Wilhelm von Kügelgen
Jugenderinnerungen eines alten Mannes
Wilhelm von Kügelgen

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7. Noch ein Blick auf Lausa.

Mein Bruder war unterdes auf jener Altersstufe angelangt, wo man in evangelischen Ländern sein öffentliches kirchliches Bekenntnis abzulegen pflegt, und daß dies nach meinem Vorgange ebenfalls in Lausa geschehen möchte, wünschte die Mutter. Der Vater hatte nichts dagegen. Er hatte sich, wie schon gesagt, des Rechts begeben, über die Konfession seiner Kinder zu verfügen, und unter allen evangelischen Geistlichen seiner Bekanntschaft sei ihm Roller immerhin der liebste. Schwer mochte es ihm schon werden, der lutherischen Kirche, die in seinen Augen die Unkirche war, nun auch den andern Sohn zu übergeben, und allerdings hatte er vorher noch den Versuch gemacht, denselben in traulicher Besprechung zum freiwilligen Übertritte zu bewegen; doch war der Junge fest geblieben. So war er denn nun nach Lausa abgefertigt, um gleich mir mit Bauernkindern und – weil sich denn doch einmal alles in der Welt wiederholt – ebenfalls in Gemeinschaft mit einem jungen Reichsgrafen, dem jüngern Bruder Herrn Manns und Benzigs, unterrichtet und eingesegnet zu werden. Seinem Spitznamen entging auch er nicht; Roller nannte ihn Tappe. Wie der Graf, dessen Taufzeugnis auf den Namen Botho lautete, genannt ward, ist mir entfallen.

Nach meiner Kenntnis der Zustände in Lausa war es mir nicht unwahrscheinlich, daß mein Bruder sich dort schlecht gefallen würde. Sobald ich Zeit fand, machte ich mich daher auf den Weg, ihm zwischendurch einmal mein tröstliches Gesicht zu zeigen, und langte eines schönen Wintertages gegen Mittag auf der Pfarre an. Ich hatte erwartet, Pastor und Katechumenen auf dem Hofe anzutreffen, Schnee schippend oder Gräben ziehend; doch fand ich niemand. Es mußten wichtige Abhaltungen sein, welche die ländliche Arbeit zur gewohnten Stunde ruhen ließen.

Ich trat ins Haus und öffnete die Unterstube. Da stand wenigstens der Pastor inmitten seiner Geschwister, und zwar als Maurer. Er war in Hemdsärmeln, hatte einen ansehnlichen Lederschurz um den Leib und einen Anstreichepinsel in der Hand. Als er mich gewahrte, schritt er fröhlich grüßend auf mich zu, und mich bei den Schultern packend, drehte er mich mit dem Gesicht gegen den Ofen und rief triumphierend: »Nunc judica, mi fili!«

Ich sah, daß der sonst hellgraue Backsteinofen, eines jener Ungeheuer, wie sie in sächsischen Bauernstuben üblich sind, von oben bis unten scharlachrot angestrichen, an der Fronte aber mit einem lebensgroßen und flügelgespreizten weißen Adler frisch bemalt war. Vom feinsten Geschmacke schien mir die Sache nicht.

»Haben Sie das selbst gemacht, Herr Pastor?«

»Ecce signa!« sagte er, indem er auf die Farbenklexe an Schurz und Ärmeln wies. »Ich habe es getan, um meinen Schwestern eine Freude zu machen. Nun aber sprich deinen Spruch, du Künstler, ganz unverhohlen und ohne Ansehen der Person!«

Rollers Malereien zu beurteilen, waren schlimme Kommissionen. Wie alle Dilettanten, war er vom eigenen Gelingen stets etwas überrascht und erwartete daher nichts weniger als Tadel; doch durfte das Lob auch nicht gedankenlos, nicht unbestimmt, am wenigsten zu rasch sein. Man mußte jedes Kunstwerk erst eine Zeitlang auf sich wirken lassen, ehe man sein Urteil abgab; eine Bescheidenheit, die er selbst, sogar jedem Jahrmarktsbilderbogen gegenüber, übte, und die er von andern auch für sich verlangte.

