Wilhelm von Kügelgen
Jugenderinnerungen eines alten Mannes
Wilhelm von Kügelgen

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5. Zuwachs.

Meine Kindheit fällt in eine der mörderischsten Geschichtsperioden. Während unsere kleine Familie auf der halben Gasse ein Friedensbild häuslichen Glücks darstellte, trank die weite Erde das Blut ihrer Kinder in Strömen, und entsetzliche Hekatomben wurden dem Ehrgeiz eines einzelnen hingeopfert, vor dessen Hauche alles Leben welkte wie das Gras vor dem Samum der Wüste. Das alte tausendjährige römische Reich war in Scherben zerfallen, Preußen mit den Mittelstaaten in den Staub getreten oder abhängig geworden, und nur Österreich fristete noch eine Art von kümmerlicher Selbständigkeit.Die Okkupation Dresdens durch die Österreicher und den ihnen verbündeten Herzog von Braunschweig mit seinen Schwarzen, während des französisch-österreichischen Krieges von 1809, dauerte vom 11. Juni bis 30. Juni, ward nach einem vorübergehenden Einzug König Jeromes von Westfalen im Juli nochmals erneuert, am 21. Juli definitiv beendet.

Meine Eltern litten schwer hierunter, allein wir Kinder empfanden es nicht. Wir saßen warm und wohlig im mütterlichen Nest, und ich erinnere mich, daß jener fürchterliche Krieg mir damals nur als Hindernis unserer Reise nach Rußland beklagenswert erschien. Für diese hatte jedoch der Tilsiter Friede endlich neue Aussicht eröffnet. Mein Vater mochte nicht länger Zeuge der Schmach des deutschen Landes bleiben: er nahm die alten Pläne wieder auf und wollte reisen, sobald es irgend tunlich.

Die Sache schien jetzt bitterer Ernst zu werden. Der Reisewagen ward von neuem nachgesehen und aufmerksam geprüft, mein Vater ließ seine Pistolen instand setzen, und ich putzte mit Kreide meine blecherne Trompete und den Messingknopf an meiner Peitsche, damit das alles späterhin keinen Aufenthalt verursache. Indessen blieb doch immer noch einiges zu bedenken. Die Arbeiten des Vaters, die erst vollendet sein wollten, zogen sich in die Länge; es wurde Winter und endlich schien es nötig, vor allen Dingen noch ein Ereignis abzuwarten, das von größerer Wichtigkeit als jene Reise war und mir für meine Person eine Bekanntschaft verschaffen sollte, die gleich mit Bruderliebe anfing und als herzliche Freundschaft noch heutigestags besteht.

Ich spielte eines schönen Morgens oben bei Engelhards mit meinem Freunde Ludwig und war eben im Begriff, ein sehr wohlgeborenes Exemplar von Seifenblase zu vollenden, als mein Vater eintrat und mich abrief. Ich konnte mich aber nicht wohl entschließen, die köstliche, sich immer noch steigernde Farbenpracht eines Werkes zu zerstören, das an meinem Atem hing, und bat daher durch Nasentöne und Zeichen mit der linken Hand um Aufschub, bis ich erfuhr, es sei soeben ein Schwesterchen vom Himmel angekommen, was ich begrüßen solle.

Da ließ ich die Seifenblase platzen und ging an der Hand des Vaters hinab zur Mutter, deren Bette ich mich leise mit verhaltenem Atem nahte. Sie strich mir die Haare aus der Stirn und zeigte mir das Angesicht der Schwester, die ich mit Ehrfurcht betrachtete, weil sie so frisch aus Gottes Hand hervorgegangen. Die weiß gewiß noch, dachte ich, wie es im Himmel bei der seligen Maria aussieht.

Danach ward auch mein Bruder hergeführt, die Novität in Augenschein zu nehmen; und da es Nacht ward, stieg vielleicht ein seliger Geist vom Himmel nieder, um bei der Begrüßung der Geschwister nicht zurückzustehen. Oder wäre jene liebliche Erscheinung etwa nur von der phantastischen Natur des oberwähnten Kalbes gewesen?

