne ich mich auch in den Wassermann oder Widder wünschen, weil sie mit W anfingen. Sie werde aber künftig bei der Kassiopeja meiner denken.
Um an Höflichkeit nicht zurückzustehen, ersuchte ich sie, mir gleichfalls ein kleines Andenken am Himmel anzuweisen. Sie sagte aber, sie wisse keins, und es wäre ihr einerlei, in welchen Stern sie käme, wenn es nur recht hell und gut da sei.
So koseten wir und hatten Zeit dazu, denn es ist ein weiter Weg von Altenburg nach Ronneburg. Wir wanderten die ganze Nacht, die mir in dieser niedlichen Gesellschaft wie ein Morgentraum verging. Von den Besorgnissen des Wagenmeisters war nichts in Erfüllung gegangen, denn weder hatten wir uns verirrt, noch waren wir durch jenen Entsprungenen beunruhigt worden, den meine Freundin als eine bloße Legende verlachte, welche in dieser Gegend täglich neu aufgelegt werde. Etwa bei Sonnenaufgang erreichten wir Ronneburg.
Als ich mich jetzt erkundigte, welchen Weg ich durch den Ort zu nehmen habe, drang meine Begleiterin aufs liebenswürdigste in mich, es mir für heute in ihrem väterlichen Hause bequem zu machen. Es sei ja ganz unmöglich, nach solchem Marsche noch nach Hummelshain zu gehen, und wollte ich's versuchen, so würde ich in den Wäldern liegen bleiben wie ein forcierter Hirsch. Ja, ganz gewiß, das würde ich. Auch müsse ich doch ihren Vater kennen lernen, der mir für meine Begleitung gewiß gern danken wolle.
Der Vorschlag wäre gut genug gewesen, doch mochte ich der Meinung sein, daß man einen wildfremden Vater zu dieser Stunde nicht aus dem Bette holen dürfe, um seinen Dank zu hören. Zudem trieb mich je länger je mehr die peinlichste Ungeduld, nach Hummelshain zu kommen. Ich lehnte also ab, beteuernd, ich dürfe mich nicht aufhalten, und jene beteuerte, sie dürfe mich nicht lassen, und wenigstens eine Tasse Kaffee müsse ich bei ihr trinken. Indem wir noch so stritten, machte meine Gefährtin vor einer Haustüre Halt und zog die Klingel. Das war der entscheidende Moment. Ich ergriff ihre Hand, bat sie, meiner freundlich zu gedenken – und fort war ich.
»Der Weg geht links,« rief sie mir nach, »Sie kehren im Löwen ein!« Und links um die Ecke schwenkend, grüßt' ich noch einmal zurück.
Da lag der Löwe im Glanz des Morgenlichtes und zeigte schon einiges Leben. Eine Magd öffnete die Fenster der Gaststube, und auf dem Hausflure ward ein Pferd angeschirrt. Ich aber ging vorbei, denn ich dachte, man würde mich dort suchen.
Ronneburg lag bald im Rücken, und ich war frank und frei; als ich mich aber dessen freuen wollte, gelang es nicht. Warum hatte ich denn dem guten Mädchen nicht den Gefallen tun können, ihren Vater zu begrüßen, in dessen Augen das kleine Abenteuer seiner Tochter auf solche Weise die schicklichste Lösung gefunden hätte? Ausruhen mußte ich ja doch irgendwo, konnte unmöglich bis Hummelshain so fortrennen wie ein toller Hund oder von Furien gepeitschter Ödipus. Ich hätte, wie mir angedeutet worden, ja erst im Löwen einkehren, schickliche Zeit abwarten und dann meinen Besuch nach Belieben kürzen mögen. Das alles, und daß ich grob erscheinen müsse und meine Sache herzlich schlecht gemacht habe, fiel mir jetzt nachträglich ein, da ich mit solcher Weisheit nichts mehr anfangen konnte. Ich suchte sie mir daher auch wieder aus dem Sinn zu schlagen und begann einen fröhlichen Marsch zu pfeifen, auf den Text: »Nach Hummelshain, nach Hummelshain.«
Zu meiner, weiteren Erheiterung konnte freilich der Umstand wenig beitragen, daß mich ein Kerl einholte, der sich mir ohne weiteres anschloß, versichernd, es marschiere sich noch einmal so gut in Gesellschaft. Ich war entschieden anderer Ansicht, denn dieser Gesellschafter war weder ein zierliches Mädchen, wie die Ronneburger Pfarrerstochter, noch überhaupt ein erträgliches Wesen; vielmehr gehörte er zu der unbequemen Klasse inquisitorischer Peiniger, deren Unterhaltung sich wesentlich um die polizeilichen Fragen dreht: woher man kommt, wohin man geht, wie man heißt, was man ist und dergleichen Geheimnisse mehr. Ihn wieder loszuwerden, erlaubte ich mir die deutlichsten Manöver und Andeutungen, doch war er taub für alles und jedenfalls ein Mann, mit dem man sich nur durch die Lübecker Blume hätte verständigen können.
Mein guter Vater erzählte nämlich gern die folgende Geschichte. Zu Lübeck hatte sich ein Fremder in eine Schenke verlaufen, die sonst nur von Matrosen und anderem Seevolk besucht zu werden pflegte. Harmlos grüßend war er eingetreten; doch kaum hatte er sein Glas Wacholder verlangt, als auch die anwesenden Stammgäste schon die Köpfe zusammensteckten und augenblicklich einig waren, den Eindringling so abzubläuen, daß er das Wiederkommen vergäße. Aber ein alter Schiffszimmermann bedeutete sie: »Nicht gleich so grob, Kinder! Ich will es dem Menschen einmal erst durch die Blume zu verstehen geben.« Darauf erhob er sich, spuckte in die Hände und brüllte jenen an: »Was will die Landratte hier? Eppes spionieren? He? – Den Augenblick, verfluchter Schweinhund, pack' Er sich zum Teufel, oder ich zerbreche Ihm alle Knochen, die Er im Leibe hat.« Der Fremde war wie weggeblasen. Der Alte aber sagte: »Nun seht, ihr Kinder, daß man heutzutage mit etwas Höflichkeit auch noch zustande kommt. Das laßt euch zur Lehre dienen.« Diese Blumensprache hätte mein Begleiter vielleicht auch verstanden; leider konnte ich ihm aber die richtige Räson dazu, die Schiffszimmermannsfaust, nicht zeigen. Ich wußte kein Mittel, ihn abzuschütteln, und mußte mich daher in den Gedanken schicken, den ganzen Tag mit ihm behaftet zu bleiben, denn er wollte nach Kahla und hatte einen Weg mit mir bis Hummelshain. So trabten wir denn ein gut Stück Weges nebeneinander hin, bis mir der Zufall dennoch einen Ausweg zeigte.
Der einzige Trost, den jener Überlästige mir gegen sich selbst gewährte, war die Versicherung, daß er Bescheid wisse. Als wir nun aber an eine Stelle kamen, wo der Weg sich wie eine Gabel auseinanderzog, zeigte es sich, daß der Führer ebenso dumm war als der Geführte. Wir machten Halt und überlegten, doch es war kein Grund vorhanden, den einen Weg dem anderen vorzuziehen. Inzwischen schien mein Führer in der Schule was gelernt zu haben. Er schnallte seinen Tornister ab, und nachdem er unter allerlei Gepäck ein Schnupftuch von Kattun hervorgezogen, streckte er sich ins Heidekraut und breitete jenes vor sich aus. Es zeigte sich, daß eine Karte von Deutschland darauf gedruckt war, die mein Geograph jedoch in die zufällige Richtung unseres Weges, Nord gegen Süd, gelegt hatte. Ich erlaubte mir daher, ihm bemerklich zu machen, er müsse seine Karte wenigstens nach der Himmelsgegend wenden, sonst wiese sie uns nach Ronneburg zurück.
