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Mein Leben gestaltete sich anders als ich erwartet hatte. Von sanften Rührungen war ebensowenig die Rede, als von einsamen Spaziergängen an Teichen. Ich wurde kurz gehalten; jeder Schritt war vorgeschrieben und meine Freiheit mehr geschmälert als je zuvor. Ich fühlte mich daher in den ersten Tagen nichts weniger als behaglich. Aber nach und nach gewöhnte ich mich; ja, ich fand so viel Verwandtes, Wohlverständliches und Anregendes in der Persönlichkeit meines Pastors, daß er mein Herz gewann und sein Haus mir heimisch wurde.
Um sieben Uhr des Morgens stand ich auf und trat ins Studierzimmer, wo Roller, das Kosakenvlies am Leibe und als Myops über seine Schreiberei weit hingebeugt, schon seit fünf Uhr tätig war. »Salve!« pflegte er zu grüßen, schob mir ein Buch zu, faltete die Hände, und ich las eine kurze Morgenandacht von Luther vor, welcher der Pastor bisweilen noch ein freies Gebet zufügte. Dann erhob er sich, schob mit dem Fuße einen an der Diele angebrachten Schieber zurück und rief durch die Öffnung hinunter nach dem Frühstück, mich gleichzeitig belehrend, daß dieses Loch nicht Loch, sondern anständiger Gitter genannt werde, wonach ich mich zu richten habe.
Das Frühstück bestand für den Pastor in einem Kochtopf mit aufgeweichtem Schwarzbrot. Dazu goß er etwas Milch und löffelte es mit einem Blechlöffel gleich aus dem Topfe, während ich reine Milch erhielt. Außerdem ward noch ein flaches Becken gleichfalls mit Milch serviert – für die Kammerjäger, sagte Roller; – und auf den Ruf einer Handglocke fanden sich drei schöne weiße Katzen ein, die gewohnte Spende zierlich aufzulecken. Nichts hindere sie, zu kommen, sagte der Hausherr, und wären sie auch im Keller, auf dem Boden oder in der Scheune, da alle Türen mit Katzengittern versehen seien.
Waren die Katzen abgefüttert, so öffneten wir ein Fenster, vor welchem ein Taubenbrett angebracht war. Dieses wurde zuvörderst mit der Kelle von den Rückständen gereinigt, welche die unschuldigen Tiere darauf zurückzulassen pflegten, und mit Erbsen, Wicken oder anderem Gesäme bestreut. Darauf schwirrten auf den Pfiff des Pastors etwa dreißig der schönsten Tauben von den Dächern, drängten sich auf dem kleinen Brett zusammen und trommelten die Körner mit großer Gier auf. Jede von diesen Tauben hatte ihren Namen, meist nach englischen Staatsmännern, die Roller sich auf diese Weise merkte. Da gab es einen Castlereagh, Cathcart und andere dergleichen mehr. Mit älteren Naturgeschichten anzunehmen – ward ich belehrt – daß Tauben keine Galle hätten, sei lächerlich. Ich sähe selbst, wie sie sich lieblos hackten und verdrängten. Sie seien auch nichts besser als Parlamentsmitglieder und Minister und brauchten daher auch keine besseren Namen.
Nach so getaner Fütterung von Mensch und Tieren zündeten wir uns beide unsere Pfeifen an, und zwar der Pastor eine lange, die bis zur Erde reichte. Damit setzte er sich wieder an seine Arbeit, während ich ihm gegenüber Platz nahm, mich mit Katechismus und Gesangbuch auf den nachfolgenden Unterricht vorbereitend. Für Knaben gibt es in der Welt nichts, was dem kleinen Lutherschen Katechismus an Langweiligkeit gleich käme, wenn er nämlich an und für sich ohne weitere Zutat genossen wird; die Pfeife aber versüßte ihn mir dergestalt, daß jenes Morgenstündchen mir das liebste am ganzen Tage war.
Gegen neun Uhr stellten sich denn auch die beiden jungen Grafen Stolberg ein, mit frisch geröteten Backen von Hermsdorf kommend, ein paar schlanke und hochbeinige Rassegestalten. Der ältere Bruder, ein lebensfrischer, heiterer, nach außen gerichteter Knabe, hieß zwar Hermann, aber Roller, dem es bei den natürlichen Namen seiner Zöglinge nie recht wohl ward, nannte ihn Herr Mann und lachte über die Lüge, da er weder das eine noch das andere sei. Der jüngere, Bernhard, ein zartes, stilles, in sich gekehrtes Gemüt und von uns dreien jedenfalls der frömmste, wurde Benzig genannt, ich Schwimm. Unter diesen Spitznamen stellte Roller uns auch einander vor. Unsere Väter, fügte er hinzu, möchten ebenso namhafte als mannhafte Leute sein, wir aber seien noch gar nichts, wenn nicht etwa trunci oder Klötze, aus denen jedoch im guten Falle noch etwas werden könne, und am Behauen wolle er's nicht fehlen lassen.
