Wilhelm von Kügelgen
Jugenderinnerungen eines alten Mannes
Wilhelm von Kügelgen

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6. Ein guter Lehrer.

Mein Vater war um jene Zeit in die Reihe der ordentlichen Professoren eingetreten. Er hatte sich von nun an am akademischen Unterrichte zu beteiligen, welcher unter die verschiedenen Meister dergestalt verteilt war, daß jeder nur für einzelne Monate, und auch dann nur für einzelne Tagesstunden, in Anspruch genommen war. Es war somit kein Dienst, der die eigene Arbeit beeinträchtigt hätte; wohl aber war ein verhältnismäßig hoher, von dreihundert auf tausend Taler steigender Gehalt damit verbunden und die Möglichkeit gegeben, sich um die Ausbildung zahlreicher junger Leute verdient zu machen; daher mein Vater sich der neuen Stellung freute.

Der angehende Professor ordinarius hatte seine Amtsführung im Gipssaal zu beginnen, wo ich seines Eintrittes mit einiger Spannung wartete, wie es denn jedem Sohne ein eigentümliches Gefühl sein mag, zuerst dem eigenen Vater als amtlichem Vorgesetzten zu begegnen. Ich war etwas verlegen, als ich dies liebe Hausgesicht eintreten sah, und erhob mich mit den übrigen, dem neuen Lehrer eine respektvolle Verbeugung zu machen.

Soweit ging alles gut. Aber werden sie diese väterliche Gestalt nicht, wie die mancher anderer Professoren, in lächerlichen Attitüden an die Wände zeichnen – Kunstwerke, zu denen sich niemals jemand bekennen wollte, und die daher auch niemals nach Verdienst gewürdigt werden konnten? Ich hätte schwer Gelegenheit gefunden, einen deshalb zu koramieren. Inzwischen verleugnete sich der Einfluß, den die Persönlichkeit des Vaters auf junge Leute zu üben pflegte, nicht. Sein offenes, zutrauliches Wesen, seine Urbanität und die Meisterhilfen seiner Korrekturen gewannen ihm die Herzen auf der Stelle. Man drängte sich zu diesen Korrekturen, die ebenso fest und sicher als schonend waren, und jeder hatte dabei das Bewußtsein, daß der Meister ihm seine volle Teilnahme schenke und ihn gern fördern wolle. Er machte nicht allein auf Fehler aufmerksam, sondern auch auf den Grund derselben, überall dem Auge durch Verstand zu Hilfe kommend, und legte er Hand an, so wurde es besonders dankbar erkannt, daß er geflissentlich die Sauberkeit der Zeichnung schonte, um die Lust des Weiterarbeitens nicht zu stören. Nur mit leichter Kohle deutete er die nötigen Veränderungen an, oder wo diese bei allzu mangelndem Formverständnis nicht ausreichte, führte er einzelne Details am Rande aus, und zwar mit spielender Leichtigkeit in wenigen Minuten schaffend, wozu wir Stunden brauchten. Daß er's besser konnte als wir, begriff der Dümmste auf der Stelle, doch überließ er's jedem, ob er seinem Rate folgen wollte oder nicht, machte es sogar zur Pflicht, die Korrektur genau zu prüfen und niemals etwas wider das eigene Auge hinzuzeichnen. Auch ein alter Maler könne sich wohl irren, pflegte er zu sagen, und wo nicht, sei doch ein eigener Fehler gar nicht schlimmer als eine fremde Tugend. Aber die Prüfung gab dem Lehrer immer recht. Die Korrektur betrachtend, war man der Meinung, es sei, als ob die unfehlbare Natur sie selbst so hingeschrieben hätte.