O nein! wir wollen die alte Geschichte von den Engeln, die bei der Wiege der Kinder sind, für keine Fabel halten. Zwar unser stumpfer und zerstreuter Blick vermag es in der Regel nicht, den Schleier zu durchbrechen, mit welchem die Beschränkung unserer Sinnlichkeit eine obere oder innere Natur verhüllt. Doch mag es immerhin Momente geben, wie deren auch die Heilige Schrift erwähnt, da sich das Dasein einer feineren jenseitigen Leibhaftigkeit dennoch offenbaren und auch an unserem groben Organ erscheinen kann wie ein Silberblick auf träger Schlacke.

Wem aber ausnahmsweise, wie meiner Mutter in jener Nacht, eine solche Wahrnehmung geworden, um dessen Seele ist gewiß ein heiliges Band geschlungen, welches gleich einem stetigen Verlangen das Herz nach der ewigen Heimat hinzieht. Hier wenigstens war dies der Fall, denn meine Mutter fragte fortan noch ernstlicher als vordem dem nach, was aller Menschen Seelen not tut, und fand vorerst durch Herder, auf dessen Schriften Schubert hingewiesen, einiges Verständnis für die unendliche Schönheit des geoffenbarten Gotteswortes. Die Schönheit aber lieben wir, und Liebe lernt leicht glauben. So dankten meine Mutter und durch sie wir alle dem teuren Herder großes Gut.

Die Reise nach dem Norden.

Die große Freude, nun auch ein Schwesterchen zu haben, hätte sich uns leicht in Leid verkehren mögen, denn die Mutter erkrankte sehr bedenklich und erholte sich nur langsam. Bei so bewandten Umständen erklärte unser Arzt und treuer Hausfreund, der Dr. Pönitz, die russische Reise vorderhand für unausführbar und verordnete statt dessen den Gebrauch der Radeberger Eisenquelle.

Nun traf es sich, daß meine Eltern in letztvergangener Zeit die Bekanntschaft einer Familie gemacht hatten, welche ein Abdruck der unserigen war. Der Senator Dr. W. Volkmann aus Leipzig (Sohn des bekannten Reisenden in Italien) war in Geschäften seiner Stadt für längere Zeit nach Dresden delegiert und hatte Frau und Kinder mitgebracht, zwei Knaben in meinem und meines Bruders Alter und ein Schwesterchen, das etwa mit dem unserigen zugleich geboren war. Die Mutter Volkmann, mit der meinigen gleich alt, hieß »Tugendreich«, und dieser Name war gut angeschlagen, da Frau Tugendreich nicht arm an allen besten Eigenschaften war. Der Vater Volkmann seinerseits war, wie der meinige, ein Zwilling, mit ihm in einem Jahr, in einem Monate und fast auf einen Tag geboren. Sie hatten auch in einem und demselben Jahr geheiratet, und ihre Hochzeitstage lagen sich so nah, daß sie sie miteinander feiern konnten. Zu solchen Ähnlichkeiten kamen endlich noch die wesentlicheren des Geschmackes und der Gesinnung, daher sich zwischen beiden Familien ein genußreicher Umgang gestalten konnte, der bald in treue und ausdauernde Freundschaft überging.

Da nun die Mutter Volkmann, in gleicher Lage wie die meinige, von ihrem Arzt zu gleicher Radeberger Brunnenkur verurteilt ward, so beschloß man, gemeinschaftliche Sache zu machen, und mietete sich nicht im Badeetablissement selbst, sondern im benachbarten Lotzdorf ein. Das gab doch wenigstens eine Reise von anderthalb Meilen, ein gut Stück Weges nach Norden hin, und da es nicht anders sein konnte, immerhin einen annehmbaren Ersatz für die aufgegebene größere.

Unser dottergelber Reisewagen ward nun hoch bepackt mit allem Nötigen, mit Koffern, Waschen und darüber hingeschnallten Bettsäcken; vier Pferde wurden vorgelegt, und die ungeheure Maschine setzte sich in Bewegung, in ihrem Innern die beiden Frauen mit ihren sechs Kindern, die Venus und ein Mädchen auf dem Bocke, der Postillion im Sattel, und die Väter blieben mit dem Versprechen zurück, uns zu besuchen, so oft sie könnten.