Während solcher und anderer anzüglicher Redensarten pflegte unser Pastor sich zu rasieren und den Pelz, der ihm das Ansehen eines Troglodyten gab, mit einem anständigen braunen Überrocke zu vertauschen. Draußen im Vorsaal versammelten sich unterdessen die Bauernkinder, etwa vierzig an der Zahl, und wenn sie zu laut wurden, mußte Herr Mann, als ältester unter den Konfirmanden, eine Gesangbuchnummer durch die Tür schreien. Dann sangen sie mit heller Stimme, bis es vom nahen Turme neun schlug und wir alle miteinander, der Pastor an der Spitze, in unseren Hörsaal, die sogenannte stille Stube, einzogen.
Diese stille Stube, so genannt von ihrer stillen Lage nach dem Kirchhof, ist mir sehr lieb geworden. Hier schwiegen die mannigfaltigen Zerstreuungen, die kleinen Sorgen und jeder Lärm der Außenwelt; der Friede der Gräber blickte durch die hellen Fenster, und der verborgene Mensch des Herzens merkte auf den Ernst der Worte, die hier gesprochen wurden. Hier zog auch Roller einen neuen Menschen an. Was er an sonderbaren und zerstreuenden Eigenheiten haben mochte, war im Kosakenpelz zurückgeblieben und hatte der wohltuendsten Würde Platz gemacht.
Übrigens konnte ich mich gleich in der ersten Stunde überzeugen, wie sehr die Bauernkinder, obgleich sämtlich jünger, mir doch an Kenntnis überlegen waren. Sie hatten nicht allein den Lutherschen Katechismus fest im Kopf, sondern auch einen reichen Schatz an Sprüchen und Liedern und damit ein geordnetes Fachwerk für alles, was ihnen an geistlicher Erkenntnis noch werden konnte, während mein derartiger Besitz ziemlich unordentlich umherwilderte.
Auf den Grund des Katechismus baute Roller das ganze Gebäude seiner Unterweisung auf. Er warf uns die Gebote ins Gewissen und pflanzte uns die Heilswahrheiten ins Gedächtnis, nicht deklamatorisch, nicht sentimental, auch nicht sehr herzlich, aber einfach, nüchtern, ernst und mit der imposanten Ruhe eines alten Praktikers, der an die kräftigste Wirkung dessen glaubte, was er zu geben hatte. Ja, wenn er merkte, daß er weich ward, oder daß wir es wurden, so lenkte er augenblicklich ein und ließ uns singen oder Sprüche sagen, da Rührungen seiner Meinung nach zu nichts anderem führen konnten, als Heuchler zu machen oder Schwärmer. Vielleicht daß Roller, dem es so wenig an Herz fehlte, daß er sich vielmehr vor dessen Regungen zu fürchten hatte, in dieser Furcht zu weit ging; aber jedenfalls war er in anderer Lage als mein erster Religionslehrer Schulz, der im dunkeln unsicheren Schrittes einherging, mit der Wünschelrute das Geld zu suchen, das Roller schon in der Tasche hatte und nur verteilte. Schulz schürfte gemeinschaftlich mit seinen Schülern nach unbekannter Wahrheit und mochte wohl tun, ihr weniger mit dem Kopfe als mit dem Herzen nachzugehen; Roller dagegen fing gleich da an, wo jener im besten Falle aufgehört haben würde, indem er uns die schon gefundene Wahrheit so kategorisch vortrug, wie etwa Anger die Physik. Gründete sich doch auch sein Glaube nicht auf Spekulation, sondern auf Geschichte, und von allen geschichtlichen Tatsachen war ihm die Offenbarung Gottes die wohlverbürgteste. So gab er sie auch seinen Schülern, und schwerlich war einer unter uns, der in jenen Stunden seines Glaubens nicht gewiß gewesen wäre. Nicht müde und gelangweilt, noch weich und weinerlich, sondern frisch und getrost verließen wir um elf die stille Stube, um in den Lärm der Alltäglichkeit zurückzugehen.
