Wilhelm von Kügelgen
Jugenderinnerungen eines alten Mannes
Wilhelm von Kügelgen

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3. Gegensätze.

Bei der sehr ernsten und entschieden christlichen Richtung meiner Mutter konnte es auffällig erscheinen, daß sie ordentlicherweise nie zur Kirche ging und auch uns nicht dazu anhielt. Der Grund mochte ein mehrfacher sein, denn teils war meine Mutter von Jugend auf an kirchliche Bedürfnisse nicht gewöhnt, da der Landadel ihrer Heimat die öffentlichen Gottesdienste wegen der weiten Entfernungen nur sehr ausnahmsweise zu besuchen pflegte, anderenteils war sie später durch ihre leidende Gesundheit sehr behindert, und endlich büßte sie in der Tat nicht viel dabei ein, da die Kirche zu jener Zeit nur wenig oder nichts zu bieten hatte. Fast ausschließlich in der Pflege des Unglaubens, wurde sie eigentlich nur von Leuten besucht, denen das biblische Christentum schon zur Fabel geworden war, oder von solchen, die in kindlicher Unbefangenheit Bekenntnis von Bekenntnis nicht zu unterscheiden wußten. Die aus der Kirche herausgeärgerten, sich ihres Glaubens bewußten Gemeindeglieder lebten dagegen meist als Separatisten oder kamen in von Laien geleiteten Privatversammlungen zusammen, an denen meine Mutter, auch wenn sie gesund gewesen wäre, keinen Anteil genommen hätte, weil sie eine eigentümliche Scheu vor pietistischen Einflüssen, vor Schwärmereien, wie vor jeder Art von Schaustellung ihres Glaubenslebens hatte. Ihr Christentum hing überhaupt an keinerlei Art von Formen und Äußerlichkeiten, und sie mochte daher den öffentlichen Gottesdienst auch kaum vermissen. Nur ein oder ein paarmal im Jahre fuhr sie seit meiner Konfirmation mit mir nach Lausa, wo wir vom Pastor Roller das heilige Abendmahl empfingen. Das war eigentlich der ganze Zusammenhang, in dem meine Mutter mit der Kirche stand.

Anders der Vater. Indem sein Herz sich nach und nach wieder für den geoffenbarten Glauben erwärmte, trug ihn zugleich die süßeste Erinnerung zurück zu den Tagen seiner Kindheit, da er noch als kleiner Knabe an der Hand seiner Mutter zur Messe ging und in den Segnungen der Kirche so manchen sittlichen Antrieb, Trost und Erhebung gefunden hatte. Da war es denn natürlich, daß ihn bei wiedererwachendem geistlichem Bedürfnis eine Art von Heimweh trieb, von neuem und an derselben Stelle, wo er sie früher gefunden, himmlische Güter auch jetzt wieder zu suchen und zu erflehen. So begann er denn den lange versäumten Gottesdienst, die Messe, wieder zu besuchen, versuchsweise anfangs, dann immer fleißiger und in den letzten Jahren sogar jeden Morgen. Auch hatte ihn das Bedürfnis seines Herzens in der Person eines würdigen und geachteten katholischen Geistlichen, des Pater Mende, einen geistlichen Berater finden lassen, dessen Leitung er sich gern vertraute, und damit war er denn der katholischen Kirchengemeinschaft vollständig wieder angeschlossen.

Im Grunde genommen war mein lieber Vater nichts anderes geworden als ein Christ, jedoch in der ihm heimischen Form, deren er sich jetzt mit der hohen Freude eines Menschen freute, der nach langer Trennung die Räume seines väterlichen Hauses wieder betritt und sie alle unverändert findet. Oft hörte man ihn daher rühmen, daß, während sich seit seiner Jugend die ganze Welt zum Nichtwiedererkennen verändert und modernisiert habe und auch der Protestantismus nach Form und Inhalt in solcher Wandlung mit einbegriffen sei, ganz allein nur die katholische Kirche sich selber treugeblieben wäre. Bis in das kleinste Titelchen, nicht nur der Dogmen, der Verfassung und des Kultus, sondern auch bis auf die Kleidung und jegliche Bewegung des Priesters am Altar, habe er – mein Vater – jetzt an der Elbe alles ganz so wiedergefunden, wie er es in seiner Kindheit am Rhein verlassen. So meinte er nicht zweifeln zu dürfen, daß die ewig unveränderliche, hoch über dem Wechsel menschlichen Geschmackes und menschlicher Gedanken thronende geoffenbarte Wahrheit in der katholischen Kirche die einzige ihr angemessene Form gefunden habe.

