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»Wer weiß, wie nahe mir mein Ende?
Hin geht die Zeit, her kommt der Tod.«
So heißt es im alten Liede – und in der Tat, wenn wir uns von irgend etwas überzeugt halten können, so sind es die in diesen beiden Versen enthaltenen Wahrheiten, daß die Zeit dahingeht, der Tod herankommt, wir aber nicht wissen, wie nahe er uns ist. Auch mein Vater wußte nicht, wie nahe ihm sein Ende war, als er anderen Tages, am 27. März 1820, seine letzte Palette aufsetzte, um das Bild einer hochgestellten Frau, der regierenden Gräfin Eberhardine zu Stolberg-Wernigerode, zu beginnen; in der rechten Stimmung aber muß er wohl gewesen sein, denn jene Dame versicherte nachgehends, seine Unterhaltung sei gewesen wie Psalmen und Lobgesänge, und daß es ihr dabei zu Sinne gewesen wie in der Kirche. Die Gedanken meines Vaters waren überhaupt in letzter Zeit fast ausschließlich geistlichen Dingen zugewandt gewesen, und dazu war seit dem gestrigen Tage noch die lieblichste Beruhigung über die kirchliche Stellung seiner Familie gekommen, die seiner Seele vollen Frieden gab. Dieser Friede leuchtete den ganzen Tag über aus seinen schönen dunkeln Augen und gab seinem Angesicht den Ausdruck eines Sehers, der unaussprechliche Dinge sieht. Sein innerer Mensch des Herzens war bereits mit jenem hochzeitlichen Kleide angetan, in welchem er schon in wenig Stunden am großen Gastmahle seines Königs teilnehmen sollte.
So kam er nach der Arbeit gegen Abend in mein Zimmer. Die Akademie hatte Ferien, und ich zeichnete für mich den Moses, der die Schlange erhöht, zu welcher die Gebissenen sich wenden, um zu genesen. Mein Vater betrachtete die Skizze mit Interesse. Er war zufrieden mit meiner Auffassung und versprach mir, ich solle dies Bild in Öl ausführen, sobald ich mit dem Pinsel umzugehen verstände. Dann sagte er: da er mich so gut beschäftigt fände, wolle er mich nicht stören, sonst hätte er mich aufgefordert, ihn nach Loschwitz zu begleiten, wo er nach seinem Hause sehen wolle. Nun hätte mich jene Zeichnung nicht zurückgehalten; aber die Singakademie wollte heute abend eine Passionsmusik probieren, die am Karfreitage zur Aufführung gelangen sollte, und da mochte ich nicht fehlen. Mein Vater ließ dies gelten und ging allein, wie er gewöhnlich tat. Mir aber brannte das Herz, als er mich verlassen; war er doch heute so besonders weich und gut gewesen, hatte sogar meine Arbeit gelobt, was er sehr selten tat, und mir das Bewußtsein hinterlassen, daß er zufrieden mit mir sei. In diesem Gefühle begab ich mich frohen Herzens nach dem alten Posthaus in der Pirnaischen Gasse, wo wir unseren Konzertsaal hatten.
Eine mir ganz neue Musik, »Die sieben Worte« von Haydn, ward probiert, und mit hohem Genusse sang ich mit den anderen die herrlichen Chöre. Als wir aber an die Stelle kamen:
»Wenn wir mit dem Tode ringen
Und aus dem bedrängten Herzen
Heiße Seufzer zu dir dringen:
Hilf uns, Mutter aller Schmerzen!«
da erfaßte mich eine so schmerzliche Rührung, daß mir die Stimme versagte. Weder in den Worten noch in den Tönen konnte der Grund zu einer so tiefen Bewegung gesucht werden, doch schnitt mir beides dermaßen durch die Seele, daß mir diese Stelle, obgleich ich sie seitdem nie wieder hörte, nach Text und Melodie bis heute unvergeßlich geblieben ist. Ich stellte mir wunderlicherweise den geliebten Vater als mit dem Tode ringend vor, und es war, als wäre dies Gebet zur heiligen Jungfrau aus seiner Seele aufgestiegen. Ich konnte mich nicht halten, verließ den Saal und brach im Nebenzimmer in einen Strom von Tränen aus.
Bald kam mir Kaufmann nach, dem mein Verschwinden aufgefallen, setzte sich zu mir und fragte teilnehmend, was mir geschehen sei. Ich wußte nichts zu sagen, als daß jene Musikstelle mich so sonderbar ergriffen habe. Das konnte jener, dem dieselbe Stelle nicht den geringsten Eindruck gemacht hatte, nicht begreifen; er redete mir vernünftig zu und führte mich in den Saal zurück. Aber die Trauer wollte mich nicht mehr verlassen: der Tod stand mir in seiner Unerbittlichkeit lebendig vor der Seele; ich sah das Ringen des Sterbenden, ich hörte seine letzten heißen Seufzer, und der Angstschrei: »Hilf uns, Mutter aller Schmerzen!« wich mir den ganzen Abend nicht aus den Ohren.
Als ich nach Hause kam und den Vater noch nicht vorfand, ergriff mich die lebhafteste Sorge. Ich machte mich sogleich auf und lief durch die helle Mondnacht ihm entgegen bis auf den Weinberg. Hier schlief schon alles, und ich mußte den Winzer aus dem Bette holen. Von ihm erfuhr ich, daß mein Vater freilich dagewesen sei, mehrere Anordnungen getroffen, aber schon vor sieben Uhr den Rückweg angetreten habe.
Spornstreichs rannte ich jetzt zurück und klopfte die Wirtsleute auf Findlaters und dem Linkeschen Bade heraus, ob er vielleicht plötzlichen Unwohlseins halber dort eingesprochen sei; aber niemand wollte ihn gesehen haben. Möglich, dachte ich, daß er in der Stadt noch einen Besuch gemacht und nun längst zu Hause ist – aber das war er nicht, und wir brachten die Nacht in namenloser Angst hin.
Am anderen Morgen in aller Frühe meldete ich den Fall auf der Polizei an. Man gab mir Polizeidiener und Hunde mit, die Gegend abzusuchen. Dräger, den ich auf der Straße fand, schloß sich uns an. Am Linkeschen Bade verteilten wir uns zu beiden Seiten der Chaussee; die Hunde revidierten vor und zwischen uns. Auf halbem Wege zum Waldschlößchen stand plötzlich der mir zunächst laufende Hund. Ich sprang herzu: da lag mein Vater mit dem Gesicht auf nackter Erde, erschlagen und entkleidet in einer Ackerfurche. Über mich aber und die Meinigen »ging der Grimm des Höchsten, und seine Schrecken drückten uns, sie umgaben uns wie Wasser und umringten uns miteinander«. Und hiermit mag ein Schleier auf mein weiteres Ergehen fallen.Die ausführlichste Darstellung des furchtbaren Ereignisses, durch welches das Künstlerleben Gerhard von Kügelgens jäh und unerwartet früh endete, gibt die Studie »Gerhard von Kügelgens Ermordung« im Neuen Pitaval von Hitzig und Häring. Bd. 12.