Wenn dann die beiden Stolbergs nach dem schönen Hermsdorf abzogen, beneidete ich sie anfänglich wohl um ihre Freiheit, da ich geneigter war, mit jenen oder allein ein Stündchen umherzustreichen, als die Liebhabereien meines Pastors zu teilen, d.h. Dünger und Sand auf Beete und Wege zu karren, Entwässerungsgräben zu ziehen, Bäume zu pflanzen und zu beschneiden, Holz im Pfarrbusche zu schlagen, Eichenklötze zu sprengen, Gartenbänke und Fensterladen anzustreichen und dergleichen Freuden mehr. Das alles wäre ja ganz hübsch gewesen, wenn ich's hätte für mich als freie Kunst betreiben können; der Frondienst aber ermüdete um so mehr, als mein Meister in solcher Lust kein Maß hielt. Weder Sturm noch Regen noch Mittagsglocke wurden für etwas geachtet, der Hunger für weniger als nichts. Wir aßen nicht eher, als bis das angefangene Werk vollendet war, nämlich um drei oder vier, um eins oder zwölf, wie's gerade kam. Dann aber hätte man an unserem Appetit ermessen können, daß uns solche Lebensweise wenigstens keinen Schaden brachte.
Daß Leute von so unregelmäßiger Tischzeit, als mein Pastor und ich, nicht mit den übrigen Hausgenossen zusammen speisen konnten, sieht jeder ein. Mit Ausnahme der Sonntage, wo die Hausarbeit ruhte und Familientafel stattfand, pflegten wir beiden Gartenknechte daher nachzuexerzieren. Zu dem Ende fanden wir die lange Wachstuchtafel im Studierzimmer nicht gerade gedeckt, wohl aber frisch abgewaschen und glänzend reinlich hergestellt. Tischtücher hielt Roller nicht für praktisch. Wenn sie auch alle Tage gebadet würden, pflegte er zu sagen, so blieben sie doch immer voll widerwärtiger Fasern, die sich nicht allein ans Brot hingen und zum Nachteil für die Därme mit eingeschlungen würden, sondern auch die Kleider ruinierten; und tagtäglich könne man es in allen Tischtuch- und Serviettenhäusern sehen, daß die Leute sich mit schwarzen Hosen setzten und mit weißmelierten wieder aufstünden. Naß abgewaschenes Wachstuch sei dagegen so reinlich als ein abgewaschener Teller und so sehr der rechte Grund und Boden für alle Speisen, daß man diese im Notfall auch ohne Schüssel unmittelbar darauf aufkellen könne.
Auf diese reinliche Tafel wurden alle Gänge auf einmal aufgesetzt, teils um den Appetit danach zu bemessen, teils jede weitere Bedienung überflüssig zu machen. Dann aßen wir, die Mahlzeit nach Belieben von hinten oder vorn anfangend, alles hintereinander weg, die festen Speisen von besonderen Tellern, Gemüse und Brei aber gleich aus der Schüssel, und zwar vermittelst kleiner Brotschaufeln, die an die Gabel gesteckt und jedesmal mit verspeist wurden. Roller war vergnügt und guter Dinge, gab allerlei zum besten und wußte auch mich, namentlich durch paradoxe Behauptungen, nicht allein zum Mitsprechen, sondern auch zum Streiten anzuregen.
Er behauptete zum Beispiel, daß Unvernunft vernünftiger als Vernunft sei, Grobheit höflicher als Höflichkeit, daß Chausseen die Kommunikation hemmten und bloße Füße wohlanständiger als bloße Hände seien. Auch stritt sich's hübsch darüber, was besser sei, die Suppe mit den Schweden zuletzt oder mit den Sachsen vorweg oder endlich, nach Rollers Hausordnung, gar nicht zu essen. Endlich tischte mein Wirt beim Nüsseknacken wohl noch etliche Rätsel auf, deren er viele, und zwar alle nach ein und derselben Schablone, auszuhecken pflegte. Einiges der Art möge hier zur Probe folgen.
»Welcher Vogel nistet in der Kirche?«
Ich riet natürlich auf Sperlinge und Tauben. Die Auflösung war aber: »Der Orga- oder Storchanist!«
»Welches reißende Tier ist unentbehrlich bei jedem öffentlichen Gottesdienst?«
Man hätte denken mögen, es sei der alte Adam, welcher gewissermaßen wie eine wilde Bestie durch die Predigt zu erlegen sei. Die richtige Antwort war aber: »Das Kanter- oder Panthertier!«
»In welche Stadt dürfen die Beine nicht mit hinein?«
Hierin war ich ganz Unwissenheit, aber Roller schrie mich an: »Peterwardein! oder die Beine müssen draußen sein!«
Über solche Auflösungen konnte ich ungemessen lachen und ward darum gelobt. Andere, sagte mein Pastor, lachten zwar auch, nämlich Schulmeister und Kandidaten aus Höflichkeit, Superintendenten, Konsistorialräte und sonstige Honoratioren aus Ärger, die Gräfin Dohna aus Mitleid; ich aber aus dem ff, und das sei die schmeichelhafteste Tonart. Überhaupt schien mein guter Pastor nicht ganz unzufrieden mit mir zu sein. Er erwies mir viel Freundlichkeit, und gewiß hätte ich mich ihm gleich von Anfang zutraulicher angeschlossen, wenn seine Derbheit mich nicht allzuoft verletzt hätte. Ein Beispiel mag genügen.