Es mag immerhin ein Unikum gewesen sein, daß mein Vater, der in der Pflege jener Kirche seines Glaubens verlustig gegangen war, durch evangelische Einflüsse zum Glauben, durch diesen aber zum Katholizismus zurückgeführt wurde, und daß er, während er sich nun kirchlich an Rom anklammerte, doch immerdar aus evangelischer Gemeinschaft neue Glaubenskräfte schöpfte. Mit alleiniger Ausnahme seines Beichtigers waren alle Freunde, die auf sein Glaubensleben influierten, Protestanten. Evangelische Schriften von Schubert, Stilling, Lavater, Zinzendorf und anderen, welche die Mutter im Familienkreise vorlas, erbauten ihn fast täglich, und ein Besuch, den er mit seinem Freunde Zezschwitz in Herrnhut abstattete, erwärmte sein Herz für lange Zeit. So mochte es sich erklären, daß er trotz seiner römischen Sympathien eine eigentlich feindselige Stellung zur evangelischen Kirche doch nicht einnahm, die er als doktrinäre Erfindung zwar bestritt, ohne jedoch in Roms verdammendes Urteil über ihre Glieder einzustimmen. Er war sehr einverstanden mit der inneren Glaubensrichtung seiner Frau und seiner Freunde, welche er in der Demut seines Herzens alle über sich stellte, aber es tat ihm leid, daß sie der mannigfachen Anregungen und Hilfen verlustig gehen sollten, welche er für sich in seiner Kirche fand. Das Ziel, das sie vor Augen hätten, pflegte er zu sagen, sei auch das seinige, auf dem Wege dahin aber fänden sie zu wenig Aufmunterung. Sie seien genötigt, ein jeder auf seine eigene Faust nach Zion hin zu pilgern, während er sich von der Kirche getragen, gekräftigt und vor Irrwegen behütet wisse.

Mein Vater faßte den Katholizismus ideell auf, d. h. weniger wie er ist, als wie er sich ihn dachte oder wünschte, und ebenso schien es auch sein Beichtvater zu machen. Beide waren geneigt, nur das an ihrer Kirche zu bemerken oder wenigstens nur das für katholisch zu erachten, was ihnen gefiel und sie erbaute; das übrige ignorierten oder verschmerzten sie als unvermeidliche Übelstände. Die Mutter dagegen pflegte nach protestantischer Gewohnheit ganz umgekehrt in der katholischen Kirche nur den Aberglauben anzusehen, mit welchem Rom die evangelische Wahrheit untermischt hat. Die Frage nach der Kirche wurde daher in unserem Hause häufig diskutiert, ohne daß jedoch ein Resultat der Vereinigung dadurch gewonnen worden wäre.

Was die Irrtümer und Sünden Roms anlangt, so wies mein Vater auf den Unterschied von Mißbrauch und Gebrauch hin. Die Menschenhand an sich, sagte er, sei nicht zu tadeln, obgleich sie nicht nur segnen, sondern gelegentlich auch einen Mord begehen könne, und ebenso bleibe ein schöner Dom das, was er sei, obschon er zeitweilig durch geschmacklosen An- und Ausbau verunstaltet Wäre; auch bräche man nicht ein Haus ab, weil ein paar Schwellen faul geworden oder einzelne Bewohner sich darin betrunken hätten, und endlich sei wenigstens so viel evident, daß die römische Kirche trotz allen eingeschlichenen Mißbrauchs und aller Sünden ihrer Bischöfe und Pfaffen nach fast zweitausend Jahren heute noch aufrechtstehe, während die lutherische nur ein ephemeres Dasein gehabt und bereits Ruine sei. Wohl möge es einst ein Institut gegeben haben, das den evangelischen Anschauungen meiner Mutter und unserer protestantischen Freunde entsprochen hätte, heutzutage aber existiere es nicht mehr. Die gegenwärtige lutherische Kirche widerspräche fast in allen ihren Repräsentanten geistlichen und weltlichen Standes ihren eigenen Bekenntnissen aufs direkteste, und meine Mutter, wie andere gottselige Laien, ständen isoliert da als vereinzelte Bruchteile eines zerfallenen Ganzen, ohne Zusammenhang und kirchliches Bewußtsein.