Wir Kinder waren selig wie die Götter und segneten den tiefen Sand der Heide, durch welchen der schwere, in seinen hohen Federn schwankende Wagen sich nur mühsam durcharbeitete, denn er verlängerte das außerordentliche Vergnügen des Reisens. Wir fanden uns in einer neuen Welt. Die nordische Landschaft des rechten Elbufers war uns noch fremd, und unsere Spannung steigerte sich, je tiefer wir in die Dunkelheit der Kiefernwälder eindrangen. Das war der rechte Ort für Außergewöhnliches. Was konnte man nicht alles erleben und zu sehen kriegen. Vielleicht wilde Schweine, und unter glücklichen Umständen – wer wollte wissen und ermessen, was noch sonst!

Es zeigte sich indessen gar nichts, die Erfahrung etwa abgerechnet, daß keine Rose ohne Dornen ist. Der jüngere Volkmann nämlich war nach und nach verstummt und nachdenklich geworden. Dann bekam er einen fatalen magenverderblichen Ausdruck, legte den Kopf in den Schoß der Mutter, und das übrige wird man sich denken. Es war entsetzlich! Das Schaukeln des Wagens hatte seine Kraft gebrochen, das Übel steckte an, man mußte halten, und der stumme Wald vernahm das Angstgestöhn der Menschenkinder. So war die kleine Reise ein rechtes Lebensbild: mit Übermut begonnen und mit Angst beendet; aber der Himmel folgte.

Das Dörfchen.

Das kleine Lotzdorf mochte an und für sich recht wenig Reize haben. Doch hierin urteilt jeder anders. Für Kinder hat nur das Nächste ein Interesse, sie leben vorzugsweise im Vordergrunde. Da unterhält sie jede Kleinigkeit, und die Ferne mag beschaffen sein, wie's Gott gefällt. In Lotzdorf gab's gar keine Ferne: alles, was die Gegend darbot, lag nah und war zu greifen. Ich hatte ein Verständnis für diese einfache Natur und denke noch heute mit wehmütiger Lust des flachen Baches mit seinem Kieselgrunde, der kleinen Waldschlucht, in die er sich geheimnisvoll verlief, des hohen Feldrains mit seinen Brombeersträuchen und der warmen Hänge, an denen wir mit unseren Müttern lagerten. Diese hatten sich am äußersten Ende des Dorfes in benachbarten Häusern eingerichtet. Bei Leineweber Ulbrichs hausten Volkmanns, wir bei Maurer Großmanns, achtungswerten und vermöglichen Leuten, die mit ihrem einzigen Töchterchen, namens Lore, ihr Haus nicht füllten und ein paar Zimmer missen konnten. Meine Mutter bewohnte bei ihnen eine große bäuerliche Stube mit frisch gekalkten Wänden, an welchen eine lange weißgescheuerte Holzbank rings herumlief. Dielen, Tische, Stühle glänzten von Sauberkeit, und durch die niedrigen, von Blumen und Weinlaub dicht umrankten Fenster stahl sich das Sonnenlicht, zu mancherlei Farben gebrochen. Der Raum aber hinter dem Ofen war doch das schönste; wie in allen sächsischen Bauernstuben, fand er sich durch ein etwa drei Fuß hohes Podium ausgefüllt, welches »die Hölle« genannt wurde und zum Schmoren des Hausvaters am Feierabend bestimmt war. Diese Hölle ward mir zu meiner Einrichtung überlassen und fand sich an Regentagen wie geboren zur Fabrikation von kleinen Ringen und Ketten aus Pferdehaar, die Lore mich flechten lehrte.

Bei schönem Wetter dagegen kümmerte man sich nicht um Pferdehaare; wir trieben uns dann mit Volkmanns und hinzugesellten Bauernkindern, mit oder ohne Aufsicht, fast den ganzen Tag im Freien umher, und meine sonst so ängstliche Mutter ließ hier geschehen, was ihre Freundin guthieß, erwägend, daß die unschuldige Dorfjugend mit der verderbten Brut der Städte nicht zu vergleichen sei. Auch muß ich meinen ländlichen Freunden aus jener Zeit das Zeugnis geben, daß ich gewiß von ihnen nichts Schlimmeres gelernt habe, als sie von mir. Denn daß sie etwa die kleinen glatten Schmerlen, die sie mit den Händen haschten, sowie auch die sogenannten Butterkrebse, ja alle Krebse, die sie fingen, roh und lebendig verzehrten, war gewißlich keine sittliche, vielleicht nicht einmal eine Geschmacksverirrung. Sie lehrten auch uns diese Wasserjagd und lachten uns aus, daß wir unsern Fang erst durch den Umweg des Kochtopfes in den Magen brächten, wodurch die beste Kraft verloren ginge. Wenn sie endlich etwas abergläubisch waren, so teilten sie dieses Laster wenigstens mit Julius Cäsar, Wallenstein, Napoleon und anderen großen Herren, die doch zweifelsohne zur besten Gesellschaft gerechnet wurden.