»Wollen Sie mich etwa von die Erdkunde belehren?« erwiderte er, stieß mit dem Daumen in sein Tuch und schwur: »Wenn hier nicht Kahla liegt, soll mich der Teufel holen; folglich wird links geschwenkt. Verstanden?«
Er hätte ebensogut sagen können: folglich wird rechts geschwenkt! und dann wäre ich auf jede Gefahr hin links gegangen. Ich sagte ihm, ich dächte anders, wünschte ihm glückliche Reise, und ehe er noch sein gelehrtes Tuch wieder zusammengepackt hatte, zog ich rechts ab.
»Nu! Nu!« rief er mir nach, »der Musje wird schon noch an mich denken!« Und daran hatte er nicht unrecht. War er vielleicht von Anfang an gar nicht im Zweifel gewesen und hatte sich mit seiner Landkarte nur ein Ansehen geben wollen? So viel ist sicher, daß ich falsch ging.
Fürs erste jubelte ich zwar auf. »Beatus qui solus,« sagen die Pastoren, wenn sie ohne Kollegen sind, und diese Seligkeit verstand ich jetzt vollkommen. Singend und pfeifend schritt ich wacker aus, in der Hoffnung, bald auf ein Dorf, ein Haus oder einen Menschen zu stoßen, um mich zu orientieren; ein Stündchen umgelaufen, sollte mich nicht dauern. Als aber Stunde auf Stunde verging, die Sonne mir auf Kopf und Ranzen brannte, Hunger und Durst mich anfielen, die Füße schwer wurden und ich immer nichts als Wildnis sah, da schwand allgemach der Jubel, und ich fing an, besorgt zu werden. Doch machte ich damals eine wichtige Erfindung, die mir auf allen meinen späteren Fußreisen, wenn ich müde wurde, sehr zustatten kam. Ich marschierte nämlich im Dreivierteltakt, was wenigstens die Empfindung wesentlicher Beschleunigung gibt.
Endlich, es mochte Mittag vorüber sein, erreichte ich ein kleines Walddorf, an dessen hübschgelegener Schenke ein Bierzeichen aushing. Ich schwenkte ein, warf meinen Ranzen auf die Tafel, mich auf die Bank und forderte zu trinken. Das angezeigte Bier war freilich noch nicht ganz vollständig, eigentlich nur Malzbrühe. Es war im Hause gebraut und noch nicht fertig, da sowohl der Hopfenzusatz als die Gärung fehlten, doch war es naß und ging hinunter. Dazu ward Schwarzbrot aufgetragen und frischer Ziegenkäse, und das war alles, was dies Gasthaus leisten konnte. Für einen, der wie ich seit vierundzwanzig Stunden nur vom Fasten gelebt hatte, war's aber eine gute Mahlzeit; und da ich nun obendrein vom Wirt erfuhr, daß ich ganz recht gegangen – was diese Leute immer finden, wenn man nur ihre Kneipe nicht verfehlt hat – so war ich sehr zufrieden und streckte die Beine behaglich von mir. Mein gelehrter Begleiter von heute morgen mußte freilich sehr verirrt sein samt seinem Schnupftuch; aber das war seine Sache.
Etwas herabgestimmt ward ich indessen, als ich auf weitere Fragen hören mußte, daß es noch sechs gute Stunden sei bis Hummelshain, und der Wirt, obgleich er nicht zugeben wollte, daß ich verirrt sei, da man von hier aus ebensogut als von Ronneburg nach Hummelshain kommen könne, doch meinte, daß ich gerade nicht den nächsten Weg gegangen. Da war es denn aus mit der kurzen Rast: ich raffte mich auf, und trotz der brennenden Füße ging es wieder vorwärts im Dreivierteltakte über Berg und Tal, durch Wald und Flur, und überall war es zugetroffen, was der Wirt mir vom Wege gesagt hatte, nämlich, daß er einsam, lang und sehr beschwerlich sei. Nur das eine schien nicht zuzutreffen: daß dieser Weg nach Hummelshain führen sollte.
Schon warf die Sonne ihre längsten Schatten, und ich war so müde, daß ich mich kaum noch schleppen konnte – da, meinte ich, wäre es endlich an der Zeit gewesen, anzukommen und sich in den Armen liebender Verwandten auszupflegen. Aber trotz aller Notwendigkeit und alles Weiterschreitens wollte sich von der bekannten Hummelshainer Gegend doch nichts zeigen, noch irgend etwas anderes, woran ich mich hätte zurechtfragen oder -finden können. Da ging mir denn ein Licht auf über meine Sünden, und ich bereute alles miteinander: daß ich in Altenburg die Post, in Ronneburg das Mädchen und in der Wildnis den Schnupftuchmann verlassen hatte, ja es hätte mir fast leid tun können, daß ich überhaupt die Reise angetreten.
Aber – ist das nicht ein liebes Männlein, was mir da entgegenkommt? Wahrhaftig, das erste zweibeinige Wesen, das mir heute begegnet, seit meiner Trennung vom Geographen. Das Ding kommt immer näher! Zwar sieht's einer rindsledernen Mumie so ähnlich wie ein Ei dem anderen – in meinen Augen ist's aber doch ein Engel Gottes, der Rettung bringt.
»Gott grüße, Vater! Wie weit ist's noch nach Hummelshain?«
Das Männlein machte Halt: »Nach Hummelshain? Na, wo kommt Er denn her?«
»Das ist egal, Väterchen; aber ich will nach Hummelshain. Seid so gut und sagt mir, wie weit ich noch habe.«
Der sah mich grinsend an und sagte: »Je nun, mit zwei gesunden Füßen kann's einer in sechs Stunden allenfalls erlaufen.«
Das war ein Donnerschlag. Sechs Stunden! Gerade so weit war's vor sechs Stunden auch gewesen, und jetzt waren Zeit und Kraft verbraucht.
Ich fragte nun weiter, ob nicht vielleicht ein anderer Ort in der Nähe sei. Aber der Kerl wandte mir den Rücken und ging seines Weges, brummend, ich würde das wohl selbst am besten wissen. Es war nichts weiter mit ihm anzufangen, und blieb nur übrig, von neuem auf den müden Beinen Platz zu nehmen und sie zum Weiterhinken anzuspornen. Fiel ich nicht um, so schloß ich, müsse der Weg mich doch irgendwohin führen, und wenn es denn auch nicht Hummelshain wäre, so würde es jede Schütte Stroh unter Dach und Fache auch tun. Ich war in meinen Wünschen so bescheiden geworden, daß ich nur noch nach Ruhe verlangte: alles andere sollte mir gleich sein.
