Wilhelm von Kügelgen
Jugenderinnerungen eines alten Mannes
Wilhelm von Kügelgen

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2. Ballenstedt

Die Mutter war genesen. Wir hatten Merseburg verlassen und waren am Orte unserer Bestimmung angekommen. Mein Bruder sah gesund und kräftig aus, ja, er war so strotzend, daß ihm, wie man sich erzählte, ab und zu die Backen platzten. Dennoch konnte ich ihn anfänglich nicht ohne Bewegung ansehen, da er sich mit seinen kurzgeschorenen Haaren und dem bunten Kragen an seiner Jacke wie ein Miniaturlakei ausnahm. Zwar waren es die Farben der Hofuniform, wie sie ebenfalls auch der Erbprinz, ja selbst der Herzog trug; ich aber konnte nichts anderes darin erblicken als ein Abzeichen der Dienstbarkeit. Und daran reihte sich noch die Erwägung, daß der jüngere Bruder vom väterlichen Herd verstoßen sei, sich unter Fremden sein Brot zu suchen, während ich, der vier Jahre ältere, noch als Nestvöglein gefüttert, es so viel besser hatte. Das war's, was mich so rührte.

Die Sklaverei hatte übrigens den Mut des jungen Herrn so wenig gebrochen, daß man sich vielmehr allerlei von seinem kecken Gehaben zu erzählen wußte. So unter anderem war er eines Abends etwas verspätet, erhitzt und mit dunkelroten Backen ins Teezimmer der Herzogin getreten. Der Prinz, der auffallend blaß und zart aussah, rief ihm entgegen: »Guten Abend, Junker Feuersbrunst!« und: »Guten Abend, Prinz Nachtlicht!« erwiderte der Begrüßte, ruhig seinen Platz einnehmend. Man habe nicht gewußt, wohin sehen, bemerkte die referierende Hofdame, um das Lachen zu unterdrücken.

Ein anderes Mal, als die Herzogin in gesprächiger Laune viel von ihren Reisen in der Schweiz erzählte und sich dann, plötzlich unterbrechend, mit der Frage an meinen Bruder wandte, warum er denn heute so schweigsam sei, sagte er lakonisch: »Kann ich denn zu Worte kommen?«

Napoleon I. erzählte dem Las Casas als Beleg, wie weit die Unverschämtheit der Hofleute ginge, folgende Anekdote. Der Kaiser hatte die Gewohnheit gehabt, einen gewissen Kammerherrn zu fragen, wieviel Kinder er habe, und jedesmal zur Antwort erhalten: »Drei.« – Einmal gab der so Befragte jedoch sieben an, und da der befremdete Kaiser ihm einwarf, es seien ja ganz vor kurzem nur drei gewesen, erwiderte jener: »Ich fürchtete Eure Majestät zu langweilen, wenn ich immer dasselbe sagte.«

Die Antworten meines Bruders hätten als weitere Belege für Napoleons Behauptung dienen können; aber am Ballenstedter Hofe scheint man damals nachsichtiger gewesen zu sein, wenigstens blieb der kleine Kavalier unangefochten und war jedermanns Liebling. Auch hatte es den Anschein, daß er sich selbst in seiner Lage wohlgefiel, daher ich mich über seinen bunten Kragen bald zu trösten wußte. Jetzt schenkte man ihm viel freie Zeit, so daß er den größten Teil des Tages mit uns zusammen sein und sich mit Mutter und Geschwistern laben konnte.