Es mußte zugestanden werden, daß unsere arme, von gleichgültigen Fürsten und aufgeklärten Konsistorialräten gegängelte Kirche als solche ebenfalls ihre tiefen Schäden habe, dafür aber, wurde behauptet, nähme sie auch keine Unfehlbarkeit für sich in Anspruch und könne sich deshalb wieder korrigieren, während die katholische jeden einmal aufgenommenen Irrtum bis zum Jüngsten Tage mit sich fortzuschleppen hätte. Dieselbe sei freilich ein bewundernswerter Bau, aber damit scheine ihr Ruhm sich auch zu erschöpfen, denn im Grunde genommen sei sie doch nur ein Reich von dieser Welt, durch weltliche Mittel gegründet und erhalten. Die heilige allgemeine Kirche dagegen, die wir gemeinschaftlich mit den Katholiken im dritten Artikel bekennen, sei weder römisch noch wittenbergisch, sondern umfasse die Gesamtheit aller gläubigen Christen aus allen Konfessionen. Als ein sichtbarlich zusammenhängendes Ganze sei diese Kirche freilich nicht erkennbar, wohl aber sei sie dies in ihren einzelnen, durch gemeinschaftlichen Glauben, Hoffnung und Liebe untereinander verbundenen Gliedern, in welchen sie zu allen Zeiten gekreuzigt und verfolgt werde, ein Geschäft, an dem sich Rom par excellence beteilige. In jene vom Herrn selbst regierte, heilige Gemeinschaft einzutreten und in ihr zu verbleiben, sei uns Protestanten aber leichter als den Katholiken, weil das Wort Gottes in Heiliger Schrift uns nicht entzogen und wir weniger beirrt seien durch priesterliche Einflüsse und Interessen, die mehr das Gedeihen des Tempels im Auge hätten, als das der darin opfernden Seele.

So ähnlich, nur besser und ausführlicher, ward hin und her geredet, oft lebhaft gestritten, ohne jedoch das Bewußtsein und die gegenseitige Anerkennung der Gliedschaft jenes Gottesreiches zu verleugnen, in welches man nicht durchs Fleisch, sondern durch den Geist geboren wird. Wer namentlich die beiden Eheleute in bewegten Augenblicken beieinander sah und Zeuge war, wie sie Trost und Kraft aus einer und derselben Quelle schöpften, dem hätte es nicht einfallen mögen, daß sie verschiedenen, sich gegenseitig verdammenden Kirchen angehörten.

Anderweitige Folgen.

Je unverständlicher meiner Mutter die kirchlichen Bedürfnisse und Strebungen des Vaters wurden – und zwar um so unverständlicher, je ernstlicher er sich dem Christentume zuwendete – um so verständlicher und lieber wurden ihr jetzt seine Bilder. Der Geschmack meines Vaters hatte sich während eines mehrjährigen Aufenthaltes in Rom unter den Einflüssen einer Zeit gebildet, welche in ihrer Hinneigung zu klassischer Kunst mehr noch als die mediceische den Namen einer Renaissanceperiode verdiente. Man war in der Anschauungs-, Denk- und Darstellungsweise der alten Welt dergestalt verbissen, daß man, das dazwischenliegende Christentum ganz ignorierend, den Mythenkreis der Griechen für den allgenugsamsten Stoff hielt, alles dasjenige daran auszusprechen, was überhaupt noch einer Aussprache wert schien. So hatte sich denn auch mein Vater vorzugsweise in allegorisierenden Darstellungen mythologischer Gegenstände Wohlgefallen und in diesem Genre viele Bildwerke geschaffen, welche jedoch, obschon sie ihrem Meister einen Namen machten, doch gerade diejenige Person nie recht befriedigen wollten, an deren Beifall ihm besonders gelegen war, und das war meine Mutter. Seiner Frau, hörte man ihn klagen, könne er nun einmal nichts zu Danke machen.

Diese schwer zu befriedigende Frau erkannte zwar sehr wohl, und mit nicht schlechterem Verständnis als die meisten sogenannten Kenner, den künstlerischen Reiz und Wert in jenen Bildern; aber die Gegenstände standen ihr meist nicht an. Der Knabe Ganymedes, vom Adler zum Olymp getragen, schien ihr ein Frevel am Ganymed, am Adler und am Olymp. Ein anderes Bild, Diana und Endymion – zwei nackte Personen beiderlei Geschlechts, in nächtlicher Einsamkeit zusammengeführt – beleidigte ihr Zartgefühl, wie es dagegen ihr Mitleiden erregte, daß jene arme Psyche, die so sinnig den Schmetterling auf ihrer Hand betrachtete, nicht wenigstens einen Zipfel des sie umgebenden Faltenreichtums zu ihrer Disposition zu haben schien, um ihre Blöße damit zu bedecken.