Als der letzte Abend des Monats da war, nach dessen Ablauf die Klasse wieder in andere Hände gehen sollte, mochte es stillschweigend bei allen feststehen, sich für so treue Unterweisung zu bedanken. Aber gerade an diesem Abend fehlte mein Vater, da er zu spät mit mir vom Weinberge zurückgekehrt war. Da erschien andern Tags eine Deputation im »Gottessegen« und überreichte unter Kopmanns passender Ansprache eine Dankadresse, die ich ihrer einfach herzlichen Fassung wegen hier folgen lasse:

»Hochgeehrter Herr Professor!

Wie sehr haben wir gewünscht, Sie noch einmal bei uns im Gipssaal zu sehen! Ohne es vorher verabredet zu haben, hatte ein jeder auf eine herzliche Danksagung gesonnen für die liebevolle Art, mit der Sie uns behandelt und sich unserer Fortschritte angenommen haben. Wir haben es alle tief empfunden – können daher unmöglich unserer Rührung und Dankbarkeit Stillschweigen gebieten. Möchten Sie in unsere Seele blicken! Sie würden sehen (was wir zu sagen unvermögend sind), welch einen tiefen Eindruck Ihre Milde auf uns gemacht hat usw.« – Alle hatten unterzeichnet.

Der Gipssaal stand damals wegen seiner schon erwähnten selbständigen und sich dem Einflusse der Lehrer entziehenden Haltung nicht im besten Ruf bei der akademischen Behörde. Jetzt zeigte es sich indessen, daß dem widerspenstigen Rosse nur der rechte Reiter gefehlt hatte, denn es war nicht möglich, die eben erst beginnende Bemühung eines Lehrers demütiger und dankbarer anzuerkennen, als hier geschehen. Hat aber ein öffentlicher Lehrer erst die Herzen seiner Schüler, so wird ihm alles doppelt angerechnet, und so konnte es geschehen, daß jene günstige Stimmung durch einen an sich kaum nennenswerten Umstand noch gesteigert wurde.

Der lahme Berthold war auf einem einsamen, bei abendlichem Dunkel unternommenen Spaziergang von einigen jungen, ihm unbekannten und wahrscheinlich weinbegeisterten Offizieren, denen er nicht schnell genug ausweichen konnte oder wollte, ohne Umstände in den Graben geworfen und insultiert worden. Dieser an einem wehrlosen Krüppel verübte Übermut empörte die Genossen fast mehr noch als den Geschädigten selbst, und man spürte den Beleidigern eifrig nach, um sie auf eine Weise zur Rechenschaft zu ziehen, die wahrscheinlich zu allseitigem Nachteil ausgeschlagen sein würde. Namentlich war es Schill, der sich vermaß, er wolle diesen Puppen auf offenem Markte an die Köpfe klopfen, einerlei, was daraus folge. Dabei steckte er die großen pommerschen Fäuste in die Taschen seiner Reithosen, als wolle er sie an den daran haftenden Erinnerungen zu Taten stärken; und allerdings war er ein Bursche, dem alles zuzutrauen war.

Mein Vater, der durch mich sogleich von der Geschichte hörte, trug mir auf, dahin zu wirken, daß unsererseits vorläufig nichts unternommen werde; dagegen tat er selbst persönlich und unverweilt die nötigen Schritte, dem gekränkten Berthold Genugtuung zu schaffen. Dieser saß nun eines Morgens im tiefsten Negligé in seiner Sofamulde und verspeiste eine Pfennigsemmel zum zweiten Frühstück, als er sehr unerwarteten Besuch erhielt. Ein klirrender Offizier trat bei ihm ein, und Berthold, ein neues Attentat erwartend, griff nach seinem Krückstock und erhob sich ernsten Blickes. Doch jener hatte keine schlechte Absicht. Sehr höflich stellte er sich als Brigade-Adjutanten von der Artillerie vor und sprach zuerst sein eigenes, dann auch im Auftrage seiner angeschuldigten Kameraden deren lebhaftes Bedauern über den stattgehabten Vorfall aus, der ihnen allen herzlich leid sei, und der eine Erklärung nur in der Dunkelheit des Abends fände, durch welche getäuscht, Berthold für eine andere Person gehalten worden wäre. Endlich teilte er diesem noch seitens seines Generals mit, daß jene Herren drei Tage Wachtarrest erhalten hätten, und fragte, ob diese Buße als zufriedenstellend angesehen werden würde.