Über mich ward indessen ein Beschluß gefaßt, der auch mich befriedigte und dem Bruder den abermaligen Abschied sehr erleichtern mußte. Die Mutter hatte mit Beckedorff und Starke über die Wahl eines Gymnasiums konferiert und war von beiden Freunden dahin bestimmt worden, den Landessuperintendenten Dr. KrummacherFriedrich Adolf Krummacher aus Tecklenburg in Westfalen (1768-1845) war um die Zeit, von der Kügelgens Jugenderinnerungen erzählen, Superintendent und Oberprediger zu Bernburg, seit 1824 Pastor an der St. Ansgariuskirche zu Bremen. Sein »Festbüchlein« und seine »Parabeln« erfreuten sich in frommen Kreisen großer Verbreitung und Geltung. aus Bernburg abzuwarten, der demnächst in Ballenstedt zu predigen hatte. Das Bernburger Gymnasium war ihrer Meinung nach vortrefflich, und wolle Krummacher mich ins Haus nehmen, so sei nichts Besseres für mich auszudenken.

Meine Mutter hatte für Krummacher eine ähnliche Verehrung wie für Klopstock, Herder, Schubert und Pestalozzi, welche alle ihrer Meinung nach nicht Beifalls oder eitler Ehre wegen schrieben, sondern lediglich getrieben von dem Eifer, ihren Mitmenschen nützlich zu werden. Die Aussicht, mich vielleicht der Obhut eines so trefflichen Mannes anvertrauen zu können, erfüllte sie daher mit frohster Hoffnung.

Bald kam auch der Ersehnte und trat in unserem Gasthof ab. Meine Mutter ließ ihn zu sich bitten, und ich ward gerufen. Ich fand einen Mann von kleinem, aber kräftigem und ebenmäßigem Körperbau. Seine edle Haltung, das leicht gepuderte Haar und die feine schwarze Kleidung, die er trug, gaben ihm das Ansehen eines kirchlichen Würdenträgers; das prächtige Gesicht aber voll Geist und Leben und freundlicher Würde entzückte mich. Als ich meine respektvolle, in der Tanzstunde erlernte Verbeugung vollendet hatte, ergriff er mich bei beiden Schultern, und mich weit von sich abhaltend, sah er mir mit stiller Frage lange und scharf ins Auge; dann schloß er mich herzlich in seine Arme und erklärte sich bereit, mich bei sich aufzunehmen.

Inzwischen konnte ich vor Johanni bei Krummachers nicht einziehen, und da meine Mutter ihre Rückreise gleich nach Pfingsten anzutreten hatte, so wurde das Anerbieten Beckedorffs, mich unterdessen seiner Fürsorge zu überlassen, mit Genehmigung des Herzogs dankbar angenommen. Ich bezog ein Zimmer auf dem Schlosse mit herrlicher Aussicht auf die waldigen Berge und verlebte abermalige Freudentage, an die ich nicht nur wegen des Zusammenseins mit meinem Bruder und den verschiedenen Agrements, die mir das Hofleben gewährte, sondern ganz besonders wegen des täglichen Verkehrs mit einem Manne wie Beckedorff aufs dankbarste zurückdenke.

Der Gouverneur des Prinzen, Hofrat Beckedorff, gehörte zu den hervorragendsten Persönlichkeiten, die ich gekannt habe. Ein imponierendes und doch gefälliges Äußere, ritterliche Fertigkeiten und Manieren, umfassende Kenntnisse, Genialität und spielender Witz, das waren Eigenschaften, durch die er die Gesellschaft dominierte, während sein ehrenhafter und wohlwollender Charakter ihm die Achtung näherer Bekannten sicherte. Wenn dergleichen glänzende Gestalten es nicht unter ihrer Würde halten, sich jungen Leuten freundlich zuzuwenden, so wird ihnen in der Regel eine begeisterte Verehrung zuteil, was in meinem Falle um so mehr zutraf, als dieser ausgezeichnete Mann sich nicht etwa nur gönnerhaft zu mir herabließ, sondern sich fast brüderlich zu mir stellte und auf Spaziergängen und allerwege wie die »Spenersche Zeitung« von gelehrten und anderen Dingen mit mir plauderte. Es waren dies Unterhaltungen, die mir um so mehr gefielen, als sie mich über mich selbst erhoben und meine geistige Entwickelung fast über meine Jahre förderten.