Nicht daß meine Mutter die Symbolik derartiger Mythen so ganz und gar verkannt hätte: sie wußte so gut als andere, daß z. B. mit der Fabel des Endymion wesentlich nur der schüchterne Zug eines reinen Frauenherzens zu der Unschuld männlicher Jugend und Schönheit gemeint sein sollte, und erkannte auch vollkommen die Zartheit an, mir der mein Vater diesen Gegenstand behandelt hatte; dennoch aber hielt sie dergleichen Züge und Bezüglichkeiten der Darstellung kaum wert, wie sie denn ihrer ganzen Richtung nach in der griechischen Kunst, wenn sie auch noch so sauber auftrat, doch wenig anderes zu erkennen vermochte als eine Apotheose des Natürlichen, welches sie in seiner Nacktheit am liebsten unerörtert ließ. Sie sprach daher sehr wiederholt den Wunsch aus, daß es dem Vater doch gefallen möge, sich nach anderen Stoffen umzusehen, die würdiger und dankbarer seien als jene frostigen Allegorien einer untergegangenen Welt. Hohe, begeisternde Tatsachen wollte sie sehen, am liebsten erbauliche Momente aus den Geschichten der Heiligen Schrift, in welchen sie, je länger je mehr, die tiefste, auf alle Lebensverhältnisse passende Symbolik fand.

Aber wenn der Meister ihr denn auch ab und zu einmal den Willen tat und sie damit stets hoch beglückte, so hielt er doch im allgemeinen historische Gegenstände für wenig malerisch. Es sei genug, meinte er, daß Tatsachen einmal geschehen seien, und weiter sei damit nichts anzufangen. Auch in der heiligen Geschichte hatte er die längste Zeit nur eine Reihe von Begebenheiten gesehen, deren historische Wahrheit ihm zweifelhaft war, und deren tiefere Bedeutungen er nicht erkennen konnte, da ihm die innere Welt, deren Stimmungen sie entspricht, noch fremd geblieben. Endlich gab er noch zu bedenken, daß man dem Geschmacke der Käufer doch auch Rücksichten schulde. denn das Publikum, glaubte er, langweile sich an frommen Bildern, die es nicht verstände, und ihm selber sei nichts unerwünschter als eine zu feste Anhänglichkeit seiner fertigen Bilder ans Atelier.

Das war nun allgemach sehr anders geworden. Indem mein Vater anfing, christlicher Erkenntnis Raum zu geben, schwanden auch seine früheren Bedenken gegen christliche Motive, nach denen das neuerwachte Bedürfnis seines Herzens trotz der vorausgesetzten Langeweile des Publikums ihn jetzt häufiger greifen ließ. Das Repertorium der Werkstatt ward nach und nach ein anderes, da der Geschmack des Meisters ein anderer geworden. Die neuerkannte Wahrheit erschloß ihm eine neue Welt von Ideen, die sich fortan zu Bildern gestaltete, aus denen Buße, Glaubenszuversicht und jenes himmlische Erbarmen sprachen, dessen nur die Christusliebe fähig macht. Belege hierfür sind seine drei Johannis-Bilder, des Täufers, des Evangelisten und des Sehers, sein letzter Christus, sein Petrus und sein verlorener Sohn, mit dessen leider unvollendeter Darstellung er selbst ins Vaterhaus einging, und viele andere Bilder und Skizzen aus der letzteren Zeit. Und wunderbar! so wenig schien das Publikum durch die veränderte Richtung seines Lieblings gelangweilt, daß trotz der schweren Zeiten und der allgemeinen Erschöpfung nach dem langen Kriege nur selten ein Stück Arbeit trocken wurde, ehe es verkauft war.

Der letzte Sommer

Bald nach meines Vaters Rückkehr von der Heimführung Helenens war die Mutter mit dem weiblichen Teile der Familie aufs Land gezogen, während ersterer mit dem männlichen, d. h. mit mir und meinem Bruder, in der Stadt blieb. Hier gestaltete sich nun ein Zusammenleben, wie es zwischen Vater und Söhnen nur sehr ausnahmsweise zustande kommen mag. Wie ein Freund und Bruder war jener unter uns. Er gab sich uns in einer Weise hin, als hätte er gewußt, daß es der letzte Sommer sei, den er mit uns verleben sollte, und kaum erinnere ich mich, je ein bewußteres Glück genossen zu haben, als für mich in dieser Kameradschaft mit dem Vater lag. In solchem Bewußtsein fand mein Herz bald seinen regelmäßigen Pulsschlag wieder, und meine Zeit floß still in ungetrübtem Frieden hin.