Aber siehe da! Keine tausend Schritte, so lichtete sich die Holzung, und in nächster Nähe vor mir zeigte sich ein Schloß mit einer Gruppe Häuser. Hummelshain war's freilich nicht, wahrscheinlich Lichtenau, aber immerhin ein sehr erwünschtes Obdach für die Nacht. Ich beflügelte meine Schritte, so gut ich konnte, indem ich jetzt sechs Viertel zählte, und trat bald in eine freundliche Gaststube ein, wo ich zu meiner Überraschung hörte, daß Hummelshain ganz nahe, etwa nur eine kleine Meile von hier sei. Ich werde clairvoyant
Ungewißheit und Zweifel ermüden mehr als wirkliche Strapazen. Da ich nun wußte, wo ich war, und ein nahes Ziel vor Augen hatte, kehrten auch die Kräfte wieder, und ich wollte auf der Stelle weiter. Doch riet der Wirt, einen Boten mitzunehmen, wenigstens bis zu einer gewissen Stelle, von wo aus man nicht mehr irren könne, und versprach mir, einen aufzutreiben. Bis er erschien, erquickte ich mich mit Butterbrot und Bier; dann brachen wir selbander auf. Mein Führer war ein langer, schlotteriger Kerl mit herabhängendem Hosenboden und versoffenem Antlitz. Vor allen Dingen hatte er einen Schnaps auf den Weg verlangt, den ich ihm auch angedeihen ließ, indem ich mir zugleich selbst ein Glas davon in jeden Stiefel goß – ein herrliches Mittel, um ganz erschöpfte Kräfte noch für kurze Zeit zu spannen.
Durch die Rast im Wirtshaus, den Aquavit im Stiefel und die freudige Aussicht, nun bald und sicher bei Oheim und Muhme einzutreffen, war ich wie neu geboren. Ich schritt wieder rüstig in den dunkelnden Wald hinein und amüsierte mich an den Geschichten meines Führers, der durch das letzte Schnäpschen, das schon eine gute Grundlage gefunden haben mochte, ganz begeistert war. Namentlich erinnerte er sich der Kriegszeiten und seiner Fahrten mit den Russen, deren Charakter er sehr lobte. Ganze Kerle wären es gewesen, das müsse er sagen, und hätten gewußt, wo Barthel Most holt; aber die Wege hier im Holze hätten sie doch nicht gewußt. Da hätten sie ihn denn auf ein Pferd gesetzt, ihm einen Sarraß angehangen und sich von ihm anführen lassen. Wie ein General hätte er sich ausgenommen und manches Kopfstück verdient, denn das Geld hätten sie sich nicht dauern lassen.
Da ich mich nun verlauten ließ, daß ich auch so etwas wie ein Russe sei, fiel mir der Schlingel plötzlich um den Hals. »Landsmann!« schrie er, »nun laufe ich mit dir hin bis Hummelshain, und sollte ich auch die ganze Grummeternte darum verlieren!«
Ich erwiderte, wenn er mich etwa Sie nennen wollte, so nähme ich's auch nicht übel.
Ich wollte ihn wohl nicht anerkennen?
»Als Duzbruder nicht,« sagte ich; sonst wollten wir ja gute Landsleute und Freunde bleiben.
»Ja!« seufzte jener, »die Art kann einer schon gebrauchen. Sehen Sie, Herr Landsmann! Ich habe Malheur gehabt, wie man zu sagen pflegt: ein bißchen Holz gelesen – kann sein, daß was Grünes mit untergelaufen ist – und dafür eine Tracht Stockprügel auf den nächsten Freitag. Die könnten Sie mir abnehmen, Herr Baron!«
Erklärend setzte er hinzu, weil der Herr Oberforstmeister doch meine Freundschaft wären, so könnte ich vielleicht ein gutes Werk tun für einen unglücklichen Familienvater. Ich versprach, mich für ihn zu verwenden.
Unter solchen Reden waren wir durch dick und dünn auf schmalem Fußweg an einen Durchhau gelangt, der sich in schnurgerader Richtung weithin durch den Wald zog. Hier machte der Landsmann Halt, erklärend, dies sei der Punkt, bis zu welchem er sich verdungen habe. Ich solle nur immer auf der Blöße bleiben, so würde ich in einer kleinen halben Stunde an den Hetzgarten anrennen.
Ich erwiderte, er habe mir ja versprochen, mich bis Hummelshain zu bringen! Aber er verschwor sich hoch und teuer, daß er für seinen Herrn Landsmann schon ein übriges getan, jetzt aber keine Zeit mehr habe. Ich bot doppelten Lohn. Umsonst, er war nicht zu bewegen. Fehlen, sagte er, könne kein Teufel in solcher Rinne von Durchhau, auch nicht der Dümmste! Er aber müsse retour, käme morgen früh sonst nicht zu rechter Zeit ins Grummet.
Wahrscheinlich hatte dieser Russe sich in seiner Branntweinbegeisterung selbst verlaufen, und es mochte ihm der akkordierte Lohn daher viel lieber sein als gar nichts. Ich mußte ihn auszahlen und laufen lassen, wenn er es nicht vorzog, unter dem nächsten Busche auszuschlafen. Nichtsdestoweniger legte ich später die versprochene Fürbitte noch für ihn ein, wiewohl umsonst, denn er war ein liederlicher Strick und höchst verrufener Holzdieb, dem nach Ansicht vernünftiger Leute nichts nachteiliger gewesen wäre als Nachsicht.
Ich war also nun wieder einmal allein im wilden Walde; aber das schöne Sprichwort: »Beatus qui solus«, das mir heute morgen so verständlich gewesen, leuchtete mir jetzt minder ein. Zweifelnd, ob jener zweideutige Kerl mich auch recht gewiesen, setzte ich meinen Marsch in der angegebenen Richtung fort; aber es verging ein halbes Stündchen nach dem anderen, und der ersehnte Hetzgarten wollte immer noch nicht erscheinen. Dazu war die Branntweinkraft in den Stiefeln verdampft, die Füße waren wund und über die Maßen schmerzhaft, und der Ranzen auf dem Rücken lastete wie ein Gebirge. Freilich blinkten auch heute wieder die freundlichen Sterne auf mich nieder wie gestern abend, aber ich beachtete sie nicht: es war mir gleichgültig, wie sie hießen, und ob das Ronneburger Mädchen ihren Liebling darunter hatte oder nicht. Ich hatte nur einen einzigen Gedanken, nämlich, daß der Hetzgarten erscheinen möchte, ehe ich, wie jene mir vorausgesagt, am Boden läge.
Dieser Wunsch ging niemals in Erfüllung. Der Durchhau, in welchem ich bis dahin fortgekrochen, nahm zwar sein Ende, aber nicht der Wald. Ich war in einen Sack geraten, ohne Spur von Ausweg. Nach solchem suchend, schleppte ich mich vergebens am Dickicht hin – doch überall die gleichen Stämme, das gleiche Heidekraut, die gleiche Finsternis.
Was sollte nun werden? Wäre ich bei Kräften gewesen, so hätte ich mich vielleicht nach dem letztverlassenen Dorfe zurückgefunden. Aber seit vierundzwanzig Stunden fast ununterbrochen auf den Füßen, ohne Schlaf und ordentliche Nahrung, war ich wie ein verlöschendes Licht. Es war mir unmöglich, mich länger aufrechtzuhalten, und ich beschloß daher oder glaubte vielmehr, mich darein ergeben zu müssen, die Nacht da zuzubringen, wo ich mich befand. Dann aber auch zurück, und zwar weiter als bis zur letzten Schenke! Ich war in miserabler Stimmung, zwar resigniert, aber keineswegs ergeben in Gottes Fügung. Es war ein böser Trotz der Schwäche, der sich meiner bemächtigt hatte und mich mit Bitterkeit erfüllte. Was habe ich für einen Beruf, so dachte ich, mit Aufopferung meines Lebens dies alberne Hummelshain zu suchen, auf das sich ohne Zweifel der Teufel gesetzt hat, es zu verdecken? Möge es denn unter seinen angenehmen Schleiern bleiben, wo es bleibt: ich wenigstens werde es nicht weiter suchen. Soll ich hier sterben, muß ich's leiden; lebe ich aber morgen noch und kann mich rühren, so gehe ich geradeswegs zurück nach Dresden, und Ziegesars werden dann zu spät erfahren, welche Freude ihnen entgangen ist.