So lag z. B. unfern des Großmannschen Hauses auf einer sandigen, mit Gras bewachsenen Anhöhe eine morsche Hütte, bewohnt von einem alten Ehepaar, mit Namen Burkhard. Diese Leute, vielleicht durch eigene Schuld heruntergekommen, gehörten zu den Parias im Dorfe. Niemand verkehrte mit ihnen, und wegen ihrer mürrischen Gemütsart waren sie der Schreck der Kinder, die sich die sinnlosesten Geschichten von ihrer Grausamkeit erzählten. Auch sahen sie beide wie Krautteufel aus, zur Zeit der Reife in Erbsenfeldern aufgestellt, daher wir ihnen bei zufälligen Begegnungen schon in angemessener Ferne auszuweichen pflegten. Von der Frau wurde halblaut erzählt, daß sie eine alte Hexe sei – worunter wir uns nichts anderes dachten als etwas ganz Entsetzliches – und daß sie nachts, bisweilen splitternackt, auf Nachbarsäckern Unfug treibe. Was eigentlich? das wußte keiner. Das aber wußten die Kinder, daß niemand anders als sie das große Irrlicht gewesen sei, durch das verlockt die Radeberger Botenfrau vergangenen Herbst den Hals gebrochen. Der Mann aber – sagten sie – würde auch wohl wissen, wie es zugehe, daß er ohne Arbeit ein Wohlleben sichern könne. Auf letzteres wurde großes Gewicht gelegt, und ich fand es auch recht übel. Wenn man freilich – so wurde behauptet – eine gewisse Kröte von der Größe eines ledernen Tabaksbeutels, die tief unter dem Hause niste, beseitigen könne, so würden die Leute ihre Kraft verlieren.

Nun weiß ich nicht, ob wir wirklich die Absicht hatten, jene verderbliche Kröte auszugraben, oder was uns sonst bewog – kurz, wir begaben uns mit unseren kleinen Schaufeln frisch ans Werk; die Bauernkinder halfen, und nach mehrtägiger Arbeit hatten wir einen Stollen in jenen Hügel eingetrieben, der groß genug war, uns alle aufzunehmen. Unterdes hatte aber auch der alte Burkhard bemerkt, daß er unterminiert wurde, und seine Vorkehrung getroffen.

Wir, nichts Schlimmes ahnend, hockten in unserer Höhle und sangen ein Liedchen, das unter den Dorfkindern sehr im Schwange war. Noch entsinne ich mich der anziehenden Stelle: »Schöne Dame Kummeran, laß mich sehen deinen Schein.« – »Kummeran« war übrigens kein Name, sondern nur eine Korruption von: Komm herein! – Da plötzlich, als wir so recht con amore sangen, da erschien vor dem Eingange der Höhle der alte Burkhard wie ein schwarzer Höllengeist und machte sich mit seiner Hacke unverweilt daran, den Eingang zu verschütten.

So mochte es dem Häuflein des Ulysses zu Sinn gewesen sein, als Polyphem sich zeigte. Wir waren wie vom Blitz getroffen und hatten keinen Laut mehr in der Kehle, denn es schien uns nur die Wahl zu bleiben, entweder lebendig begraben zu werden oder jenem Mörder unter die Hacke zu laufen. Endlich löste sich der Krampf, und die Höllenangst brach in Geschrei aus.

Da hielt der alte Burkhard inne. »Ja so,« sagte er, »seid ihr da drinnen, ihr gottverdammte Höllenbrut? Nun wart', ich will euch!«

In der Tat mag dieser Auftritt dem armen Manne, der es wohl nicht so ernstlich meinte, eine süße Genugtuung für die Nichtachtung gewesen sein, die er von seiten der Jugend erfuhr. Auch tat er uns weiter nichts zuleide, sondern begnügte sich damit, für angebliche Schändung seines Grundstückes von unsern Müttern einige Groschen zu erpressen.