Nachdem wir unser erstes Mittagsessen sehr friedlich miteinander absolviert hatten, wurde mir geboten, in die Unterstube hinabzuschreien: »Nehmt die Speisung weg! – Aber vernehmlich!« fügte Rollet hinzu, »denn nicht immer hören meine Schwestern leicht!«
Ich öffnete das Gitter und den Mund. Da mir indessen jener kategorische Satz gegen die alten Damen nicht zu ziemen schien, so übersetzte ich ihn ins Respektvollere und rief hinab: »Der Herr Pastor läßt bitten, das Essen abzutragen!« Doch hatte ich kaum ausgesprochen, als Roller mit der Faust auf den Tisch schlug, daß die Teller tanzten.
»Heißt das Aufträge ausrichten,« polterte er mich an, »oder lügen?« Ich sah ihn erschrocken an. »Ja!« tobte er weiter, »gelogen hast du!«
Das hieß mir an die nackte Seele greifen. Mein unerfahrenes Gewissen sprach mich von jenem feigen Laster völlig frei, und ich war stolz auf meine Ehrlichkeit. Ich entgegnete daher mit einiger Empörung, ich löge nie.
»O weh!« erwiderte Roller gedehnt, »zweimal in einem Atem gelogen: erstens durch falsche Bestellung und zweitens durch heuchlerisches Bekenntnis!«
»Und drittens,« fügte ich mit bebender Stimme hinzu, »habe ich in meinem Leben nie gelogen und lüge auch jetzt nicht.« Damit griff ich nach meiner Mütze und wollte das Zimmer verlassen. Aber Roller rief mir sein gebieterisches »Halt!« zu und hielt mir etwa folgende Predigt.
»Du bist empfindlich, mein Sohn,« begann er in ruhigem Tone, »weil ich die Pflicht der Freundschaft gegen dich übe und dir deine Fehler sage. Wenn du aber zu weichlich für ein wahres Wort bist, wie willst du denn jemals Unrecht ertragen? Und das muß jeder lernen, der ein Mann werden will. Nein, unterbrich mich nicht. Ich gab dir einen Auftrag. Den konntest du ablehnen; übernahmst du ihn aber, so mußtest du ihn wortgetreu ausrichten, durftest ihn nicht verbrämen und lackieren. Das ist Weiberwerk! Aber du wolltest dich niedlich machen, und darüber hast du Dinge gesagt, die meine Schwestern in das gerechteste Erstaunen setzen mußten. Sie sind nicht gewohnt, daß ich sie bitte, ihre Schuldigkeit zu tun, und ebensowenig pflegen sie das Essen wieder abzutragen, es sei denn, daß sie es versalzen oder verbrannt hätten. O, mein Lieber! Das Essen hatten wir verzehrt, und was übrigbleibt, Geschirre, Löffel, Gläser, heißt nicht Essen, sondern Speisung. Endlich sagtest du, du hättest nie gelogen. Das war das Schmerzlichste, denn damit machtest du den zum Lügner, welcher bezeugt hat, daß alle Menschen Lügner sind. Da merke auf, mi fili! und laß dir raten, daß du den selbstgerechten Mönch nicht mästest in deinem Herzen.«
Die gute Absicht der Verständigung versöhnte mich, und ich konnte allenfalls den Lügner tragen, der auf allen Menschen saß. »Ich kann Ihren Schwestern keine Befehle geben,« sagte ich; »wenn ich aber nicht jeden Auftrag zu übernehmen brauche ...«
»Nein, beileibe nicht!« rief Roller in seiner jovialsten Weise; »wenn dir's nicht ansteht, sträube dich!«
Wegen des späten Essens waren die Nachmittage sehr beschränkt. Roller machte gewöhnlich Hausbesuche, und mir ward irgendein Vergnügen oktroyiert, wie zum Beispiel in der alten holländischen Bilderbibel nicht mehr und nicht weniger als drei Bilder zu besehen, von denen ich nachher Rechenschaft zu geben hatte, oder die Äxte zu schleifen für den morgenden Gebrauch oder, was besser war, die Spatzen mit der Windbüchse zu molestieren. Aber am besten nahm ich's auf, wenn ich den Ackergaul Peter aus dem Stalle ziehen und nach Grünberg zu den alten Fabers reiten durfte.