Der gutmütige Berthold versicherte, daß ihm die entschuldigende Erklärung des Herrn allein schon genügt haben würde, und leistete für sich und seine Freunde gern das Versprechen, dieser Sache fortan ein weitere Folge nicht geben zu wollen.

Damit war die Sache erledigt, Simon zog seine Fäuste aus den Taschen, und alle hatten das Bewußtsein gewonnen, an ihrem Professor einen väterlichen Freund zu haben. Berthold kam persönlich seinen Dank auszusprechen und sich meinem Vater bei dieser Gelegenheit als speziellen Schüler anzutragen. Dasselbe tat auch Kopmann, und beide sahen jetzt mit mir dem Frühlinge entgegen, wo wir alle miteinander den ersten Ritt ins lustige Reich der Farben tun sollten.

Der Aktsaal.

Noch im Laufe dieses Winters ward ich in den Aktsaal befördert, wenn auch vorläufig nur für den Abend, da ich im übrigen meine Studien nach Gips noch fortzusetzen hatte. Ich glich somit einem nur unvollkommen ausgekrochenen Insekt; doch kümmerte mich die Puppe wenig, die mir noch anhing, und ich freute mich der Standeserhöhung, wenn auch diesmal ohne sonderlichen Hochmut, da ich mir der Schwierigkeiten, die meiner warteten, jetzt deutlicher bewußt war als früher bei meinem Eintritt in die unteren Klassen.

Im Aktsaal fand ich mich in einer neuen Welt: andere Genossen, andere Gegenstände und eine andere Art, zu arbeiten. War ich bis dahin gewissermaßen nur im Scheibenschießen geübt worden, so galt es jetzt bewegten Gegenständen. Es handelte sich hier nicht mehr darum, überaus geduldige Gipsköpfe abzusenkeln, auszumessen und unter traulichen Gesprächen beliebige Zeit auf ihre Nachbildung zu verwenden: die lebendige Natur gestattete nur kurze Gnadenzeit und wollte im Fluge erhascht sein. Freilich brauchte man mit seiner Arbeit nicht weiterzukommen, als man eben kam, doch wollte natürlich jeder aus jeder Stellung den größtmöglichen Gewinn ziehen, und es ward daher im Aktsaal mit jenem Eifer gearbeitet, der allem Naturstudium eigen ist.

Das Lokal für diese Übungen war ein weiter, von drei amphitheatralisch aufsteigenden Sitzreihen halbkreisförmig eingefaßter Raum, in dessen Mitte das hellerleuchtete Modell als Zielscheibe für dreißig bis vierzig Schützen stand, deren Blicke rastlos auf und nieder flogen, vom Reißbrett zum Modell und vom Modell zum Reißbrett; und was die Augen eingetragen, das speicherte die Hand auf. Gesprochen und beraten, wie im Gipssaal, ward dabei kein Wort, und außer dem Rasseln der Kohlen- und Kreidestifte und dem Rauschen der Wischer war nichts zu hören als die halblaute Rede des korrigierenden Professors, der, sich von einem Platze zum andern schiebend, stets zugegen blieb. Auch er hatte zu arbeiten, daß ihm der Schweiß von der Stirne floß, wenn er alle die mehr oder weniger verrenkten Gliedmaßen unserer Zeichnungen je nach seiner Einsicht entweder wieder einrenken oder vollends verdrehen wollte.