Mein Gepäck abstreifend, kroch ich unter die weit ausgestreckten Fächer einer alten Fichte, zog den Ranzen unter den Kopf und, nichts fürchtend, nichts hoffend und nichts denkend, doch im Genusse einer tiefen, wohltuenden Ruhe, lag ich wie ein Toter da. Auch möchte ein solcher aus mir geworden sein, denn ich war heiß vom Gehen, leicht gekleidet und ohne Mantel – aber jetzt trug sich etwas so Außerordentliches zu, daß ich noch heute eine genügende Erklärung nicht zu finden weiß.
Einer totenähnlichen Ruhe hingegeben, wie man sie etwa nach eingetretener Ohnmacht empfindet, mochte ich etwa zehn Minuten lang dagelegen haben, als eine eigentümliche Veränderung mit mir vorging. Obgleich ich nicht geschlafen, hatte ich dennoch die süße Empfindung allmählichen Erwachens, und es war, als würde mir ein Schleier abgezogen, der mir bis dahin längst Bekanntes verborgen hatte. Die nächtlichen, mich zunächst umgebenden Gegenstände erschienen mir plötzlich so heimisch, wie sie es den Kreuzschnäbeln und Finken sein mochten, die hier genistet hatten. Ich war kein Fremder mehr in dieser Wildnis; ich kannte alles, die alten Wurzeln an meiner Seite, ja ganz speziell die einzelnen Grashalme und Steine, zwischen denen ich lagerte. Und weiterhin der dunkle Wacholder und jener tot herabhängende Ast voll Moos und Flechten – ich wußte, daß das alles da sein mußte.
Daß ich an dieser Stelle vielleicht schon als Kind gewesen, ist nicht unmöglich, doch entsann ich mich dessen nicht; auch würde diese Annahme weder die genaue Kenntnis alles einzelnen noch überhaupt meinen Zustand erklären, der ein durchaus ungewöhnlicher und abnormer war. Vorübergehende Momente hat wohl jeder, daß ihm eine neue Situation als wohlbekannt und längst erlebt erscheint; so ähnlich war's mit mir, nur daß die Illusion eine längere Dauer hatte. Natürlich wußte ich jetzt auch, wohin ich mich zu wenden hatte, um nach Hummelshain zu kommen, und fühlte Kraft und Mut, es noch heute zu erreichen.
Erquickt und neu belebt erhob ich mich wie nach einem guten Schlafe, griff nach dem Ranzen und setzte mich wieder in Bewegung. Weg und Steg waren freilich jetzt ebensowenig vorhanden als früher, auch sah ich mich gar nicht danach um. Quer ging's durchs Holz von einem bekannten Ding zum andern, und immer wußte ich, daß ich recht ging. Die wunden Füße nicht beachtend, durchschritt ich den finstern, weglosen Wald mit solcher Sicherheit, als wären es die wohlbekannten Räume der väterlichen Wohnung gewesen.
Wie lange ich so gewandert, weiß ich nicht, aber endlich brach der Wald ab, ich trat ins Freie, und ohne die geringste Überraschung sah ich die nächtlichen Umrisse des langersehnten Schlosses vor mir mit der Kirche und den anliegenden Gebäuden. Aber nicht, wie ich gesollt hätte, von der Altenburger Seite, sondern von der entgegengesetzten, auf dem Wege, der von Kahla kommt, gelangte ich in den Schloßhof. Die Verwandten, die eben im Begriff waren, sich schlafen zu legen, erschraken vor meinem geisterhaften Anblick und hörten mit Erstaunen den Bericht von meinen Abenteuern. Sie erquickten mich mit dem Besten, was sie hatten, und so aufgeregt war ich von Freude, daß ich schließlich mit Gewalt ins Bett getrieben werden mußte.
Mein Hummelshainer Leben begann mit einem Schläfchen, das 36 Stunden währte. Zwar wurde mir nachträglich berichtet, ich sei mittlerweile einmal geweckt worden und wie ein bewußtloser Schemen bei Tisch erschienen, doch war ich gleich nach der Mahlzeit wieder zu Bett gegangen und hatte von alledem nicht die geringste Erinnerung.
Nach so außerordentlicher Erquickung war's denn kein Wunder, daß Hummelshain mir im angenehmsten Rosenlicht erschien, zumal ich die erwünschte Gesellschaft vorfand. Der Quasi-Vetter Hermann, derzeit Primaner zu Kloster Roßleben, hatte wie alle Ferienschüler nicht nur die beste Laune, sondern sogar noch ein paar andere Klosterbrüder, von Wangenheim und von Scheliha, mitgebracht, denen auch nichts weniger abging als das Vermögen, ihr junges Leben zu genießen. Sogar unser alter bewährter Genosse von ehemals, Herr Hannibal Anteportas, derzeit wohlbestallter Page am Rudolstädter Höfchen, war auf Urlaub bei den Eltern und stets mit uns zusammen. Da ertönten denn die Hallen des alten Schlosses, in das man uns logiert, dessengleichen Hof und Garten von jugendlichem Frohsinn, starken Gesängen, wohlgemuten Reden und dem Klirren der Rapiere, die wir fleißig in Bewegung setzten; dazu ward zweimal täglich gebadet und demgemäß gegessen. Kurz, es war ein Ferienleben, wie es im Buche steht.
Endlich wurden jene schönen Tage noch durch eine Wanderung in die Umgegend beschlossen, welche ich mit Hermann allein, und zwar zum Zweck des Wiedersehens mit alten Freunden, Gönnern und Bekannten unternahm. Wir besuchten unter andern in Rudolstadt den genialen Schlachtenmaler Cotta, von dem ich schon früher berichtet, in Katzenhütte unseren ehemaligen Lehrer, den Pastor Bäring, in Jena Frommanns, Köthens und den Studenten Förster, bei dem ich abtrat, während Hermann allein nach Drakendorf vorausging, wo seine Eltern unser warteten.
Unter Försters Ägide sah ich von Stadt und Land so viel, als die kurze Zeit von ein paar Tagen gestatten wollte. Auch hospitierten wir bei einigen Professoren, unter denen mich FriesJakob Friedrich Fries aus Barby (1773 bis 1843), Professor der Philosophie und seit 1824 der Physik und Mathematik, der durch seine anthropologische Kritik der Vernunft und empirische Psychologie eine Zwischenstellung zwischen Kant und den nachkantischen Philosophen einzunehmen suchte, lehrte, daß die Vermittlung zwischen Wissen und Glauben in der Ahnung des Vollendeten im Unvollendbaren, also in der religiös-ästhetischen Betrachtung und Begeisterung liege. am meisten interessierte, den ich übrigens schon etwas kannte, da er bei gelegentlicher Durchreise durch Dresden unser Haus besucht hatte. Von der eigentümlichen Richtung dieses Mannes war des öfteren bei uns die Rede.