Außer auf prinzlichen Ziegenböcken hatte ich noch nicht geritten: aber Roller war sehr sorglos. Er lehrte mich das Aufzäumen und Satteln und überließ mich dann der Willkür des Pferdes, das, alt und lebensmüde, keine sonderlichen Allotria mehr trieb. So mußte die Übung meine Lehrerin werden, oder vielmehr ward Peter mein Lehrer, und ich ergab mich seiner Leitung. Je nachdem er es für angemessen hielt, ging er entweder seinen imperturbabeln Ackergaulsschritt, oder er erfreute sich wohl auch an einem für mich mehr schmerzhaften als scherzhaften Hundeträbchen. Roch er endlich den Grünberger Stall, so setzte er sich in Galopp, und ich hatte kein Verdienst dabei und konnte es auch nicht hindern, wenn ich wie ein Ordonnanzoffizier in den Schloßhof hineinsprengte.
Die Frau Magisterin Faber kam mir gewöhnlich schon vor der Haustür entgegen und empfing mich mit einer Auszeichnung, als wäre ich der Graf Dohna selbst gewesen. Dann führte sie mich ins saubere Wohnzimmer, wo ihr alter Mann, stets fein bekleidet mit schneeweißer Halsbinde, im Lehnstuhl saß und mir die Hand entgegenhielt.
Die alten Fabers waren die vortrefflichsten Menschen. Sie hatten ihr Leben hinter sich und ruhten einer in des anderen Pflege aus. Er, der Magister, sollte seinerzeit ein tüchtiger Pastor gewesen sein und war noch ein tüchtiger Gelehrter, wenigstens in meinen Augen, da er sich immer von gelehrten Sachen mit mir unterhielt. Wir sprachen einsichtsvoll von ablativis absolutis, vom accusativo cum infinitivo, von Stamm- und abgeleiteten Wörtern und dergleichen sprachlichen Verhältnissen. Auch von Cäsars Feldzügen, von seiner Kriegskunst und seinen Kriegsmaschinen, von römischen Legionen und von mazedonischer Phalanx war die Rede, und ich bekam die wertvollsten Aufschlüsse. Dazu wurde aus Kalkpfeifen ein Tabak geraucht, der, zu einem Drittel mit Kornblumen gemischt, so wohltätig für die Augen sein sollte, daß ich ordentlich fühlen konnte, wie die meinigen sich erquickten. Auch Kaffee, Bier und Milch gab's da, nebst Kuchen, Butterbrot und Honig und viel Bedauern, daß man nichts Besseres habe.
Die Magisterin Faber gehörte zu den barmherzigen Seelen, die nie glücklicher sind, als wenn sie sich für andere aufreiben können, und freute sich daher jedes Menschen, der in ihre Hände fiel, ihm zu dienen, ihn zu pflegen und zu füttern. Mir tat sie alles dreies in einem Grade, als wenn ich ein vornehmer Herr, ein alter hilfloser Magister und ein junger Vielfraß in einer Person gewesen wäre. Kaum wußte ich, wie ich mich meinerseits für alle diese Güte ausreichend demütigen sollte, und bin in meinem Leben nicht bescheidener gewesen als gegenüber dieser unbeschreiblich guten Frau.
Den Rückweg schlug ich gewöhnlich über Hermsdorf ein, um wenigstens im Vorbeireiten nach dem stattlichen dreigetürmten Schlosse hinzublicken, das so lockend über die Waldung seines Parkes hervorsah. Gern wäre ich dort bisweilen eingesprochen, wo Menschen und Sitten mich besonders anheimelten, aber gerade dahin ward ich niemals dirigiert. Sei es nun, daß Roller in dieser Zeit jugendlichen Umgang zu zerstreuend für mich fand, oder daß er besorgte, es werde mich das vornehme Haus vereiteln – kurz, ich betrat das Schloß nur dann, wenn ich ausnahmsweise mit meinem Pastor zu Tafel geladen war. Ich hätte daher die jungen Stolbergs außer den Unterrichtsstunden kaum gesehen, wenn nicht gewisse Gesellschaftsabende gewesen wären, die regelmäßig jeden Dienstag im Pfarrhause abgehalten wurden.