Die Professoren waren dieselben, unter deren heroischen Korrekturen ich schon im Gipssaale zu leiden hatte, mit Ausnahme jedoch von zweien: des Direktors HartmannFerdinand Hartmann aus Stuttgart (1770 bis 1842), seit 1824 Direktor der Dresdner Kunstakademie. Er gehörte zu den preisgekrönten Künstlern der »Weimarischen Kunstfreunde« und hatte 1799 mit der Zeichnung »Helena, von Venus und Amor zu Paris geführt«, den ersten Preis errungen. und des Galerie-Inspektors Matthäi, bis dahin die beiden hervorragendsten Lehrer der Akademie. Dies galt vorzüglich von Matthäi,Johann Friedrich Matthäi aus Meißen (1777-1845), Professor an der Dresdner Kunstakademie, zuletzt Direktor der Gemäldegalerie, war einer der letzten Vertreter des zopfigen Klassizismus. der mit der Gabe, zu unterweisen, ungewöhnliche Kenntnisse verband und ein Zeichner ganz ohnegleichen war. Seine meisterhaften Korrekturen wurden als Mirabilia angestaunt, und alle Plätze füllten sich, wenn er den Monat hatte. Ihn korrigieren zu sehen, war aber auch ein Vergnügen, welches recht ausführlich zu genießen man sich mit Fleiß verzeichnet hätte, wenn die unwillkürlich begangenen Fehler an sich nicht schon immer vollkommen ausgereicht hätten.

Matthäi war zu jener Zeit bereits ein Mann bei Jahren und mit einem so auffallenden Zittern der Hand behaftet, daß man ihm die Fähigkeit kaum zugetraut hätte, auch nur einen zollangen, einigermaßen gleichförmigen Strich zustande zu bringen. Auch kostete es ihm immer einigen Kampf, die Kreide zu vermögen, da einzusetzen, wo er und nicht wo sie es wollte; haftete aber der widerspenstige Stift erst einmal am Papier, so setzte er auch nicht wieder ab und folgte dem Willen des alten Meisters aufs überraschendste. Zwar mit immer zitternder Hand, aber doch mit unfehlbar sicherem, zartem und höchst elegantem Striche umfuhr Matthäi in einem einzigen Zuge die ganze Figur, und es war im Umsehen ein die Arbeit des Schülers mannigfaltig durchschneidender Kontur entstanden, welcher die Eigentümlichkeit des jedesmaligen Modells mit spiegelhafter Treue wiedergab.

Nach Feststellung des äußeren Umrisses ging es an die Berichtigung der inneren Formen, namentlich der am wenigsten verstandenen Partien, deren Struktur der Professor stets mit überraschender Klarheit zum Verständnis brachte. Zu dem Ende stellte er in Randzeichnungen zuvörderst den betreffenden Knochenbau, und zwar mit einer Präzision dar, als hätte er das nackte Skelett in gleicher Stellung und Beleuchtung vor Augen gehabt; dann zog er mit leichtem Strich die Muskeln drüber und löste so jedwedes Rätsel. Dergleichen korrigierte Blätter führte man in der Regel nicht weiter aus: sie hatten sich in Originalstudien eines großen Meisters verwandelt und wurden als solche aufbewahrt und wertgehalten.

Als Künstler mochte Matthäi freilich, namentlich was Erfindung und Kolorit anlangte, manchem seiner Zeitgenossen nachstehen; in der technischen Fertigkeit des Zeichnens aber übertraf ihn wahrscheinlich keiner. Ich zweifle wenigstens, daß es außer ihm noch einen anderen Menschen gab, der es vermocht hätte, auch nur den Umriß einer Hand genau und richtig in einem einzigen Zuge hinzuschreiben, so sicher wie ein großes A, geschweige denn eine ganze Gestalt mit Kopf und Rumpf, zwei Armen und zwei Beinen und zwanzig Fingern an Händen und Füßen. Und doch war dies nichts Auswendiggelerntes: es waren keine angewöhnten Formen, sondern die des jedesmaligen Modells in ihrer bestimmtesten Eigentümlichkeit, und wäre zufällig irgend etwas Verkrüppeltes zu sehen gewesen, etwa ein Plattfuß oder krummer Finger, so wären unter der zitternden Hand Matthäis auch solche Deformitäten mit staunenswerter Genauigkeit zu Papier gekommen. Der Natur gegenüber ließ er kein Besserwissen gelten, und hatte sich's einer einfallen lassen, sie zu meistern, so fuhr die Korrektur erbarmungslos hindurch. Bei solcher Gelegenheit hörte ich ihn sagen, es sei nicht zu begreifen, warum man in den Aktsaal käme, wenn man's schon aus dem Kopfe könne. Zu Hause möge jeder zeigen, was er wisse, hier, was er sähe, und man könne schneller zum Chinesen werden, als man dächte.