Fries war von Haus aus Herrnhuter und in Herrnhutischen Anschauungen großgezogen, wie sich denn auch in seinem ganzen Wesen und Gehaben das eigentümlich freundliche und milde Gepräge jener Gemeinde nicht verleugnete, die ihm zeitlebens teuer blieb. Ihre theologische Richtung hatte er freilich längst verlassen. Vor dem Lichte wissenschaftlichen Erkennens war ihm der anerzogene Kinderglaube wie Nebel vor der Morgensonne weggedampft, wenigstens in formeller Hinsicht, denn dem Wesen nach behauptete Fries ihn festzuhalten, und zwar nicht bloß mit dem Herzen, wie der geistverwandte Fachgenoß Jakobi, sondern auch begrifflich wie der spätere Hegel. Es waren ja nur die Tatsachen des Evangeliums, wie auch die Dogmen der Kirche, welche sich ihm zu unwesentlichen Bildern und Formeln der göttlichen Idee verkehrt hatten. Die letztere, als das Wesentliche, wollte er beibehalten, nur anders begründen, als es die Kirche tat. Was freilich von einer so abgezwiebelten Idee noch übrigbleiben konnte, mußte er am besten wissen, indessen glaubte er doch an diesem Reste das Christentum zu haben, das er von Herzen wert hielt. Er verkehrte daher auch gern mit gläubigen Christen, bei denen er sich allezeit zu Hause fühlte, wenn sie ihn nur in seiner Eigentümlichkeit gewähren ließen. Sogar nach Herrnhut zog ihn sein Herz des öfteren zurück, sich an den schönen Gottesdiensten der Gemeinde zu erbauen, an ihren Liebes- und Abendmahlen teilzunehmen.
Meinen lieben Vater setzte solche Richtung in einiges Erstaunen. Er konnte nicht begreifen, wo die Sache herkommen sollte, wenn die Ursache fehlte, und war der Ansicht, daß, wenn die heilige Geschichte wirklich geschehen sei, so sei sie wahr, und zwar nach Form und Inhalt: wo nicht, nach beiden Seiten falsch. Gegen solche Alternative mochten etwa die Äsopischen Fabeln ins Feld geführt werden, wie alle Mythen der alten Welt, obgleich sich in beiden auch nichts anderes als die profanste Erfahrungsweisheit offenbart. Aber es schien, daß Fries nicht rechten und jedem die Ansicht gönnen wollte, die ihn befriedigte, oder daß es sich ihm, wenigstens in unserem Hause, nur darum handle, den Vater von der Gleichheit ihrer gegenseitigen Glaubensrichtung zu überzeugen. Die Fassung mochte verschieden sein: der Edelstein blieb doch derselbe. Ob die Evangelisten die Idee, um die sich's handelte, in Geschichten, die Kirche in Dogmen und Gebräuchen, die Kunst in Bildern, die Philosophie endlich in Begriffen zu erfassen und darzustellen strebe, das tangiere oder verändere die Idee selbst nicht im geringsten, und ganz dasselbe, was mein Vater male, das sei auch das, was er, der Philosoph, im Hörsaal demonstriere. Es habe ein jeder seine eigene Sprache.
Von solchen Reden war mein Vater zwar nicht sonderlich erbaut gewesen und noch weniger die Mutter, doch sagte er dieser später: »Der Fries wird doch noch einmal Christ.« Er hielt den jedenfalls sehr liebenswürdigen Mann von Herzen wert.
Ich hörte Fries damals in Jena von der Würde männlichen Charakters reden, die ich denn auch sogleich in mir verspürte, und war nahezu entzückt von seinem Vortrag. Wie gut, dachte ich, haben es doch die Studenten! Es geht wahrhaftig nichts darüber, so überaus behaglich auf bequemer Bank zu sitzen, sich von geistvollen und gelehrten Männern bestens unterhalten und wie ein leeres Faß mit aller Weisheit füllen zu lassen. Von der schweren Not, die mancher hat, sein Faß nachher gehörig zu verspunden, wußte ich freilich nichts.
Aber noch einen weit berühmteren Mann, als Fries es war, ja den gefeiertsten in Deutschland, hätte ich damals sehen und auch reden hören können, wenn ich gewollt hätte, nämlich den Dichterkaiser Goethe, der sich zufällig in Jena aufhielt. Frommanns hatten mich recht eigens auf ihn eingeladen wie auf die größte Delikatesse, die man einem nicht ganz dummen Menschen vorsetzen konnte. Ich muß aber doch zu dumm gewesen sein, oder vielleicht war ich auch nur zu blöde, in Reisekleidern vor dem Minister zu erscheinen – kurz, ich entwich entsetzt nach Drakendorf, von wo ich mit der ganzen Ziegesarschen Familie nach Hummelshain zurückkam.
Mit jener Episode war mein Urlaub erschöpft, und ich rüstete zum Rückzug. Aber nicht wieder über Leipzig wollte ich gehen, sondern durchs Erzgebirge, und nicht etwa, weil diese Gegend ein besonderes Interesse für mich gehabt hätte, sondern nur um den Versuch zu machen, dort einen Mann aufzufinden, von dem neuerdings bei uns sehr viel die Rede gewesen war.
An den Loschwitzer Sonntagen hatte die Mutter uns ein Buch von Schubert vorgelesen, das unter dem Titel »Altes und Neues« allerlei erbauliche Züge aus dem Glaubensleben gottesfürchtiger Menschen mitteilte. Darin geschieht denn auch eines frommen Mannes aus dem Volke Erwähnung, seines Zeichens ein Leineweber, mit Namen Steffan, den Schubert persönlich kannte, da er in seiner Vaterstadt Hohenstein lebte. Dieser Mensch war alt und arm und krank. Er hatte somit alles, was man gewöhnlich am meisten scheut, und zwar in reichem Maße, denn sein Alter war beträchtlich, seine Armut bettelarm und seine Krankheit unheilbar. Nichtsdestoweniger war er ein glückseliger Mensch, und daß er das in Wahrheit sein konnte, machte ihn nicht weniger interessant, weil es ein Beleg für die beseligende Kraft des Christentums zu sein schien, das er bekannte.
Steffan hatte sich nach Schuberts Relation bis in ein vorgerücktes Alter als Junggesell verhalten – da starb sein Jugendfreund, ein anderer Weber und verheirateter Mann, und nahm ihm sterbend das Versprechen ab, für seine Hinterbliebenen zu sorgen. Um dem nachzukommen, heiratete Steffan die Witwe, deren Aussteuer nur in zwei kleinen Mädchen bestand, von denen das jüngste taubstumm war. Aber Steffan baute auf die Hilfe seines Gottes, die er denn auch bald, und zwar in ganz außerordentlicher Weise, nötig hatte und erfahren sollte. Der sonst kerngesunde Mann erkrankte, ward unausgesetzt von empfindlichen Schmerzen gepeinigt und endlich dergestalt gelähmt, daß er weder stehen noch gehen und daher das Bett nicht mehr verlassen konnte. Da war's denn aus mit der Weberei, und auch die Frau konnte nichts mehr verdienen, da sie weder den Mann noch die taubstumme Tochter aus den Augen lassen durfte. Die Familie schien dem Verderben preisgegeben.
Nun aber trat die wunderbarste Hilfe ein, von welcher Schubert in seinem Buche eine ganze Reihe auffallender Beispiele herzählt. Obgleich dem armen Kranken als Betriebskapital nichts anderes als die vierte Bitte geblieben war, so reichte diese doch zu aller Notdurft aus, denn es ward ihm stets zu rechter Zeit, und zwar meist von unbekannten Händen, das Nötigste ins Haus getragen. Es war zwar nur das Nötigste, aber ein Mehreres hatte Steffan auch früher nicht gekannt, und jetzt war er fast überwältigt von der Fülle des Guten, das ihm so unverdient von allen Seiten zufloß.