Auf diese Abende freute man sich die ganze Woche. Die Gäste bestanden aus der gräflichen Familie, dem Schulmeister, Kantor Eckhart mit seiner Frau und aus Fabers. Das Dohnasche Haus war ziemlich reich vertreten, da außer dem Grafen und der Gräfin nebst Herr Mann und Benzig auch noch zwei junge Komtessen Stolberg und ein paar alte Hausbeamte, nämlich der Sekretär des Grafen und eine Wirtschaftsdame, dazu gehörten.
Die letztere, Mamsell Gera, eine korpulente, hochbetagte Person mit grauem Haar und grauem Bärtchen, sollte einige Verdienste um das gräfliche Haus haben und ward deshalb sehr rücksichtsvoll behandelt. Als Tochter eines Organisten war sie in der Musik bewandert, spielte Flöte, Violine, Cello und mit Meisterschaft die Orgel. Letzteres Instrument hatte sie jedoch aufgegeben, da es ihr am verflossenen Erntefeste begegnet war, bei Gelegenheit eines heroischen Pedalläufers das Übergewicht zu verlieren und zum Entsetzen des Kantors rücklings von der Orgelbank zu schlagen. Teils wegen dieser Geschichte, die mir Roller einmal beim Nachtisch anvertraut hatte, und anderenteils wegen ihrer idiosynkratischen Scheu vor Katzen war mir die alte Dame merkwürdig. Wenn sie in Lausa erwartet wurde, fing man vor allen Dingen erst die Katzen ein und sperrte sie in Jonathans Zimmer, der ihrer treulich hütete. Dennoch geschah es, daß die stets Besorgte eines Abends nicht ins Zimmer wollte, versichernd, sie spüre Katzen und könne sich nicht täuschen. Alle Beteuerungen, die Katzen seien wie immer wohlverwahrt bei Jonathan, blieben fruchtlos, bis dieser arme Sünder endlich selbst erschien, ängstlich bekennend, daß der Kater ihm allerdings entsprungen sei, und zwar durchs Fenster, da er dieses geöffnet habe, um hinauszuspucken. Wirklich fand sich auch das Tierchen hinter dem Ofen, harmlos schlummernd.
Der alte Sekretär des Grafen, namens Zeidler, ein kleines, dürres Männchen von etlichen siebzig Jahren, ward seines Alters halber ebenfalls in Ehren gehalten. Daß er viel und langweilig von seiner adligen Abkunft sprach, übersah man schonend. Er hatte nämlich in des Grafen Bibliothek ein altes Adelslexikon entdeckt, in welchem unter anderen sächsischen Geschlechtern auch eins seines Namens mit Wappen, Emblemen und historischen Notizen verzeichnet war. Daß er dieser vornehmen Familie entstamme, darüber kam ihm gar kein Zweifel. Er ließ sich sofort das Wappen stechen und teilte jedermann im Vertrauen mit, daß eigentlich auch seine Wenigkeit von Adel sei. Gegen Bürgerliche pflegte er, gutmütig mit den Fingern schnalzend, hinzuzufügen: »Doch denke ich, als Adam drasch und Eva spann – wer war damals ein Edelmann?«
Der Kantor Eckhart endlich, ein hochgewachsener, wunderschöner Greis, mit ernstem Blick und silberweißem Haar, vom Grafen Dohna sehr bezeichnend »der getreue Eckhart« genannt, galt für einen in seinem Fache höchst ausgezeichneten Mann. Er hatte die größten Verdienste um die Ortsschule wie auch um viele andere Schulen des Königreichs, indem er eine ganze Anzahl junger Leute zum Lehrfach vorbereitet hatte, die seiner Zucht die größte Ehre machten. In Ansehung dessen hatte ihm denn auch das Konsistorium den Kantortitel verliehen, eine Auszeichnung, die zu jener Zeit für Dorfschulmeister selten vorkam. Ich hatte diesen Mann sehr lieb und stattete ihm bisweilen Besuche ab, um mir vom Siebenjährigen Kriege erzählen zu lassen, dessen Drangsale er zum Teil mit durchgemacht hatte.