Diese Mütter waren übrigens durch den Gebrauch des Bades und den wohltätigen Einfluß der Landluft zusehends erstarkt und sehr bald imstande, den größten Teil des Tages mit uns und unseren Freunden im Freien zuzubringen. Unter ihrer Führung sammelten wir im nahen Holze große Quantitäten wilder Beeren, die mit einem Aufguß von frischer Milch zum Abendbrot verschmaust wurden. Wir lagerten dann im Grase um einen mächtigen Holztrog und löffelten mit den Bauernkindern unsere kalte Schale ohne Ekel. Dann faßten wir uns alle bei den Händen, drehten uns tanzend in großen Kreisen oder durchzogen in langen Schlangenlinien singend das Dorf, während die alten Bauern mit ihren Tabakspfeifen schmunzelnd vor den Türen saßen.

Kamen aber erst die Väter von Dresden heraus, und brachten sie Wohl noch Freunde mit, wie z. B. den Landschaftsmaler FriedrichKaspar David Friedrich aus Greifswald. (1774-1840.) und den allgemeinen Liebling Kraft, einen jungen Estländer, der sich unter meines Vaters Leitung ebenfalls zum Maler bildete, so gab es großartigere Lustbarkeiten, als z. B. Kegelschieben auf der Gänseweide oder Vogelschießen mit trefflichen Schnappern, die Volkmann lieferte. Dazu ward stets auch die Dorfjugend eingeladen, und die gewonnenen Preise, als Taschenmesser, Brummeisen, Sonnenringe und dergleichen, beglückten dergestalt, daß mancher vor Freuden verstummte und sich wegschlich, um des Besitzes sicher zu werden.

Eines schönen Nachmittags schlug Friedrich uns Kindern ein ganz besonderes Vergnügen vor, nämlich mitten im Wasser einen Turm zu errichten. Mit Begeisterung schleppten wir, den flachen Bach durchwatend, die Bausteine herbei, und Friedrich, in einer Art von Fischeraufzug wie ein hochbeiniger Reiher in der Flut stehend, ordnete sie zur Pyramide oder Säule, die bald mannshoch aus dem Wasser aufstieg. Die übrige Gesellschaft war hinzugekommen und schaute, am Ufer gelagert, dem Jubel zu; und hier gedenke ich einer merkwürdigen, unserem Hause schon seit längerer Zeit befreundeten Gestalt, die mir bei dieser Gelegenheit zuerst in die Erinnerung tritt.

Henriette Courtan, in jüngeren Jahren mit der uns ebenfalls befreundeten Familie des Buchhändlers Hartknoch von Königsberg in Dresden eingewandert, lebte hier selbständig von den Zinsen eines kleinen Vermögens und in sehr ausgedehnten Freundeskreisen, in denen sie sich mit Eifer einer großen Humanitätstätigkeit hingab. Wo Hilfe not tat, Unterstützung, Pflege, Fürsprache, Rat und Tat, da war die Courtan bei der Hand mit eigenen oder fremden Mitteln, über welche letztere sie mit seltener Virtuosität zu disponieren wußte.

In der Tat brauchten auch Betrübte sie nur anzusehen, um sich augenblicklich aufzuheitern, denn sie strahlte wie die liebe Sonne in gelb- und feuerroten Farben und verdeutlichte sich noch mehr durch höchst phantastische Gewinde von schleierartigen Bandagen um Kopf und Schultern. Da sie nun übrigens ganz verständig und nichts weniger als hübsch war, so blieb es unbegreiflich, was sie zu einem so herausfordernden Kostüm bewegen konnte, an dem die Damen alles auszusetzen, die Herren aber beständig Veranlassung fanden, sich mit ihr herumzunecken. Wir Kinder nannten sie ihrer schwarzen Haare wegen die »schwarze Tante«. So hieß sie auch bald allgemein, und es hat lange gedauert, bis ich entdeckte, daß sie auch noch einen anderen Namen hatte.

Heute nun war die schwarze Tante mit den Dresdner Freunden zu uns herausgepilgert, lagerte mit den übrigen am Ufer und schaute mit steigendem Interesse dem babylonischen Turmbau zu. Das Rufen Friedrichs, das Geschrei der Knaben, der Jubel im Wasser ward immer berauschender, und lockend plätscherte die kühle Welle über die bunten Kieselsteine des Baches. Das alles mochte sie gezogen und bewogen haben, kurz, auf einmal war die Tante barfuß, und ehe man sich's versah, ständerte auch sie hochgeschürzt und glückselig wie eine Bachstelze in der Flut umher.

