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Wenn man Erinnerungen aus früherer Zeit fixieren will, um sie aufzuzeichnen, ermißt man erst, wie sie chaotisch sind, wie schwer zu ordnen, und wie wenig des Erlebten man behalten hat. Mir wenigstens ist bei Abfassung dieser Blätter oft zumute, als durchschiffte ich ein Nebelmeer, nur hin und wieder einzelne hervorragende Wipfel gewahrend, die als feste Punkte Dazwischenliegendes erraten lassen.
So finde ich mich auch jetzt, da ich von der Ankunft des langerwarteten Lehrers berichten möchte, gar sehr im Dunkeln, denn ich weiß nichts mehr davon, ebensowenig als von seiner Abreise, die etwa drittehalb Jahr später erfolgt sein mag. Im Bilderbuch alter Erinnerung erscheint er mir wie eine Wolke, die am blauen Himmel aus nichts entstanden und wieder in nichts zerronnen ist, doch aber Spuren ihres Segens auf der Flur zurückließ.
Das Bild meines lieben Lehrers Senff tritt mir zum ersten Male bei Gelegenheit eines abendlichen Spazierganges entgegen, den er mit uns und den kleinen Volkmännern am Elbufer machte. Es war ein schöner Juniabend des Jahres 1809. Wir hatten unter Anleitung des Lehrers einen Steindamm in den Strom hinausgebaut, auf dessen Spitze von zusammengetragenen Reisern ein Feuer angezündet wurde. Das flammte hoch auf, und wir hatten unsere Freude daran, bis wir durch einen vom anderen Ufer heranrudernden Schiffer mit harten Worten angeherrscht und weggewiesen wurden.
Zwar hatten wir Knaben, der Kraft unseres Mentors vertrauend, vorgeschlagen, den Wüterich mit einem Steinhagel zu begrüßen; Senff aber meinte, der Mann sei ohne Zweifel in seinem Recht, wo nicht, so pflege bei Streitigkeiten der Klügere nachzugeben. Wir zogen uns also zurück, noch ehe jener das Land erreichte, aber von Schmähungen verfolgt, die nicht zu schmeichelhaft klangen und mich besonders in Senffs Seele kränkten, denn man vernahm da Worte wie: »Großer Bengel« und »Dummheiten machen« und »Komm nur wieder, du Tausendschockschwerenöter, daß ich dir ans Schafsleder lange!«
Wir taten indessen, als ob wir taubstumm wären, schritten eilig weiter und waren bald dem Bereiche jenes Störenfrieds entronnen, freilich nur, um einem anderen Feind ins Garn zu gehen. Wir fanden nämlich, als wir die Stadt erreichten, zu unserer größten Überraschung das Tor gesperrt. Zwei fremdartige Reiter, ein kohlschwarzer und ein strohgelber, hielten da mit blanker Waffe und wiesen jedermann zurück. Die Stadt war offenbar in irgendeine Hand gefallen, ob in Freundes oder Feindes Hand, war vorläufig einerlei und erwies sich so auch später. Genug, wir waren ausgesperrt, und Senff mochte sich abermals in einiger Verlegenheit befinden. Für uns Kinder hatte jedoch dies Abenteuer auch seine schmeichelhaften Seiten, denn immerhin war's doch ein tüchtiges Erlebnis, so mitten in den Krieg geraten und ordentlich exiliert zu sein.
Was nun werden sollte, wohin wir uns zu wenden hätten, und auf welche Weise wir die Nacht verbringen würden, vielleicht in einer Dorfschenke oder bloß im Wald unter Kieferbüschen, das waren interessante Fragen, die wir untereinander diskutierten, während Senff seine Beredsamkeit fruchtlos erschöpfte, um die Passage freizukriegen, bis dies endlich uns und anderen durch die Dazwischenkunft eines höheren Offiziers gelang und wir ohne weitere Fährlichkeiten nach Hause kamen.
Der Krieg von 1809 mochte der populärste sein, den Österreich jemals führte. Zwar hatte der hartbedrängte Kaiserstaat die Waffen fast des ganzen Weltteiles wider sich, die Sympathien aber für sich, und namentlich in Deutschland begrüßte man die anfänglichen Fortschritte der österreichischen oder der »kaiserlichen« Kriegsheere mit hoher Freude. So war es auch in dem politisch mit Napoleon verbündeten Sachsen. Auch hier freute man sich der Fortschritte des Feindes und schenkte der gerechten Sache, für die er kämpfte, die wärmste Teilnahme.