Unsere Lebensweise war fest geregelt. Sehr früh, um fünf, ward aufgestanden und gemeinschaftlich gefrühstückt. Darauf verschwand mein Bruder in sein Kontor, wie er einen Abschlag nannte, den er sich von Schirmen gemacht, um dahinter in holder Einsamkeit und unbeirrt durch andere seinen Schulaufgaben oder gelegentlichen Allotrien nachzuhängen, und auch ich begab mich in der Regel ans Studieren, indem ich bis gegen 7 Uhr meine Schulgelehrsamkeit zu repetieren pflegte. Des öfteren aber trieb mich auch das Herz, den Vater in die Messe zu begleiten, denn es war mir schmerzlich, ihn, der sonst alles mit uns teilte, kirchlich so isoliert zu wissen, und immer schien er sich zu freuen, wenn ich mitging. Diese stillen Morgengottesdienste, die dämmernde Kirche, der ferne Hochaltar mit seinen Lichtern, vor welchem der murmelnde Priester sein mysteriöses Werk trieb, und hier und da vereinzelt die andächtig knienden Gestalten der Betenden, das alles war mir sehr erbaulich. Es zog auch mich an des Vaters Seite nieder auf die Knie, und dann fühlte ich mich ihm noch inniger als sonst verbunden und verwandt.

Roller lehrte zwar, die Messe sei ein gotteslästerlicher Götzendienst, und das mag sie auch ihrem sehr willkürlichen Begriff nach sein, der dem Mißbrauch Tor und Türen öffnet; aber ein und derselbe Irrtum kann unschuldig und schlimm sein, je nachdem er angesehen und gebraucht wird. Mein Vater hatte einen täglichen, ohne Zeitverlust zu ermöglichenden Gottesdienst daran, welcher ihm weder durch Widerspruch erregende Predigten noch durch geschmacklose Lieder verleidet ward. Den Meßpriester am Altare sah er an als ein Organ, durch welches in der heiligen Handlung Gott mit der Gemeinde und andererseits diese mit Gott in eine sakramentale Beziehung trete; durch des Priesters Mund rief die hilfsbedürftige Gemeinde Gott an, und durch denselben Mund empfing sie geistig das Versöhnungsopfer Christi und darin Unschuld, Heil und Segen. Mein Vater kommunizierte, seiner Idee nach, jeden Morgen, wenn er zur Messe ging, und in dieser Auffassung vermochte ich ebensowenig Götzendienst und Frevel zu erblicken, als ich sie mir hätte zu eigen machen können. Indessen kniete ich doch an heiliger Stelle bei meinem Vater und erhob meinen Geist mit ihm zum Throne Gottes, meines Heilandes, was immerhin nichts Schlimmes sein konnte.

Unmittelbar nach diesem Gottesdienste begaben wir uns miteinander in einen Tempel anderer Art, da zwar der Herr des Himmels nicht unmittelbar verehrt, wohl aber die Schönheit seiner Werke zur Anschauung und zum Verständnis gebracht wurde: in die königliche Gemäldegalerie. Hier hatte mein Vater einige Bilder zu kopieren, und da ihm die öffentliche Arbeitszeit in diesen Räumen, welche erst um acht Uhr morgens geöffnet wurden, nicht genügte, so hatte er sich einen eigenen Schlüssel zu verschaffen gewußt, mittels dessen er zu jeder Zeit und Unzeit durch eine Nebentüre eintreten konnte – ein Umstand, welcher mir wegen der damit verbundenen Bevorzugung und Heimlichkeit diese Besuche doppelt interessant machte.

Während nun der alte Meister in einer Fensternische des inneren Galeriegebäudes mit seiner Arbeit beschäftigt war, schweifte ich durch die weiten Hallen frei umher unter all den Tausenden von Meisterwerken, an denen ich meine Freude hatte. Musik und Dichtung mögen unter Umständen durch gemeinsamen geselligen Genuß gewinnen – Bilder verstehen sich am besten in der Einsamkeit. Besuchte ich die Galerie zu öffentlichen Stunden, so zerstreute mich die Gegenwart so vieler anderer Beschauer mit ihrer Aussprache dessen, was sie empfanden oder nicht empfanden. Auch in Gesellschaft von Künstlern interessierte ich mich lebhafter für das Technische, die Zeichnung, das Helldunkel und die Farbe, als daß ich mich ästhetischen Eindrücken hätte hingeben mögen. In dieser einsamen Morgenstille aber wirkten die Kunstwerke auf mich ähnlich wie Naturerscheinungen, die uns bewegen, ohne daß wir fragen, wie sie zustande kommen. Dann sprachen jene toten Meister zutraulicher zu mir und sehr verständlich von dem Besten, was sie wußten, ein jeder nach seiner Art. Nicht nur Raffael, Correggio, Andrea del Sarto und der deutsche Holbein, auch Rembrandt, Dow, Ostade und selbst Hondekoeter mit seinen aufgeregten Hühnern erweiterten mir das Herz auf wunderbare Weise. Ich habe später nie wieder, auch in Italien nicht, wo ich die schöneren Bilder sah, so tiefe Eindrücke durch Kunstwerke empfangen als zu jenen Stunden, da mein Vater und ich die einzigen lebenden Wesen in den eigentümlich endlosen Räumen des damaligen Galeriegebäudes waren.