Nun wollten zwar die Frauen schelten, aber sie störte sich nicht daran, weil sie es natürlich finden mochte, daß Fröhliche natürlich würden. Ist aber einer nur erst recht natürlich, so kann man gar nicht wissen, wo es enden wird. Die schwarze Tante war auf den glatten Steinen nicht recht sicher und geriet in immer tieferes Wasser.

Da sprang Friedrich zu, unbarmherzige Wassergüsse um sich sprühend. Er wollte die Nymphe haschen, um sie auf seinen Turm zu setzen, zu ihrer eigenen Sicherheit, wie er behauptete. Sie schrie vernehmlich, suchte zu entrinnen, glitschte, fiel und wurde triefend ans Land gefischt. – Die Frauen enteilten mit der eingeweichten Freundin.

Damit war indes die Freude nicht zu Ende, kam vielmehr nun erst recht zum Ausbruch. Man wollte nämlich weder der Zeit noch bösen Buben die Ehre gönnen, Friedrichs Kunstwerk wieder zu zerstören, dies vielmehr selbst besorgen; und alles stieg ins Wasser. Volkmann zwar, als obrigkeitliche Person und Ratsherr, vergab dem Dekorum nicht so leicht etwas; heute aber zog er dennoch mit den übrigen Rock und Stiefel aus, sprang in den Bach und raffte Steine aus der Tiefe. Es begann nun eine treffliche Kanonade und ein unsägliches Vergnügen, denn im Zerstören ist große schöpferische Lust für jedermann. Die Geschosse, aus starker Faust entsendet, prallten von allen Seiten gegen das Denkmal, mit abgerissenen Trümmern zurück ins Wasser stürzend. Dies sprühte, mannigfach zerklüftet, um den dunkeln Bau, Staubregen und Kaskaden bildend, in welchen der Strahl der Abendsonne zitterte, bis die Zerstörung vollendet war und ein ländliches Mahl vor Volkmanns Türe die Festlichkeit beschloß.

So lebten wir in Lotzdorf ganz zufrieden und ohne sonderliche Gravität und Gene, nicht nur wir Kleinen, sondern auch die Großen, die sich dadurch von wirklich Großen unterschieden, bis endlich alle mit Bedauern aus dem kleinen Dörfchen schieden.

Der Geburtstag.

Wir waren sämtlich nach der Stadt zurückgekehrt, gekräftigt und gebräunt, und meine Mutter fand sich so gebessert, daß sie sich einem unbequemen Werke, das ihrer wartete, gefahrlos unterziehen konnte. Die kleine Schwester nämlich schien mehr Platz zu brauchen als wir andern alle; unsere Wohnung war wenigstens zu eng geworden und man hatte sich nach einer anderen umsehen müssen, was übrigens mit um so leichterem Herzen geschehen konnte, als unsere bisherigen lieben Hausgenossen schon früher ausgeflogen waren. Schuberts waren abgereist, Engelhards umgezogen und Lais seiner Kränklichkeit erlegen. Ich hatte daher beim Abschied nur Fritz Pezold zu umarmen, der mich jedoch des Sonntags noch ab und zu besuchte.

So bezogen wir denn im Spätsommer des Jahres 1808 die zweite Etage des Brelingschen Hauses an der Neustädter Allee, der schönsten und freundlichsten Straße Dresdens. Dies Haus, vor etwa hundert Jahren vom Grafen Zinzendorf erbaut, trug mit großen goldenen Buchstaben die an dem ganzen Sims hinlaufende Inschrift: »An Gottes Segen ist alles gelegen« und wurde kurzweg »der Gottessegen« genannt, den wir auch sämtlich drin gefunden haben.

Wir Kinder waren mit dem Wechsel sehr zufrieden, wir durchrannten mit Geschrei die neuen Räume, und da das Gebäude sich im Viereck um den Hof zusammenschloß, war es ein Staatsvergnügen, so immer zuzulaufen und doch unfehlbar wieder am Ausgangspunkte anzulangen, wie Weltumsegler. Auch bot die schöne Promenade vor den Fenstern willkommenen Raum zum Spielen sowie der wüste, mit Wegerich bewachsene kleine Garten, in dem wir wühlen und machen konnten, was wir wollten. Nicht sehr entfernt am Wiesentore wohnten Volkmanns, und Eltern und Kinder verkehrten täglich miteinander, je mehr und mehr zu einer einzigen Familie verwachsend.