Soweit ich sehen konnte, schien sich das Interesse Beckedorffs vorzugsweise der Kirche und ihrer Zukunft zuzuwenden. Auch er war berührt von dem Geiste des zu jener Zeit wieder erwachenden Glaubenslebens, aber er war es in anderer Weise als andere gottesfürchtige Freunde meiner Eltern. Den letzteren war das Christentum vorzüglich eine innere Herzensangelegenheit: sie suchten es für sich selbst zu fassen und anderen zugänglich zu machen; welcherlei Gestalt es aber im Staate finden, und wie es seinerseits den Staat gestalten möge, darum sorgten sie sich wenig. Beckedorff dagegen verlangte vor allem nach der Kirche. Der subjektive Glaube ohne die Garantien eines äußeren, festbegründeten Institutes war ihm ein leibloser Geist, der gelegentlich verwehen und sich wie die Wolken des Himmels aufs mannigfaltigste verwandeln mußte. Die verschiedenen in protestantischen Ländern zu Recht bestehenden Kirchenformen aber schienen ungenügend, da sie nicht nur selbst im Fluß begriffen waren, sondern auch den Geist verloren hatten, den zu halten sie bestimmt gewesen, und sie zu bessern, fehlte jegliche Autorität.

In der katholischen Kirche aber, die mit ihrer Vergangenheit nie gebrochen hatte, glaubte Beckedorff die geschichtliche Entwickelung der apostolischen zu sehen. Sie war in seinen Augen die Kirche Christi, und trotz allen lokalen und temporellen Mißbrauchs, der nicht abgeleugnet wurde, war sie die einzig mögliche. Sie war ein Postulat der Zeit, nicht nur für die einzelne Seele, sondern ganz besonders für den Staat, der nur in ihr sein sittliches Fundament zu suchen hatte. Da es nun aber bei gangbaren Vorurteilen sehr unwahrscheinlich schien, daß die protestantischen Staaten ihren Vorteil so bald begreifen würden, so stand für die nächste Zukunft eine Periode der gewaltsamsten Umwälzungen in Aussicht, welche für schöne Wissenschaft und Kunst wenig oder keinen Raum lassen konnte, daher mein väterlicher Freund mir ernstlich von einer Kunstkarriere abriet, auf die mich meine Neigung hinwies. Seiner Meinung nach sollte ich mich vielmehr dem öffentlichen Leben widmen, da man wohlgesinnte Männer für den Staatsdienst bald mit der Laterne suchen würde. Das etwa mochten die Gegenstände sein, über welche sich Beckedorff am häufigsten gegen mich ausließ, sowie auch die Gedanken, die ihn später selbst in den Staatsdienst und in die Arme der römischen Kirche trieben. Hätte ich länger unter dem Einflusse dieses überlegenen Geistes gestanden, so möchten auch für mich dieselben Konsequenzen eingetreten sein, aber ich ging, wie schon gesagt, durch vieler Lehrer Hände, die in sehr verschiedener Weise auf mich influierten. Immerhin erweiterte sich mein Gesichtskreis, und ich gedenke jener Ballenstedter Tage als einer angenehmen Zeit des Erwerbens und der Bereicherung.

Nachdem ich nun auf solche Weise in Merseburg und Ballenstedt ein Weilchen als großer Herr in Schlössern gelebt und mit geistvollen Männern altkluge Unterhaltung gepflogen hatte, sollte ich zur Abwechselung einmal wieder Schulkind werden. Der Tag meiner Abreise rückte heran, und Beckedorff schenkte mir zum Andenken ein schönes Buch, eine damals von Köthe herausgegebene Übersetzung der »Nachfolge Christi«. Daß ihm, dem jovialen Hofmanne, beim Abschiede die Tränen in die Augen traten, werde ich ihm nie vergessen.


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