Von diesem Manne, wie daß ich ihn aufzusuchen dachte, hatte ich in Hummelshain gesprochen, und da ich nun Abschied nahm, steckte mir die Tante noch ein Sümmchen Geld zu »für den Leineweber«, wenn ich's nicht selber brauche. Das war eine Freude! Denn ich war allerdings so abgebrannt, daß ich keinen Groschen missen konnte. Nun brauchte ich nicht mit leeren Händen zu erscheinen.
Nach mehreren heißen Tagemärschen langte ich eines Abends in Hohenstein an. Ob mein Heiliger wohl noch leben würde, dachte ich, und ob Schubert auch den rechten Namen oder vielleicht aus Schonung nur den Taufnamen angegeben habe. Da stand gleich bei den ersten Häusern eine Gruppe Nachbarn, die ich nach Steffan fragen konnte; aber dieses Namens gab es mehrere. Der meinige, sagte ich, sei sehr arm, und das waren sie ebenfalls alle. Da ich endlich den Gesuchten als alt und an den Beinen gelähmt bezeichnete, bemerkte ein herzutretender Arbeiter: das passe schon auf einen, den er kenne, einen alten Betbruder; aber bei der Art würde ich wohl nichts zu suchen haben. Ich aber suchte gerade bei der Art etwas, war hocherfreut und ließ mir die Wohnung des Betbruders beschreiben, die, am andern Ende des Bergstädtchens gelegen, nicht leicht zu verfehlen war.
Vor der Türe des etwas windschiefen Hauses fand ich eine Frau, die kleingemachtes Holz eintrug und mich auf meine Frage nach dem Leineweber Steffan etwas verwundert die Treppe hinaufwies. Hier trat ich in ein ärmliches Zimmer, dessen wesentlichstes Ameublement in ein paar Betten bestand. In dem einen lag ein auffallend schöner alter Mann, der sich mittelst eines um das Fußende geschlungenen Seils, das er wie einen Zügel in der Hand hatte, aufrechthielt, und um ihn standen eine Menge Kinder, die er zu unterrichten schien. Er sah mich fragend an. Ich sagte, ich hätte einen Auftrag an den Webermeister Steffan.
»So heiße ich,« erwiderte er; »aber wenn's nicht allzu eilig ist, so verzeihen Sie ein wenig: meine Schule wird gleich aus sein.«
So ist er also mittlerweile Schulmeister geworden, dachte ich – wenn's nur der rechte Steffan ist! Ich setzte mich nun still in eine Ecke, und jener fuhr in seiner Sache fort. Er fragte den Kindern die Gebote ab und sprach zwischendurch zu ihnen so einfach und mit so rührend warmer Liebe, daß es auch mir zu Herzen ging. Ich konnte nicht länger zweifeln, ob ich in diesem Stübchen recht sei.
Inzwischen wurden die Kleinen bald entlassen, und auf den Wink des Alten trat ich ehrfurchtsvoll ans Bett, auf das er sich ermüdet zurückgelassen hatte. Am liebsten hätte ich gleich damit begonnen, mir seinen Segen auszubitten, und war ganz verlegen, ihm statt dessen ein klägliches Almosen einhändigen zu sollen.
»Was haben Sie mir denn zu sagen?« redete Steffan mich jetzt an, indem er mir freundlich die Hand reichte. Ich sagte, eine Dame aus Thüringen, woher ich käme, hätte mir etwas für ihn mitgegeben. Ob ich ihm damit recht käme, wisse ich nicht, aber abgeben müsse ich's, und damit legte ich das Geld der Tante auf die Bettdecke. Es waren drei harte Taler.
Steffan erwiderte nichts. Er faltete die Hände, und eine Träne nach der andern ging aus seinen Augen. Als aber nun seine Frau eintrat, dieselbe, die mich unten zurechtgewiesen, sagte er mit leiser Stimme: »Sieh doch da, die ganze Miete!«
Ich konnte es nicht hindern, daß jene mir die Hände küßte, obgleich ich nicht der Geber war; sie löste sich fast auf in Dankbarkeit, und ich erfuhr nun, daß schon am nächsten Tage die Exekution wegen rückständiger Miete erfolgen sollte, die von mir überbrachte Summe die Schuld aber bei Heller und Pfennig decke. Nicht mehr und nicht weniger war es, es hatten gerade drei Taler gefehlt, wegen deren Geringfügigkeit ich mich dem ehrwürdigen Manne gegenüber geschämt hatte. Nun hatten sie dennoch ausgereicht, ihn vor Plünderung zu schützen.
Ich mußte jetzt berichten, wie es zugegangen, daß meine Tante von der Not eines so weit entfernten kleinen Mannes Kenntnis gehabt, und sprach natürlich von Schuberts Buche. Steffan richtete sich verwundert auf. Er konnte sich nicht gleich darein finden, daß von ihm, dem Hohensteiner Weber, etwas in Büchern stehe, ebensowenig als Schubert es sich gedacht haben mochte, daß jener etwas davon erfahren würde. Indessen kannte Steffan die Eigentümlichkeit seines alten Freundes und sagte endlich mit besonderem Tone: »Der liebe, gute Schubert! Aber unser Vater im Himmel hat wunderliche Kinder und wunderbare Wege!«
Letzteres wußte Steffan nicht erst seit heute abend; er hatte viel erfahren und sprach gerne davon, auf wie merkwürdige Art ihm oft die wunderbarste Unterstützung zugekommen, und immer ohne sein eigenes Zutun, denn er hatte nie gebettelt, außer an jener Schwelle, an welcher alle Christen, große und kleine, täglich zu betteln angewiesen sind. »Noch heute,« sagte er, »wer konnte wissen, daß wir den letzten Span verbrannt? – da fährt ein fremder Fuhrmann vor und ladet ein ganzes Fuder kleingespaltenen Holzes ab. Daß meine Frau beteuert, wir hätten nichts bestellt und könnten nichts bezahlen, ist in den Wind gesprochen. .Wenn's bei dem lahmen Steffan ist, so ist's schon recht!' und damit fährt mein Fuhrmann ab und will keinen Dank mitnehmen. Dann aber kommen Sie, mein junger Freund, vom Thüringer Walde her, um unsere Miete zu bezahlen! Und so ist's nun die ganzen zehn Jahre her gegangen, seit ich mich nicht vom Bette rühre. Wer bin ich, Herr, daß du meiner so gedenkst! Du hast es nie am Öl und Mehle fehlen lassen, obgleich ich müßig liege wie ein Brachfeld.« Aber die Schule, dachte ich, die muß doch ihre Früchte tragen. Als ich ihn indessen hieran erinnerte, sagte er, dafür habe er auch zu danken, daß die Kleinen gerne zu ihm kämen, arme Fabrikkinder, die den Tag über für ihren Unterhalt arbeiten müßten und die Schule nicht besuchen könnten. Da kämen denn ihrer einige am Feierabend zu ihm, und er unterweise sie im Lesen, Schreiben und im Katechismus. Das sei seine Freude und Erquickung.
So wurde denn dieser Ärmste noch der Wohltäter vieler armen Kinder, die ohne ihn verwildert wären. Vielleicht mußte er gerade darum leiblich krank sein, damit er den Samen geistiger Gesundheit in die Seelen dieser Kleinen streue, welche somit möglicherweise noch einen Vorzug vor denen hatten, welche die Ortsschule besuchten, denn dort wurde, wenigstens nach Steffans Ansicht, kein Christentum gelehrt, vielmehr nur Anweisung gegeben, nach dem Vorbild edelmütiger Tiere, wie Löwen, Elefanten und dergleichen, recht zu tun und nichts zu fürchten.