Das alles war nicht übel; in anderer Art aber hätte ich mich beklagen können, wenn ich den Verstand dazu gehabt hätte. Die regelmäßigen Beschäftigungen nämlich, zu denen ich früher angehalten worden, hatten wegen Krankheit der Mutter schon im Döpmannschen Hause eine Unterbrechung erlitten. Vielfache Zerstreuungen waren nachher hinzugekommen, der Badeaufenthalt, neue Bekanntschaften, endlich der Umzug. Da nun die treue Mutter ihren Unterricht wieder beginnen wollte, zeigte es sich, daß ich alles vergessen hatte und überhaupt nicht mehr der alte war. Wieder von vorne anzufangen, machte Unlust, man plagte sich von beiden Seiten, ich lernte nichts, und als die Mutter obendrein von neuem erkrankte, kam ich aus Rand und Band, nahm zu an Torheit und Ungunst bei den Menschen, ganz besonders bei Frau Venus.

Diese arme Kinderfrau mochte damals bittere Tage haben. Die Mutter meist bettlägerig, der Vater von seiner Arbeit absorbiert, sollte sie allein nicht nur die Schwester warten, sondern auch auf mich und meinen kleinen Bruder achten, der ebenfalls den Sündenpfad der Ungezogenheit zu betreten anfing. In der Tat mochte es allein schon eine Aufgabe sein, nur das mit einem Saugschwamm versehene Milchfläschchen zu hüten, aus dem die Schwester genährt ward, denn die gute Frau brauchte eben nur den Rücken zu wenden, so waren wir wie die Kälber drüber her und sogen's aus. Schalt sie, so lachten wir und dachten auf neuen Unfug, versteckten ihre Sachen, brannten Papier und Haare an und prüften ihre Geduld auf jede Weise. Kurz, der alte Adam entfaltete sich dermaßen, daß es mir selbst bisweilen leid tat, doch konnte ich's nicht wohl ändern. Solcher Leichtsinn ward durch einen Trauerfall gedämpft, der mir zu Herzen ging. Ein Schüler meines Vaters nämlich, der schon genannte Kraft, den ich sehr liebte, war schwer erkrankt. Mein Vater, meine Mutter und alle Freunde taten alles was sie konnten, ihn zu erhalten; doch starb er schon nach einigen Tagen, und zwar infolge eines Wäschewechsels, den er in einem unbewachten Augenblicke gegen das Gebot des Arztes unternommen hatte. Er wurde in unserem Hause betrauert wie ein Sohn und Bruder.

Einige Tage nach dieser Katastrophe fiel mein Geburtstag. Als ich des Morgens früh erwachte, war mein erster Gedanke an Kraft, der heute begraben werden sollte. Dann bemerkte ich Licht im Zimmer, und wie die Mutter, leise herumwirtschaftend, bereits das Bett verlassen hatte. Nun fiel mir auch der Geburtstag ein, und der Gedanke, daß die mütterliche Liebe für mich ungezogenen Jungen schon so früh bemüht sei, rührte mich nicht wenig. Ich lag mit dem Gesicht gegen die Wand, um aber der geliebten Mutter die Freude der Überraschung nicht zu verderben, kniff ich die Augen noch obendrein gewaltsam zu und hütete mich, mein Wachsein zu verraten.

Endlich rief die Mutter, ich solle aufstehen, es wäre sieben, – und von den verschiedenartigsten Gefühlen bewegt, wandte ich mich herum. Aber in der Erwartung geburtstaglichen Glanzes war ich freilich sehr überrascht, nichts als ein heruntergebranntes Talglicht zu finden, bei dem die Mutter sich angekleidet hatte. Vom Geburtstage schien gar keine Rede sein zu sollen. Ich tröstete mich indessen mit der Wahrscheinlichkeit, daß bei einem alten Knaben von sechs Jahren, wie ich nun einer war, die bisherige Bettbescherung unstatthaft geworden und ich am Frühstückstische beschenkt werden würde wie der Vater. Als ich indes auch dort nichts fand und die Mutter mir statt der Geburtstagsschokolade gleichgültige Milch vorsetzte, mußte ich mir Gewalt antun, um meinen Schreck nicht zu verraten. Es war ein kummervolles Beieinander; keiner sprach etwas, und genossen wurde wenig.