Zu Hilfe kam mir die Erwägung, daß Roller Ornitholog sei. Ich konnte mich darauf verlassen, daß wenigstens kein naturhistorisches Merkmal eines Adlers fehlen würde, und nachdem ich mir den Vogel ein wenig angesehen, glaubte ich mich dahin äußern zu dürfen, daß es ein Adler sei, von der Klaue bis zur Schnabelspitze.

»Eine Fledermaus hat's auch nicht werden sollen,« stieß Roller jetzt heraus; »aber ich danke dir, mein Sohn, daß du mich vor meinen Schwestern nicht hast zuschanden machen wollen!«

Damit zog er lachend ab, um sich vor Tische noch zu säubern, und ich, zufrieden, mit so geringem Hohn davongekommen zu sein, gewann jetzt Raum, mich nach meinem Bruder zu erkundigen.

Der sitze für gewöhnlich in seiner Grotte, sagte der Hausknecht Jonathan, und kaue am Katechismus. Diese sogenannte Grotte, die man aus den Fenstern sehen konnte, war eigentlich nichts anderes als ein recht respektabler Schneeberg, den die beiden Katechismusschützen im Garten aus zusammengewälzten Lawinen aufgehäuft und ausgehöhlt hatten. Ich solle nur draußen rufen, rief Jonathan, dann kämen sie heraus; der Eingang sei etwas beschwerlich.

Ich ging hinaus und fand die Schlußbemerkung Jonathans bestätigt; aber die Lust, den Bruder zu überraschen, ließ mich alle Beschwerden überwinden. Mittelst eines niedrigen, krummgelegten Ganges, den ich auf dem Bauch, wie ein Reptil, durchkroch, gelangte ich in den inneren Raum, welcher überraschend wohnlich, durch transparentes Licht magisch erleuchtet und so warm wie ein Ziegenstall war.

»Wer da?« rief es mir entgegen, als mein Kopf erschien, und mit »Hurra!« zog ich Leib und Beine nach. Da saßen freudestrahlend auf einem selbstgezimmerten Bänkchen mein Bruder und sein Genosse; aber weit entfernt, den Katechismus zu studieren, war wenigstens Tappe damit beschäftigt, ein Wasserrädchen nebst dazu gehörigem Drehmännlein aus Tannenholz zu schnitzen. Die Sache war übrigens Geheimnis und wurde deshalb an unzugänglichen Orten betrieben. Als aber später das Eis aufging, stellte mein Bruder sein wohlgelungenes Werk an einem kleinen Wasserriesel des Gartens auf und überraschte damit den Pastor, der sich an der rastlosen Tätigkeit des lächerlichen Männchen so ergötzte, daß er das Ding bis an sein Ende treu bewahrt hat. Im Museum pflegte er's zu überwintern, zum Frühjahr aber wurde es, stets neu gebessert, wieder an seinen Platz gestellt und allen Besuchern vorgewiesen.

Wenn ich mir übrigens den Bruder trostbedürftig gedacht, so war ich damit im Irrtum gewesen: er fühlte sich vielmehr in seiner neuen Umgebung ganz behaglich. Freilich war er auch weniger vereinsamt als ich zu meiner Zeit, da sein Gräflein nicht wie die meinigen bei den Hermsdorfer Verwandten, sondern gemeinschaftlich mit ihm beim Pastor wohnte. Da teilten sie die ganze Last des Lebens miteinander, wie auch die oktroyierten Vergnügungen des gestrengen Mentors, mit denen sie jedoch weniger als ich behelligt wurden, weil jener weniger Verpflichtung fühlen mochte, sie zu unterhalten. Dazu das liebenswürdige Naturell des jungen Grafen und der durch denselben vermittelte häufigere Verkehr mit Hermsdorf: es mochte ein genußreiches Zusammengehen für beide sein, das abzukürzen sie kein Verlangen trugen.