Unter solchen Reden war es ganz finster geworden, und die ab- und zugehende Frau hatte ein Blechlämpchen angezündet, das, an einer Drahtkette gerade über der schönen Stirn des Alten schwebend, sein Friedensangesicht ganz wundersam verklärte – ein Raffaelischer Kopf in Rembrandtscher Beleuchtung. Es war ein Bild, das anzusehen ich nicht ermüdet wäre und gern gemalt hätte, wenn das so ginge. Inzwischen ward für mich und Steffan eine Schwarzbrotsuppe serviert, die wir unter uns zweien mit Danksagung und ohne sündliche Überladung des Magens von töpfernen Tellern zu uns nahmen. Die Frau zog sich bescheiden zurück; ob sie sich für zu gering hielt, in meiner Gesellschaft zu speisen, oder mir vielleicht gar ihren eigenen Anteil abgetreten hatte, um selbst zu fasten, kann ich nicht sagen. Jedenfalls schien es mir nicht zuzukommen, sie auf ihre eigene Suppe einzuladen.
Nach Tische stellte sie sich jedoch ganz freundlich wieder ein, schob ihr Spinnrad aus der Ecke und blieb nun bei uns. Sie hatte auch die oberwähnte taubstumme Tochter mit hereingebracht, die mir grinsend die Hand reichte. Diese war eine auffallend häßliche Person, etwa von zwanzig Jahren, und trug ein Kind auf dem Arme, das sie unablässig herzte, bis Steffan es ihr abnahm. Ich fragte, ob sie verheiratet sei. Da schüttelte der arme Alte den Kopf und sagte bekümmert, dies Kind trüge keinen Vaternamen, sein Vater sei nicht zu ermitteln.
Also auch dies Entsetzliche hatten die armen Menschen über sich ergehen lassen müssen, und daß es empfunden wurde, kann man sich denken. Doch kam kein hartes Wort, kaum eine Klage über Steffans Lippen. Nicht wunderte er sich nach Art des Unglaubens, wie gerade ihn, den Unschuldigen, dergleichen Unheil treffe, vielmehr wunderte er sich der unverdienten Güte Gottes über ihn und war der Meinung, daß er, dem täglich so viel Gutes zuteil ward, nicht sauer sehen dürfe, wenn es ihm auch einmal nach Verdienst erginge. Es sah lieblich aus, wie der freundliche Alte das kleine Kind in seinen Armen hatte, das er so lange bei sich behielt, als die Ungeduld der Mutter es gestattete.
Unterdessen war die Gesellschaft zahlreicher geworden. Der Mann der älteren Tochter, auch ein Weber, namens Uhlich, nebst seiner Frau und außerdem noch verschiedene andere Personen geringen Standes hatten sich nach und nach zusammengefunden. Sie waren augenscheinlich auf mich eingeladen, wie ich vordem auf Goethe, wenigstens äußerten sie kein Befremden, mich vorzufinden. Wie jeder eintrat, reichte er mir und allen übrigen die Hand mit zutraulicher Freundlichkeit: dann wurde Platz genommen, wo man ihn fand, das leere Bett als Sofa benutzt. Einer saß sogar noch auf dem Tische.
Die Unterhaltung war sehr bald im Flusse. Es ist natürlich, daß Reisende aufgefordert werden zu erzählen, wie es bei ihnen zu Hause aussieht, und ich hatte von zahlreichen Gesinnungs- und Glaubensgenossen nicht Unerfreuliches zu berichten. Einige Verwunderung dagegen mochte man nicht bergen, da man erfuhr, daß ich, den man für einen angehenden Theologen gehalten, nur Maler werden wolle. Die Kunst wollte diesen einfachen Männern, wenn nicht als ein eitles, doch jedenfalls als ein überflüssiges Gewerbe erscheinen. Steffan nahm mich jedoch in Schutz. Jedes Geschäft, sagte er, sei eitel, wenn man es im Dienst der Eitelkeit betriebe, sogar das Predigen; ein Maler aber könne wohl zu gottgefälligen Zwecken malen. Er selbst habe einmal in einer Kirche ein Bild gesehen, das habe ihn mehr als die Predigt erbaut; auch habe er gehört, daß der selige Zinzendorf durch ein Bild erweckt worden sei.
So sprach man hin und wieder, und Steffan gab das Beste; aber auch die anderen schienen sämtlich achtungswerte Leute, in deren Gesellschaft man sich wohl und heimisch fühlen konnte. Jeder Quartaner mochte sie an Gelehrsamkeit übertreffen, und von den konventionellen Formen der oberen Gesellschaft hatten sie auch nichts an sich; indessen gibt das Christentum an sich da, wo es wirklich Herzenssache wird, eine eigentümlich liebenswürdige Bildung, welche das Wesen auch des geringsten Arbeiters zu adeln vermag. Steffan las schließlich noch ein Kapitel aus der Heiligen Schrift vor und entließ dann seine Gäste.
Was mich aber anbelangte, so sollte ich nicht entlassen werden. Der herzliche Alte sowohl als seine Frau drangen in mich, die Nacht bei ihnen zu bleiben; und sie mußten es mir angetan haben – ich blieb sehr gern. Frau Steffan überzog für mich das andere Bett, wahrscheinlich ihr eigenes, mit frischen Laken und entfernte sich dann mit ihrer Tochter, um Gott weiß wo zu bleiben.
Als ich zur Ruhe war, blies der Alte sein Lämpchen aus und fing an zu beten. Er betete mit lauter Stimme in seiner einfachen Weise auch für mich, und zwar so glaubensfroh und zuversichtlich, daß meine Seele emporgetragen ward in den stillen Frieden einer besseren Welt, da es keine Zweifel, keine Sünde und keinen Tod mehr gibt. Es war mir, als fühlte ich die Gegenwart der Engel, die das Bett meines lieben Gastfreundes umstehen mochten, bis allgemach der Vorhang sich niedersenkte, der Schlaf und Wachen voneinander scheidet.
Was war doch dieser arme Steffan für ein Reicher! Ein Philosoph der alten Welt würde sich an seiner Stelle ohne weiteres entleibt haben, während er, ein gequälter, halb zertretener Wurm, der er war, nicht allein für seine Person heiter und dankbar lebte, sondern von seinem Überflusse auch noch andere stärkte und auferbaute. Das sind die Wunder des Christenglaubens. Wenn dieser denn auch wirklich eine Täuschung wäre, wie die klugen Leute fabeln, so fragt sich's, ob solche Täuschung nicht jeder Wahrheit vorzuziehen sei, die uns in Not und Sünden stecken läßt. Aber es ist nicht so: ein Steffansglaube wächst nicht auf dem Stamm der Lüge.
Ich hatte fest geschlafen bis zum hellen Morgen, als mich der Ton einer Geige weckte. Im ersten Augenblicke war ich erstaunt, mich in so fremdartiger Umgebung zu finden, Bett an Bett mit einem alten Greise, der mit heller Stimme wie eine Lerche zu seiner Geige sang. Steffan war seiner Gewohnheit gefolgt, den anbrechenden Tag mit einem Dankliede zu begrüßen.
Ich war bald auf den Beinen und horchte noch ein Stündchen den Gesprächen des merkwürdigen Mannes, bis Uhlich mit noch zwei anderen von der gestrigen Gesellschaft erschien, mir das Geleit zu geben. Da schied ich von dem teueren Alten, nachdem er seine Hände auf mein Haupt gebreitet und mich gesegnet hatte.