Endlich ließ die Mutter sich vernehmen: »Du armer Junge! Du hast heute einen traurigen Geburtstag!«

Ach ja wohl! das war es eben. Meine Mutter hatte dem Faß den Boden ausgestoßen, und das Salzwasser schoß mir aus den Augen. Jene fuhr fort, erzählte mir von Kraft, wie er diesen Morgen begraben werde, und wie das keine Stunde sei für Lust und Festlichkeit. Übrigens würde ich es ja wohl selbst am besten wissen, ob mein Betragen seit Lotzdorf so gewesen, daß man Freude an mir gehabt und wünschen könne, mir welche zu machen; sie hoffe aber, ich würde von nun an Sorge tragen, mich zu bessern; dann würden auch die Geburtstage wieder besser werden.

Die Mutter sprach sehr ernsthaft und ausführlich, und ich armer Schächer fühlte mein Unrecht äußerst lebhaft, so daß es mir unnatürlich vorgekommen wäre, noch obendrein beschenkt zu werden. Ich faßte aber die trefflichsten Vorsätze, und wenn diese auch mannigfach zu meiner Beschämung ausliefen, so mag doch Hinfallen und Wiederaufstehen uns armen Menschenkindern dienlicher sein als Aufstehen und nicht wieder Hinfallen.

Unterdessen stieg allgemach der Tag auf über die Dächer der gegenüberliegenden Häuser, die Lichter auf dem Frühstückstische verloren ihren Schein, und von der stillen Straße herauf dröhnte das dumpfe Rollen eines sich schwerfällig fortbewegenden Fuhrwerks. Wir traten ans Fenster und sahen eine lange Reihe dunkler Gestalten, den Vater an der Spitze, hinter dem Sarge des Freundes vorüberziehen. Meine Mutter trocknete sich die Augen, und auch ich weinte, denn ich hatte ihn sehr lieb gehabt.

Als am Abend desselben Tages Volkmanns mit noch anderen Freunden kamen und meine Mutter den Tee bereitete, schickte sie mich ins Nebenzimmer nach der vergessenen Zuckerdose. Ich nahm ein Licht und öffnete die Türe. Aber – wie soll ich das Außerordentliche einer Überraschung schildern? Ich stand wie geblendet von der Herrlichkeit der Lichter, der Blumen und Geschenke, die auf weißgedeckter Tafel vor mir ausgebreitet waren. Ich mußte nach Luft schnappen, dann warf ich mich der Mutter in die Arme.

Die gleichfalls überraschte Gesellschaft drängte nun heran, man bewunderte, man freute sich mit mir, untersuchte die einzelnen Gegenstände und amüsierte sich ein Weilchen, ihren Gebrauch zu prüfen – als auf einmal die Stimme meines Bruders laut ward. Er hatte die ganze Zeit über, die Fäuste in den dicken Backen und die Ellbogen auf den Tisch gestemmt, vor dem Kuchen gestanden und seine Blicke in dem Zuckergusse wurzeln lassen, bis er nun endlich in die akzentuierten Worte ausbrach: »Geht denn das Essen noch nicht los?«

Das war allen aus der Seele gesprochen; der Kuchen wurde abgeschlachtet, und uneingedenk der Eindrücke des Morgens, schmauste ich behaglich mit den anderen und wußte nicht, welch ein Komplott die Großen unterdes an ihrem Teetisch machten. Sie waren nämlich übereingekommen, einen Informator anzunehmen, der bei uns wohnen, die kleinen Volkmänner aber mit unterrichten und uns Kinder allesamt in Zucht halten sollte. Den rechten Mann zu solchem Werke glaubte Vater Volkmann in einem jungen Theologen, namens Senff in Leipzig, bereits zu kennen und eröffnete mit ihm sofort die nötige Unterhandlung. Gleich nach Ostern sollte der neue Lehrer bei uns eintreffen, und wir Kinder sahen ihm als etwas Neuem gern entgegen, nicht ahnend, daß dieser Senff auch seine Schärfe haben könne.


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