Diese nüchterne Gewissenhaftigkeit influierte günstig auf alle Klassen, und Matthäi stand als einflußreichster Lehrer unter uns in höchster Achtung. In anderer Hinsicht entging er freilich auch nicht der Kritik der jungen Leute, die sich in ihrem jugendlichen Wesen und Gehaben zu wenig von ihm verstanden fühlten. Auch galt er für den erbittertsten Widersacher unseres Kunstvereins, und nur solche, die sich mit diesem in keinerlei Berührung fanden, schlossen sich ihm als spezielle Schüler an. Später, nach Auflösung jenes Vereins, errichtete er jedoch in seinem Hause eine eigene kleine Sonderakademie, in welche man gegen Honorar eintrat, und die sehr besucht gewesen sein soll.

Ungleich beliebter war der joviale, ebenfalls als Künstler hochgeschätzte Direktor der Akademie, Professor Hartmann. Von ihm, als von dem vertrautesten Kunstgenossen meines Vaters, ist weiter oben schon geredet worden: hier will ich nur noch sagen, daß wir Aktsaalschüler seiner Fürsorge damals einen großen und nachhaltigen Genuß zu danken hatten. Es war nämlich zu jener Zeit ein Franzose, namens Lebenier, nach Dresden gekommen, welcher Kunstvorstellungen gab und durch die Schönheit seiner Körperformen die Künstlerwelt alarmierte. Diesen Normalmann zum Nutzen des Aktsaales zu verwenden, setzte Hartmann alle Hebel in Bewegung, und es gelang ihm auch, trotz Lebeniers den Etat weit überschreitender Forderung, die königliche Intendanz dahin zu vermögen, ihn wenigstens für einige Wochen als Modell zu engagieren. Lebenier stand nun jeden Abend, und der Zulauf war ungeheuer. Nicht nur Schüler, auch Meister drängten sich herzu, die Unbequemlichkeit beschränkter Plätze noch für Wohltat achtend. Der Heros imitierte die Attitüden verschiedener Antiken, und mit begeistertem Feuer fuhren unsere Kreidestifte über das Papier hin, als gälte es, eine vorüberrauschende Offenbarung absoluter Schönheit zu fixieren. Als Lebenier sich endlich in die Position des auf der Keule ruhenden Farnesischen Herkules brachte, erreichte die Begeisterung ihren Gipfel. Das war nicht ähnlich – es war dasselbe. Der griechische Marmor war lebendig geworden, und ich wenigstens begriff erst jetzt die ganze Herrlichkeit des alten Kunstwerks in seiner wunderbaren Naturtreue. Mit größerer Befriedigung hat wahrscheinlich keiner von uns je wieder nach der Natur gezeichnet als dazumal nach jenem Halbgott. Ich träumte nachts von Auerochsen und Titanen und freute mich den ganzen Tag auf die Abendstunden im Aktsaal.

Die Ohren gehen mir auf.