Das waren, außer den schon bekannten, die hervorragenderen Mitglieder der Dienstagsgesellschaft, lauter gute Leute, die sich trotz mancherlei kleiner Schwächen sämtlich untereinander achteten und liebten. Nachdem am langen Wachstuchtische der Tee getrunken war, wurden wir jungen Leute, gewöhnlich unter Aufsicht einer Rollerschen Schwester oder jener alten Katzenfeindin, abgesondert, uns untereinander mit Bilderbesehen oder geselligem Spiel zu unterhalten. Das waren freundliche Stunden. Die beiden jungen Gräfinnen, Lenorchen und Karolinchen, die bei der Tante Dohna in Hermsdorf ihre ganze erste Jugendzeit verlebten, waren liebliche, harmlos heitere Mädchen von zwölf bis sechzehn Jahren, fromm und verständig und immer zum Lachen geneigt. Wenn die von Roller vorgeschriebenen vier bis fünf Bilderbibelbilder bis zum Überdruß durchstudiert waren, so machte es den jungen Damen besonderes Vergnügen, die alte Haushälterin zur Leerung ihrer Taschen zu bewegen, um sich immer wieder von neuem über die Fülle des Inhalts zu verwundern. Auch war es ganz erstaunlich, was da alles herauskam: Medikamente und Pflaster aller Arten, Verbandzeug, Tabaksdosen, Bestecke, Etuis mit den scharmantesten Utensilien, Bücher, Wachsstöcke, Feuerzeug, Lakritzenbonbons gegen Trockenheit im Munde, sogar einige einfache Nahrungsmittel für den Fall plötzlichen Heißhungers. Es nahm kein Ende, und mit Interesse besahen wir alle diese Gegenstände, uns den Gebrauch erklären lassend.
Durften wir unter den Großen bleiben, so hatten wir zwar meist zu schweigen, langweilten uns aber keineswegs, da Roller Rücksicht nahm auf alles, was ihn umgab, und seine Unterhaltung für jedermann verständlich war. Gewöhnlich ließ er irgendeine Kuriosität von Hand zu Hand gehen, ein seltenes Insekt, das er gefangen, eine römische Lampe, ein buntes Steinchen aus der Mosaik der Sophienkirche in Konstantinopel, eine Südseemuschel, eine Zeichnung, eine Jerichorose, immer Dinge, denen er den höchsten Wert beimaß, und denen er allgemein ansprechende Seiten abzugewinnen wußte. Überraschend schnell schlug dann die achte Stunde, da denn die teueren Gäste sämtlich den Pfarrhof wieder verließen, um bei sich zu Hause ihre Abendsuppe einzunehmen.
Unter die Vergnügungen, denen ich in Lausa ausgesetzt war, muß eine Beschäftigung gezählt werden, die an und für sich zwar nichts weniger als amüsant war, aber durch die Beteiligung Rollers, welcher auch die geistlosesten Arbeiten cum grano salis zu genießen wußte, dennoch einigermaßen erträglich wurde. Wir setzten uns nämlich, mein Pastor und ich, einander gegenüber an die Wachstuchtafel, ein gewisses schwarzes Pulver zu gleichen Gewichtsteilen in ebenfalls gleichgroße Papierhülsen füllend, und dabei pflegte Roller mit ganz besonderem Vergnügen sich selbst als Doktor, mich aber als Subjekt und Pharmazeuten zu verhöhnen und allerlei sonderbare wie auch sehr ärgerliche Erlebnisse zu erzählen, die auf die Sache Bezug hatten.
Von Jonathans Kränklichkeit ist schon die Rede gewesen; derselbe war ein äußerst gebrechlicher Mensch, der früherhin an bösen Krämpfen gelitten hatte, die für epileptisch galten. Ärztliche Behandlung wie kluger Freunde Rat waren lange Jahre hindurch erfolglos geblieben, als endlich ein fremder Handwerksbursche, der zufällig fechtend auf den Hof kam und Zeuge eines solchen Anfalles wurde, sich folgendermaßen vernehmen ließ. Jede Krankheit, sagte er, indem er einem Topf mit Zwiebelsuppe zusprach, den Charitas ihm spendete, sei ein Übermaß des Feuers in Blut und Nerven. Inzwischen habe jedes Feuer auch sein Wasser, das es lösche, wenn man's nur kenne. So gäbe es denn auch ein kleines Tierchen, welches das böse Wesen dämpfe und vertilge, und nicht ehrlich wolle er sein und zeitlebens keinen Speckkuchen mehr essen, wenn er nicht selbst dadurch geheilt worden sei. Auch sei besagtes Tierchen überall zu Hause und habe so viel Namen, daß es gar nicht zu verfehlen sei. Es heiße nämlich: Elster, Alster, Alkaster, Schalaster, Heister oder Hefter. In den heiligen zwölf Nächten, wo die Natur – denn es sei ein Naturmittel – ihre ganze Kraft beisammen habe, schieße man dies nützliche Vögelchen; danach werde dasselbe im Backofen verkohlt und pulverisiert. Von solchem Pulver müsse man täglich eine Messerspitze voll in Wasser nehmen, dabei ohne Wandel leben, nicht tanzen und sich nicht besaufen; so werde man die Krankheit bald vermissen.