Wenn dann die tiefe Stundenglocke der Kreuzkirche 7 Uhr anschlug, öffnete der Vater mir das Pförtchen und ich trabte zu meiner ordentlichen Tagesarbeit in den Gipssaal. Gleichzeitig begab sich auch mein Bruder in seine Schule, und während wir beide zweifelsohne an ernstem Wissen und nützlichem Vermögen profitierten, hörten und erlebten wir im Zusammensein mit so viel andern jungen Leuten doch auch so viel des Ergötzlichen, daß uns bei Tisch der Stoff nicht ausging, den Vater bestens zu unterhalten. Dieser seinerseits erfreute uns dann dergestalt durch das ermutigendste Eingehen in unser Geplauder, daß ich mich erinnere, wie alle kleinen Erlebnisse damals ihren vorzüglichen Reiz für uns in der Voraussicht des Effektes hatten, den ihre Mitteilung auf den Vater machen würde; und wenn er dann lachte, daß er sich die Augen wischte, wozu ihn besonders die naive Trockenheit meines Bruders reizte, so hatten wir daran die größtmögliche Befriedigung. Es lag auch was Besonderes in der Art, mit welcher jener seinen Beitrag zum Gespräche anzubringen wußte. Als die Rede z. B. einmal auf das Kapitel ungesalzener Witze kam, durch welche fade Menschen, wenn sie heiter würden, so beschwerlich fielen, beliebte es meinem Bruder, in seiner langsamen Redeweise die Mitteilung zu machen, sie hätten auch so einen in der Schule.

Was der denn sage, fragte der Vater.

Der Kleine zerlegte seinen Kartoffelkloß und erwiderte: es höre eigentlich keiner darauf, oder man vergäße es doch wieder; doch habe er heute einen andern Schüler, welcher Polinke heiße, sehr abgeschmackterweise einen Daktylus genannt. Das habe denn so einen Witz bedeuten sollen.

»Warum denn Daktylus?« fragte ich.

»Nun!« sagte mein Bruder, »man könne doch Pentameter draus machen, nämlich so: Polinke, polinke, po– linkepo, linkepo, link.«

Der Vater lachte und bemerkte, wenn jener keine faderen Witze als die mache, so werde man ihn schon dulden müssen.

»Und sicher,« setzte ich hinzu, »befindet sich jener Elende hier am Tische. Niemand anders als du macht solche Pentameter!«

Da wurde der Kleine rot und murmelte, man müsse doch erst abwarten, ob der Vater lachen werde, ehe man sich selber nenne.

Hatten wir uns satt gegessen und gekost, so gingen wir alle wieder an die Arbeit bis zum Abend; dann aber ward gewöhnlich ein gemeinsamer, bisweilen noch durch Schüler meines Vaters vergeselligter Spaziergang unternommen. Es waren dies keine eleganten Promenaden: wir gingen nicht, uns sehen zu lassen, und hatten dazu auch keinen Grund – ja, wären die Leute auf der Straße nicht noch vom Kriege her an allerlei phantastisches Volk, an Mameluken, Baschkiren und Tataren gewöhnt gewesen, wir wären ungehudelt kaum davon gekommen. Mein Vater, dessen Liebhaberei für Waffen aller Art bekannt war, hatte von einem Herrn von Miltiz-Siebeneichen aus dessen Rüstkammer einen mittelalterlichen Schweizerbogen von gewaltiger Kraft und Größe zum Geschenk erhalten, und damit zu schießen machte ihm viel Freude. Wenn wir nun des Abends auszogen, trug er diesen Bogen in der Hand und an der Seite einen ledernen Köcher mit zwölf schlanken, gefiederten Pfeilen. Auch wir Söhne schleppten uns mit gleichen Bogen, die ein kunstreicher Tischler jenem nachgebildet hatte, und führten überdem noch Wurfspieße mit eisernen Spitzen oder Gere, wie sie die Turner brauchten, in den Fäusten. Dazu waren wir alle drei mit türkischen, an den Knöcheln zugeschnürten Pumphosen angetan, die der Vater eingeführt hatte, weil sie gegen das Ankriechen der Holzböcke und anderen Ungeziefers schützen sollten.