Als daher jetzt der österreichische General am Ende, ganz unerwartet von Böhmen ausbrechend, das unbewachte Dresden überrumpelt hatte und besetzt hielt, erwies man diesen ungebetenen Gästen von seiten des Publikums die ungeheucheltste Feindesliebe. Ganz besonders interessierte der edle, seiner Erbländer beraubte Herzog von Braunschweig, der sich mit seinem Freikorps den Kaiserlichen angeschlossen hatte. Ihn und seine schwarzen Husaren umleuchtete ganz vorzugsweise der Nimbus patriotischer Opferfreudigkeit, und es fehlte auch in Dresden nicht an begeisterten jungen Leuten, die sich unter seine Fahne stellten.
Auf dem freien Platze zwischen Wiesentor und Jägerhofe wurde die Dresdener Mannschaft eingeritten, unter welcher ich zu meiner Freude bald ein paar wohlbekannte Gesichter entdeckte, die sogenannten anderen Jungens, die ich sehr lange nicht gesehen hatte, und die bereits vollständig eingekleidet, mit dem silbernen Totenkopf am Hute, auf feurigen Rossen einherbrausten. Da sie mich bemerkten, hob mich der eine auf sein Pferd und verschaffte mir dadurch das stolze Bewußtsein, mit den berühmten Totenköpfen auch einen Ritt gemacht zu haben.
Als er mich abgesetzt, wollte er sich zeigen und trieb sein Pferd durch Peitschenhiebe zu solchem Rasen an, daß es mit ihm stürzte und der arme Junge wie tot vom Platze getragen ward. Bald darauf verließ der Herzog Dresden, sich mit seiner Heldenschar nach Franken wendend, und ich habe von dem Schicksal jener beiden jungen Leute, deren Mutter uns schon damals verlassen hatte, etwas weiteres nie mehr gehört.
Nun aber rückte österreichische Landwehr ein, schmuckloses und vierschrötiges Volk in grauen Waffenröcken und grüne Zweige an den Mützen. Diese Leute exerzierten Tag für Tag vor unseren Fenstern, und ich trieb mich gern unter ihnen herum, indem ich mich besonders für einen einzelnen interessierte, der eigentlich gar nicht zu ihnen gehörte und seiner Kompagnie als ein recht unverdauter Bissen im Magen liegen mochte. Dieser Mensch war ein richtiger Franzose, der als Kriegsgefangener den österreichischen Fahnen nur gezwungen folgte. Er saß gewöhnlich allein für sich auf einer der Bänke unter den Linden, trug den Arm in der Binde und sah entsetzlich elend aus. Als ich mich an ihn machte, ließ er mich das grobe filzartige Tuch seines Waffenrocks fühlen und sagte: »Français fein – kaiserlik Art i slekt,« und da wir Zeugen von der Art und Weise wurden, mit der die österreichischen Unteroffiziere ihre Leute behandelten, bemerkte er: »Corporal français, sie ist öflik, aber Autrichien viel große Stock.«
In der Tat war es wohl anerkennenswert, mit welcher Geduld die damaligen Franzosen ihre Rekruten übten, was wir später im Jahre dreizehn, da in Dresden viele junge Mannschaft lag, oft zu beobachten Gelegenheit hatten, und an so anständige Behandlung gewöhnt, mochte jener arme Kerl sich allerdings in deutschen Händen nicht zum wohlsten fühlen. Ich erzählte meiner Mutter von ihm und ward durch sie in den Stand gesetzt, ihm zuweilen etwas Geld und Nahrung zuzustecken, wodurch er so gerührt ward, daß er im Eifer seines Dankes den wenigen deutschen Worten, die er kannte, vollends den Hals brach.
Inzwischen machte der Waffenstillstand von Znaim diesem Umgang bald ein Ende, und mein armer Franzose räumte mit seiner österreichischen Gesellschaft das gastliche Dresden. Dafür aber rückte nun Talkenberg mit dem sächsischen Kontingente ein und trat wieder seinen Dienst in unserem Haus an. Er war siegreich zurückgekehrt und wußte Haarsträubendes zu erzählen, namentlich von der Wagramer Schlacht. Doch war es nicht das, was ihm das Herz meines Vaters gewann, sondern daß er seines Sieges nicht recht froh war, vielmehr versicherte, wie jede Patrone, die er für die Franzosen abgebissen, ihm noch jetzt im Leibe kollere.
Bei uns fand Talkenberg mancherlei verändert. Frau Venus zwar, die während seiner Abwesenheit weggekommen, vermißte er wenig und nahm's nicht übel, statt ihrer ein jüngeres Wesen anzutreffen; aber Senffs Erscheinen stand ihm nicht zu Sinn. »Dein Vater«, sagte er mir, »hätte dir ein Pack Bücher unter den Arm schieben und dich in die Schule schicken sollen, das wäre gescheiter gewesen. Dann wären wir so wie sonst miteinander spazieren gegangen, und es hätte ein rechter Kerl aus dir werden können.«