In jener gedeihlichen Zeit täglichen Fortschritts und Werdens hatte ich das Glück gehabt, auch noch in einer anderen Akademie Zutritt zu finden, nämlich in der nach ihrem Stifter, einem Kantor Dreysig, benannten Dreysigschen Singakademie,Die » Dreysigsche Singakademie« war 1811 durch den Hoforganisten Dreyßig, nicht ohne Anteil und Mitwirkung Chr. Gottfried Körners gegründet worden und besteht heute noch als der älteste unter den Chorgesangvereinen Dresdens. damals dem ersten Singvereine Dresdens. Zwar fehlte mir, wie beim früheren Eintritt in den Kunstverein, auch hier die erste Vorbedingung, denn ich konnte nichts weniger als vom Blatte singen; da es aber der Gesellschaft ihrerseits auch an etwas fehlte, nämlich an tiefgestellten Bässen, und ich das Konter-C vernehmlich hören ließ, so mochte man ein Einsehen haben und ließ drei gerade sein. Nach oberflächlicher Prüfung – ich mußte Skala singen und einige leichte Intervallen treffen – wies mir der zeitige Direktor, Kantor Weinlich,Christian Theodor Weinlig (nicht Weinlich) aus Dresden (1780-1842), zuerst Jurist, dann Musiker, 1814-1817 Kantor der Kreuzschule und Kreuzkirche zu Dresden, 1823 Nachfolger Schichts im Kantorat der Leipziger Thomasschule. meinen Platz bei den untersten Baßpfeifen an, und abends beim Zubettgehen konnte ich meinen Bruder raten lassen, was ich wieder geworden sei.

Die Dreysigsche Akademie mochte damals an fünfzig Sänger und Sängerinnen zählen, mit meiner Ausnahme lauter Meister, welche die halsbrechendsten Geschichten mit wunderbarer Unfehlbarkeit vom Blatte sangen. Dazu ein Überfluß an guten, zum Teil selten schönen Stimmen, ein reiches Repertorium, ein schönes, zweckmäßiges Lokal und ein ausreichend grober Direktor, das waren die Mittel, mit denen Ausgezeichnetes geleistet wurde. Gesungen wurde nur Geistliches: Oratorien, Messen, Psalmen, dergleichen ich hier nicht zum ersten Male hörte, da ich die klangreichen Gottesdienste der katholischen Kirche oft besuchte, deren turbulente Orchesterbegleitung mir jedoch das Verständnis verwirrte, so daß ich Opern- und Kirchenweisen nicht recht zu unterscheiden wußte. Hier aber, wo die Begleitung nicht mehr dominierte und die Aufmerksamkeit durch eigene Mitwirkung geschärft war, gingen mir die Ohren weit auf für die Schönheit jenes wunderbaren Musikstils, dessen Gravität, Gebundenheit und Einfalt mir das Herz bewegte und meinen Geschmack dermaßen für alle Zeit gefangennahm, daß mich noch heute ein paar Figuren kanonischen Tonsatzes tiefer ergreifen als alle erdenklichen Opern und Symphonien.

Gleich das erste Kyrie setzte mich in Flammen, und immer weiter riß ich den Mund auf, meine Stimme mit steigender Begeisterung in den gewaltigen Chor mischend. Gefahr war dabei keine, weder für mich noch meine Nebenmänner, den Opernsänger Riße und den durch seine künstlichen Automaten berühmten Mechaniker Kaufmann, welche beide mit einer Sicherheit einsetzten wie die Stifte einer Drehorgelwalze und sich so mächtiger Organe erfreuten, daß ich mit dem besten Willen nicht hätte fehlen können. Auch im schnellsten Tempo und durch die verzweifeltsten Figuren rissen sie mich im Sturme mit sich fort, wie ein paar geübte Schlittschuhläufer einen Anfänger, der ohne diese Hilfe Arme und Beine brechen würde.