Den Versuch zu machen, war Roller nichts weniger als abgeneigt. Zur angegebenen Zeit schoß er die erste Elster und behandelte den Bruder mit solchem Glück, daß jenes fürchterliche Leiden schon nach Monatsfrist gehoben schien und auch nicht wiederkehrte. Die Kur machte Aufsehen im Dorf; es meldeten sich andere Kranke und genasen gleichfalls. Zu meiner Zeit verkohlte Roller jährlich schon an hundert Schalaster, die ihm von allen Seiten, sogar vom Harz und aus Schlesien, durch Freunde eingeliefert wurden, und versandte die Pulver bis Hamburg, Königsberg und Wien. Diese ausgedehnte Praxis nahm ihm einen bedeutenden Teil seiner Zeit, denn fast täglich überliefen ihn die Pulverleute, wie er sie nannte, oder hatte er sein schwarzes Mittel brieflich zu versenden. Da er aber von der Wirksamkeit fest überzeugt war, so freute er sich, daß Gott ihm einen Weg eröffnet habe, sich für die Heilung seines Bruders dankbar zu erweisen, und wies beharrlich jede Gegenleistung ab. Er verlangte nichts von seinen Patienten als gewissenhaften Bericht, wie es bekommen sei, und da dieser häufig ausblieb, andererseits aber immer neue Versuche gemacht wurden, Geld und Geschenke anzubringen, so war auch recht viel Ärger bei der Sache.
»Daß diese Stadtleute verdammt wären mit ihrem Gelde!« sagte er dann wohl, »für alles wollen sie's entweder haben oder geben; aber daß sich einer dankbar erweisen und wie ein vernünftiger Mensch melden sollte, wie ihm was bekommen, dazu sind sie doch zu einfach in ihren Sperlingsköpfen. Wenn ich«, fuhr er fort, »dem dümmsten Kerl im Dorfe einen Scheffel Weizen zur Aussaat schenke mit der Bedingung, daß er mir hernachmals ansage, das wievielte Korn er geerntet habe, so kann ich einen körperlichen Eid drauf tun, daß er mir kein Geld anbietet; er nähme lieber noch etwas dazu. Aber zu seiner Zeit pocht es an meine Türe, und mein Mann stellt sich richtig dar und sagt: ›Mit Verlaub, Herr Pastor, das dritte Korn oder das siebente‹, oder, wenn er guten Dung hat und ein großmäuliger Kerl ist, so sind es wohl auch eine Mandel von jedem Korn gewesen. Nun: solche Klugheit kann man freilich von Städtern nicht erwarten, aber mit ihrem Gelde sollen mir diese Krämer doch vom Leibe bleiben!«
Dergleichen Reden hielt der uneigennützige Arzt nicht selten, und daß es jeder hören konnte, aber seinen Zweck erreichte er nicht, denn die Leute boten ihm immer wieder Geld an. So eine Dresdner Dame, deren Sohn er geheilt hatte. Diese schickte zwanzig Taler Gold mit der ergebenen Bitte, der Herr Pastor möge, wenn er das Gold für sich nicht nehmen wolle, einen beliebig wohltätigen Gebrauch davon machen.
»Daß dich!« sagte Roller in großer Entrüstung und expedierte die Summe sogleich zurück, begleitet von einem obligaten Handschreiben, welches seiner Meinung nach ausreichend deutlich war, um es auf immer mit jener undankbaren Frau zu verderben. Nichtsdestoweniger erschien am anderen Tage ein Fäßchen Wein, zwar ohne Angabe des Absenders, doch vermutlich aus derselben Quelle, und die Schwestern, welche häufig vornehme Gäste zu bewirten hatten, empfingen es mit ungeheuchelter Freude. Der Bruder aber erkannte den Feind auch in dieser Verkappung, und wenn ihn nicht die Würde seines Amtes hinderte, sagte er, so würde er das Weib in ihrem eigenen Wein ersäufen. Sofort ließ er das Fäßchen, trotz aller Fürbitte der Hausgenossen, auf die Treppe legen, den Kran daran und einen derben Henkelkrug daneben; allen Pulver- und Bauersleuten aber, die von ihm gingen, empfahl er, sich im Vorübergehen zu bedienen und sich dabei nicht etwa von der Bescheidenheit übermannen zu lassen. Im Umsehen war's so weit, daß auch der pfiffigste Küfer kein Tröpfchen mehr herausgezapft hätte, und das war die Strafe jener Dame.