Die weitere Rückreise war bequem genug. Die Hohensteiner Freunde ließen es sich nicht nehmen, mein Gepäck zu tragen, und begleiteten mich drei oder vier Wegstunden weit, bis nahe an die Tore der Fabrikstadt Chemnitz. Sie wurden nicht müde, von ihrem geistlichen Vater und Propheten, dem alten Steffan, zu erzählen, von seiner Glaubensstärke, seiner Demut und Liebe, wie auch von dem Spott und der Verachtung, welche er, wie sie selber, von ihren aufgeklärten Mitbürgern zu erleiden hatten. Doch schienen sie damit ganz zufrieden und fanden es selbstverständlich, daß sie als Knechte Christi an der Schmach ihres Herrn und Meisters Anteil hätten.
Zum besseren Fortkommen auf dem Wege zur Seligkeit schenkten mir die Freunde, ehe wir schieden, noch einen gedruckten, in Bunyans Geschmacke abgefaßten Reisepaß, anscheinend vom Herrn des Himmels selber ausgestellt. Darinnen war in wohlgemeinten, wenn auch etwas ungeschickten Versen die Signatur eines richtigen Christen vielleicht ganz richtig angegeben; wenn aber das Wörtlein Paß von passen kommt, so mußte ich mir gestehen, daß diese Beschreibung wenigstens auf mich nicht paßte und jeder gewissenhafte Gendarm mich darauf hätte festnehmen müssen. So hätte ich Sorge tragen müssen, die angegebenen Kennzeichen in mir wahrzunehmen; aber es fehlte mir die Einfalt, mich an solchen religiösen Spielereien ernsthaft zu erbauen.
Der alte Steffan hatte es mir zur Pflicht gemacht, in Chemnitz Schuberts Schwester aufzusuchen, die an den dortigen Bürgermeister Wirth verheiratet sei, was ich nicht wußte. Ich wollte nur im Vorübergehen grüßen, aber die liebenswürdigen Menschen schienen ihren wirklichen Namen mit der Tat bewähren zu wollen. Ich mußte an meine Eltern schreiben, daß ich hier einige Tage rasten würde, und nun alles sehen, was Chemnitz und seine Umgegend an Herrlichkeiten aufzuweisen hatte. Dergleichen vergißt sich wieder, aber die wohltuende Herzlichkeit meiner lieben Wirte ist mir in lebendiger und dankbarer Erinnerung geblieben.
Mit Butterbrot und kalter Küche ausgestattet, schied ich am dritten Tage und richtete meine Schritte zunächst auf das romantisch gelegene Augustusburg, in dessen Nähe mich ein einsamer Musterreiter einholte. Der grüßte höflich und knüpfte ein Gespräch an. Da er des Reitens müde war, wie ich des Gehens, so bot er mir einen Tausch an, infolgedessen ich mich auf den Rücken seines Pferdes, und er sich meinen Ranzen auf den eigenen schwang. Ob er sich seiner Sicherheit wegen dieser Ranzenunbequemlichkeit unterzogen hatte oder nur sein Pferd erleichtern wollte, das schon einen tüchtigen Mantelsack trug, weiß ich nicht; das aber weiß ich, daß ich so glücklich wie ein König hoch zu Rosse saß und mit des anderen Benehmen außerordentlich zufrieden war.
Aus dem allem erfolgte übrigens weiter nichts, als daß wir ein paar Stunden lang in großem Frieden nebeneinander herzogen, bis wir nach dem Städtlein Öderan gelangten, wo wir auf den Vorschlag meines Begleiters in einer ziemlich ordinären Kneipe, der sogenannten Garküche, einkehrten. Der Wirt, ein behäbiger Mann in Hemdärmeln und gestrickter Zipfelmütze, empfing uns vor der Haustüre und führte uns ins große Gastzimmer. Es war gerade Zeit zum Abendessen, und wir speisten mit der Wirtsfamilie Nierenbraten mit geschmorten Pflaumen, Butterbrot und Käse, und dazu ward noch zum Überflusse Flöhaer Bier geschenkt, was damals hochberühmt war. Ich war sehr guter Dinge und erzählte von meinen Reisebegebenheiten, namentlich vom alten Steffan, dessen Wesen in mir den tiefsten Eindruck hinterlassen hatte. Die ganze Gesellschaft hörte mit sichtlicher Erbauung zu, selbst die Kinder des Wirtes hingen mit runden Augen an meinem Munde, und immer mehr wollte man hören von dem kranken Leineweber, der trotz seiner Schmerzen und seiner Bettelarmut doch so vergnügt in seinem Gott war.
Um neun Uhr brachte der Wirt mich auf mein Zimmer, ein hübsches, weißgekalktes Kämmerchen mit weißgescheuertem Tisch und Stühlen von Tannenholz und einem appetitlichen Bett, in dem sich's prächtig schlief. Am anderen Morgen erhielt ich in aller Frühe einen guten Kaffee mit frischem Weißbrot. Es war mir gut ergangen in der Garküche; jetzt aber, wo die Reihe ans Liquidieren kam, beschlich mich einige Sorge. Ich hatte ungefragt gut leben müssen und hatte doch in meinem Beutel nur noch sechzehn Groschen, bis Dresden aber wenigstens noch acht Meilen. Ich griff indessen in die Tasche wie ein Reicher und fragte nach meiner Rechnung.
»Zwei Groschen und acht Pfennige,« sagte der Wirt, »wenn es dem jungen Herrn nicht zu viel ist.«
Das war es nicht. Vielmehr war dies die wohlfeilste Zeche, die ich je zu zahlen hatte, und fast muß ich glauben, daß der wohlwollende Wirt mich aus irgendeiner Ursache begünstigt habe, vielleicht der guten Unterhaltung wegen am vergangenen Abend. Wir schieden mit herzlichem Händedruck als gute Freunde, ich dankte für liberale Bewirtung und ließ den Musterreiter grüßen, der hier zurückblieb und noch schlief.
Bei guter Zeit langte ich in Freiberg an und trat bei dem früher schon erwähnten Freunde unseres Hauses, Herrn von Prtzschtnowski, genannt Prestano, ab, der hier für einige Zeit domizilierte. Er war eben im Begriffe mit einem eigenen Fuhrwerk nach Dresden abzugehen, und nahm mich mit. Der Weg ging über Tharandt und Potschappel, an welchem letzteren Orte mein Begleiter mir die Freude machte, mit mir in eine alte verlassene Kohlengrube einzufahren, um mir den Reichtum an Kristallen zu zeigen, welche die Höhlungen der Gänge an manchen Stellen ganz bedeckten und beim Schein der Grubenlichter ein phantastisches Geflimmer machten.
So hatte ich denn Gelegenheit gehabt, auf dieser Reise die Welt von innen und außen anzusehen, und kehrte wohlbehalten zu den Meinigen zurück. Da gab es viel zu erzählen. Die Mutter interessierte sich besonders für meinen Besuch in Hohenstein, von welchem sie Veranlassung nahm, an Steffan zu schreiben. Er antwortete durch seinen Schwiegersohn, den getreuen Uhlich, welcher die Dresdener Jahrmärkte regelmäßig zu besuchen pflegte und Briefe, Segenswünsche und kleine Geschenke hin und her trug, bis er etwa nach Jahresfrist die Todesbotschaft brachte. Der alte Steffan war zu seiner rechten Heimat eingegangen.