Diese beiden Nachbarn waren mir sehr freundlich, belehrten und unterstützten mich nach Kräften. Riße ergötzte sich an meinem Eifer und war so wenig unzufrieden mit meiner Stimme, daß er sie sogar bisweilen für sich selbst erborgte. Da es ihm nämlich an Tiefe fehlte, pflegte er seine Solopartien dergestalt mit mir zu teilen, daß er mir die unteren Noten abließ, eine Gaunerei, die so vortrefflich glückte, daß sie ihm Gratulationen wegen Vertiefung seiner Stimme zuzog. Mein anderer Nachbar, Kaufmann, dehnte seine Freundlichkeit sogar noch über die Grenzen unserer gemeinschaftlichen Übungen aus. Er lud mich in sein Haus, zeigte und erklärte mir seine merkwürdigen Erfindungen und war überhaupt die Güte und Zuvorkommenheit selbst; für gewöhnlich nämlich, denn bisweilen kannte er mich auch gar nicht und ließ meinen Gruß nicht nur auf der Straße, sondern selbst in der Akademie unerwidert. Ich glaubte daher, er müsse unter sehr eigentümlichen Aufwallungen an übler Laune leiden, bis ich erfuhr, daß er auf einem Auge blind sei, daher ihm von dieser Seite auch seine besten Freunde entgehen konnten. Ehe man ein Recht hat, sich beleidigt zu fühlen, soll man daher erst zusehen, ob jemandem nicht vielleicht ein ganzer oder halber Sinn fehlt.

Von den übrigen Bekanntschaften, welche die Singakademie mir eintrug, will ich hier nur noch einer Familie Rosenberg gedenken, die erst vor kurzem in Dresden eingewandert war. Der Vater Rosenberg war Arzt gewesen, hatte sich, des Handwerks müde, von der Praxis zurückgezogen und lebte als Privatgelehrter seinen Liebhabereien. Seine liebenswürdige Gemahlin war eine Tochter Hamanns, des berühmten »Magus des Nordens«, übte aber mit ihren drei Töchtern, die wie Musen aussahen und wie Engel sangen, meines Wissens keine andere Magie aus als jenen Zauber, welcher weiblicher Schönheit und Anmut von Natur und Rechts wegen eigen ist, und der auch vollkommen ausreichte, die Anziehungskraft ihres Hauses zu erklären. Durch Kopmann präsentiert, fand auch ich daselbst erwünschten Zutritt und verlebte angenehme Stunden im Kreise interessanter Menschen, unter denen bisweilen sogar Leute auftauchten, für deren bloßen Anblick mancher gern Entree gezahlt hätte. So erinnere ich mich, daß sich hier eines Abends drei illustre Namen: Mahlmann, L. Tieck und Jean Paul zusammenfanden. Jean Paul zu sehen, den liebenswürdigen Verfasser der »Flegeljahre« – das war ein Ereignis! Mit größter Spannung sahen Kopmann und ich dem Eintritt dieses Leviathans an Witz und Sentimentalität entgegen, in dessen Gesicht und Wesen, wie wir meinten, etwas ganz besonders Sublimes zur Erscheinung kommen müsse. Aber die Persönlichkeit des großen Dichters entsprach unseren Erwartungen so wenig, daß, wenn der Dr. Rosenberg nicht geschworen hätte, es sei dies wahrhaftig Jean Paul selbst und niemand anderes, wir stundenlang in seiner Gesellschaft gewesen wären, ohne etwas Besseres in ihm zu vermuten als höchstens einen Pächter oder Gastwirt vom Lande, der sich am Teetisch langweilte. Freilich mochte er, wie Hamlet, eine Flöte sein, die nicht jedermann zu spielen verstand – oder war er vielleicht nur zu haushälterisch mit seinem Besten, um es für den Druck zu sparen? Ich weiß nur, daß, mit Shakespeare zu reden, das Futteral der Laute wenig gleichsah.

Von der Singakademie ist schließlich noch zu berichten, daß von Zeit zu Zeit halb öffentliche Aufführungen veranstaltet wurden, zu welchen jedes Mitglied einen oder ein paar Gäste mitbringen konnte. Ich brachte meinen Vater mit, als wir das Requiem von Mozart sangen, und noch sehe ich ihn dasitzen unter den andern Hörern, nach seiner Weise schnurgerade mit gefalteten Händen und freundlichem Gesicht, dem Gesange mit lebhaftem Interesse folgend. Die Mozartsche Totenmesse war die letzte Musik, die er auf Erden hörte.


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