Ganz unbefangen wandelten wir in solchem Aufzuge durch die Straßen der Residenz, hinaus nach der sogenannten Heide, einem weiten Tannenwalde, der noch unberührt geblieben war von allem, wodurch man in der Nähe großer Städte der Natur zu Hilfe zu kommen sucht, als glatte Wege, sinnige Plätzchen, Kaffeehäuser und Kegelbahnen. Es war ein wilder Wald, in dessen Tiefe sich meilenweit ein romantisches Tal einkrümmte, durchströmt von der Priesnitz, einem klaren Bergwasser, das unter Erlen und Buschwerk hingurgelte, während die Höhen und Hänge mit alten Kiefern bestanden waren.

Hier pflegten wir zuerst zu baden. Zwar war das Wasser flach, aber wir wühlten uns wie Schlammbeißer bis zum Halse in den weichen Sandgrund ein. Sprang man dann auf, so flossen Sand und Wasser miteinander ab, und man war so blank gescheuert wie eine kupferne Kasserolle. Sonderlich erquickt, griff man nun zu den Waffen, vergnügte sich, mit Speer und Pfeilen nach dem Ziel zu schießen, oder übte sich im Klettern, Laufen, Springen, und der Vater teilte solche Freuden wie ein Jüngling, bis zunehmende Dunkelheit uns nach Hause leuchtete. Hier gab's zum Schluß noch ein frugales Abendessen – und dann ins Bett! Ehe wir uns legten, knieten wir jedoch noch nieder, ein jeder vor seiner Schlafstelle, und der Vater sprach den Abendsegen. Wie erst der Leib in die Gewässer der Priesnitz, so ward nun auch die Seele eingetaucht in die Tiefen göttlicher Erbarmung und schlummerte reinlich und versöhnt hinüber in das Reich der Träume.

Diese kleine Abendandacht anlangend, fällt mir übrigens noch ein Kuriosum ein. Wenn mein Vater nämlich mit uns betete, so hatte er dies die längste Zeit in einer Art und Weise getan, die unser evangelisches Bewußtsein nicht befremdete. Speziell Katholisches war nie hervorgetreten, bis wir vor kurzem im Loschwitzer Familienkreise ein Buch gelesen hatten, welches in uns allen mehr oder weniger katholische Sympathien weckte. Es war dies die Biographie des heiligen Vincentius von Paula, dieses wunderbar begnadigten Mannes, den uns die warmherzige Darstellung des Grafen Leopold von Stolberg so liebgewinnen ließ, daß unsere Herzen für ihn brannten und er einer der frequentesten Gegenstände unserer Unterhaltung wurde.

Als wir nun eines Sonntagabends auf dem Rückwege von Loschwitz mit dem Vater ebenfalls von unserem Helden sprachen und ich die Zeitgenossen beneidete, die zu ihm pilgern und sich seinen Segen erbitten konnten, pries der Vater die katholische Kirche, die auch mit ihren verstorbenen Gliedern in steter Gemeinschaft bleibe, mit solchen wenigstens, deren Seligkeit sie sich vergewissert habe. Aber auch wir Protestanten, fuhr er fort, glaubten gar nicht an den Tod der Kinder Gottes, sondern vielmehr, daß sie erst jetzt in Wahrheit lebten. Lebten sie aber: warum denn sollten wir sie nicht um Segen und Fürbitte ansprechen, da sie uns in dem allgegenwärtigen Gott doch wirklich immer nahe seien? Sprächen wir doch gottselige Freunde um denselben Dienst an, Menschen, welche die Schlacke des Erdenlebens noch gar nicht abgeworfen hätten, den Herrn des Himmels noch nicht sähen von Angesicht zu Angesicht. Er glaube daher, so schloß mein Vater, daß es uns nur erbaulich sein könne, wenn er den heiligen Vincentius, der uns ja nun kein Fremder mehr sei, im Abendgebete von jetzt an ab und zu um seine Fürsprache anginge; wo nicht, so möchten wir es sagen.

Mir war dieser Vorschlag allerdings befremdlich, doch wußte ich auch nichts Rechtes einzuwenden. Es war ja einleuchtend, daß, wenn es keine Abgötterei sei, lebendige Menschen um geistlichen Beistand zu bitten, dies auch bei Toten nicht der Fall sein könne. Daß wir nicht berechtigt seien, die Allgegenwart Verstorbener anzunehmen, kam mir wohl in den Sinn; allein ich dachte: wenn es denn auch der heilige Vinzenz nicht hört, so jedenfalls ein Besserer, welcher am letzten Ende wohl wissen wird, daß seine Heiligen nur seinetwegen angerufen werden und niemand anderes als er selbst gemeint sei.