Inzwischen kürzt sich gute und böse Zeit von selbst; die Osterwoche war herangekommen mit ihrem Palmensonntag. Meine Mutter war bettlägerig und konnte deshalb der Einsegnung nicht beiwohnen; statt ihrer aber fuhr der Vater mit mir heraus, und gewißlich nicht mit allzu leichtem Herzen. Er war einsilbig und still und mochte trauern über seine kirchliche Verlassenheit in der Familie. Ohne auf der Pfarre einzusprechen, gingen wir geradeswegs in die festlich geschmückte Kirche, in welcher die Gemeinde bereits versammelt war. Kopf an Kopf saßen sie da, die Weiber in ihren goldbetreßten Bärenmützen und faltenreichen Röcken, die Männer mit runden Kämmen im langen Haar und talergroßen Knöpfen an den breitschößigen Fracks, dem Eintritte der Kinder harrend.

Da schlugen die Glocken an, die Orgel intonierte, und, ihren Hirten an der Spitze, zog die Katechumenenherde paarweise mit gefalteten Händen ein, vorweg Graf Botho Stolberg und der gute Tappe mit den roten Backen, dessen Anblick mich heute einmal wieder lebhaft rührte. Als die Prozession am Altare angelangt war, ging alles weiter seinen Gang in hergebrachter Ordnung, Wechselgesang der Gemeinde und der Kinder, Examen, Einsegnung und Schlußgesang.

Ob mein Vater außer in Herrnhut, wo ihn der Mangel jeglicher Symbolik befremdete, und in Hummelshain, wo jegliches Bekenntnis fehlte, sonst noch anderen lutherischen Gottesdiensten beigewohnt, kann ich nicht sagen; hier aber wurden seine Erwartungen weit übertroffen. Die Physiognomie der Lausaer Kirche mit geschmücktem Altar, Kruzifix und Leuchtern, vor allem aber mit ihrer noch von keiner Neuerung berührten althergebrachten Agende, war noch katholisch genug, oder mit andern Worten, noch echt kirchlich, und kirchlicher noch als in katholischen Kirchen war jedenfalls die andächtigere Haltung der Gemeinde, der volle Choralgesang und der Gebrauch der Muttersprache. Dazu ein Priester, wie mein guter Vater ihn nicht erwartet hatte, da er Roller bis dahin nur in Haus und Garten gesehen. Hier aber trat er ihm entgegen als ein echter und rechter Kirchenältester und Bischof, zwar nicht in brokatenen Gewändern, wohl aber angetan mit Salbung aus der Höhe, ein treuer Zeuge ewiger Wahrheit, der, wie er dastand inmitten seiner jugendlichen Herde und dieser mit einfachen Worten den Ernst und die Freundlichkeit Gottes ans Herz legte, einem Patriarchen des apostolischen Zeitalters gleichsah. Endlich, was einen Katholiken vielleicht am meisten frappieren konnte: die heilige Handlung der Konfirmation an sich, gegen deren tiefsittlichen Ernst die römische Firmung zur leeren Zeremonie wird. Mein Vater schien sehr tief ergriffen von allem, was er sah und hörte.

Wir blieben den ganzen Tag in Lausa, wo sich gegen Abend auch die Hermsdorsfschen Herrschaften mit ihren Verwandten und vielen anderen gottesfürchtigen Leuten aus den verschiedensten Ständen am langen Tisch des Pastors zusammenfanden. Durch die kirchliche Handlung, der sie am Vormittage sämtlich beigewohnt, waren aller Herzen noch erwärmt, und mein Vater verlebte Stunden unter ihnen, die ihm zum Vorschmack des Himmels wurden. So, meinte er, würde es einst dort oben werden, wenn vor dem Anschauen Gottes alle Schranken der Meinung, des Standes und Bekenntnisses zusammenbrächen und Christus allen alles in allem sein würde. Die selige Erfüllung stand ihm näher, als er dachte.

Als wir durch die nächtliche Heide nach Hause fuhren, gaben die Gespräche meines Vaters noch auf dem ganzen Wege Zeugnis von den beseligenden Eindrücken, die er empfangen. Er danke Gott von Herzen, sagte er, daß er ihn einen Tag habe sehen lassen wie diesen; nun sei er unsertwegen ganz beruhigt, denn eine Kirche, die noch solche Zeugen, solch ein Bekenntnis und solche Gottesdienste habe, sei nicht vom Heiligen Geist verlassen. Wie überglücklich war die Mutter, als sich der Heimgekehrte auch gegen sie in gleicher Weise aussprach!


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