Wie mein Bruder über diese Sache dachte, weiß ich nicht; er machte aber keine Einwendungen, und so kann ich nicht leugnen, daß wir bösen Protestanten eine Zeitlang mit unserem lieben Vater einen katholischen Heiligen angerufen haben. Von meiner Seite, und wahrscheinlich auch von der des Bruders, geschah dies freilich ohne sonderliche Freudigkeit, da man sich doch des Zweifels nicht ganz entschlagen konnte, ob jener auch hinlänglich offene Ohren habe, und wenn ich unsere Abendandacht vorhin mit dem Priesnitzbade verglich, so war der heilige Vincentius wohl nur der Sand, der wieder ablief.

In der Art lebte man an Werkeltagen. Aber kein Dichter kann beschreiben, mit welchem Festgefühle mein Bruder Sonnabendmittags aus der Schule kam, ich aus dem Gipssaal – wie einen da die Straßen anlachten und die Brücke und der goldene König, und wie seelengut die Menschen alle aussahen! – und doch war's weiter nichts, als daß der nächste Tag ein Sonntag war.

Am freien Nachmittage, der nun folgte, ward etwaige Arbeit fröhlich abgetan und gegen Abend kam das Beste. Dann ging es mit freiem Herzen fort nach Loschwitz, entlang der Elbe, an lustigen Landhäusern, grünen Weinbergen und dem kleinen Wasserfall vorbei, der in der Abendsonne flimmernd aus dem Mordgrunde herabfiel – herrliche Gänge, reich an Geplauder und Erwartung! Und dann erst draußen am geliebten Begerhäuschen! Wie flogen uns da die Mädchen entgegen mit hellen Gesichtern, Kleidern und Stimmen! Und wie hing die Mutter am Halse des geliebten Vaters! – Bis in die Nacht hinein saßen oder promenierten die Eltern miteinander auf blumiger Terrasse, während wir anderen unser Wesen unter dem alten Nußbaum hatten mit meiner Schwester, mit Marie und Marianne und noch einem dritten lieben Hauskinde, dessen ich hier zum ersten Male gedenke.

Es war dies aber ein nagelneuester Neuling in unserem Kreise, ein junges, erst kürzlich für Helene eingetretenes Mädchen, namens Gustchen Götzell. Der Vorsicht halber hatte man sich jedoch meiner erst versichert. Die Mutter brauche Hilfe, sagte mir mein Vater, und dürfe hoffen, daß die genannte, ihr sehr empfohlene Auguste allen Anforderungen entsprechen würde; unglücklicherweise aber sähe dieselbe wieder gar nicht übel aus. Man habe daher nach den Erfahrungen, die man mit mir gemacht, ein sehr gerechtfertigtes Bedenken, es mit ihr zu versuchen.

Mir war der Gedanke, mich als Hindernis der Bequemlichkeit meiner Mutter angesehen zu wissen, ganz unerträglich. Ich bat daher, man möge mir vertrauen, und versprach, mich ganz gewiß nicht wieder zu verlieben. Wunderbarerweise beruhigte dies die Eltern, und die neue Hausgenossin zog bei uns ein.

Auguste war in Helenens Alter und ebenfalls katholisch, welcher letztere Umstand keinen von uns stören konnte, da wir, von Hause aus an kirchlichen Unterschied gewöhnt, nichts Befremdliches darin fanden. Sie teilte eben wie der Vater mit uns die Glaubensansichten, die uns als wesentlich erschienen, und nahm wie jener teil an unserer häuslichen Erbauung. Übrigens war sie ein kerngesundes, herzensgutes Mädchen und allerdings so hübsch und blühend, daß es einem jungen Menschen, der nicht bereits so heiklige Erfahrungen gemacht als ich, schwer hätte werden sollen, ihr gegenüber ein freies Herz zu behalten. Jedenfalls kam ihr eigenes treffliches Verhalten meinen Vorsätzen zu Hilfe, und es gelang uns, ohne Störung gegenseitiger Ruhe jahrelang als rechte gute Freunde nebeneinander hinzugehen. Die Eltern hatten eine gute Wahl getroffen: Auguste bewährte sich in jeder Beziehung, hielt treulich bei uns aus in schwersten Zeiten und verließ uns erst, als sich der alte Plan, nach Rußland überzusiedeln, endlich noch realisierte. Sie ging von uns in eine befreundete Familie über, in deren Verwandtschaft sie (obgleich mittlerweile selbständig geworden) auch noch heute hin und wieder, wo Hilfe not tut, als barmherzige Schwester tätig ist.


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