Wilhelm von Kügelgen
Jugenderinnerungen eines alten Mannes
Wilhelm von Kügelgen

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3. Abermals eine Lustreise.

In der politischen Welt gab's ausnahmsweise Frieden, aber wie Napoleon ihn zu machen pflegte, einen Frieden, der die Keime neuen Krieges in sich trug. Die beiden Machthaber jener Zeit, Napoleon und Alexander, hatten sich zwar zu Erfurt mit brüderlicher Liberalität um den Weltteil vertragen, aber die Folgen dieses Vertrages schienen beiden bald nicht mehr erträglich. Schon im folgenden Jahre entfremdete man sich wieder, denn weder hatte Rußland während des österreichischen Krieges von 1809 den französischen Erwartungen genuggetan, noch entsprach der Wiener Frieden den russischen. Die darauf folgenden Übergriffe Frankreichs in Norddeutschland endlich, sowie die fortgesetzte Umgehung der Kontinentalsperre von seiten Rußlands waren nicht geeignet, das gegenseitige Vernehmen wieder herzustellen. Zwischen beiden Mächten erfolgte ein unfruchtbarer Notenwechsel, und unsere estländischen Verwandten mahnten schon im Sommer 1810 ernstlich zur Rückkehr, damit mein Vater von seinen Kapitalien, die in Rußland standen, nicht abgeschnitten würde.

So geschah es denn, daß die alten Pläne wieder auftauchten. Der gelbe Wagen wurde abermals aus seiner Remise gezogen, genau geprüft und dem Sattler behufs einiger noch anzubringenden Bequemlichkeiten übergeben. Man sprach davon, das Mobiliar samt allem Entbehrlichen unter dem Hammer zu verkaufen, und wegen der Spedition der Bilder und anderer Sachen, von denen man sich nicht trennen wollte, ward mit Sachverständigen beraten. Daß die Reise mit nächstem Frühjahr fortgehen werde, konnten wir Kinder daher kaum bezweifeln, und unsere Phantasie entzündete sich im voraus an den Freuden und Gefahren weiter Wanderung.

Indessen lag es in der Eigentümlichkeit des Vaters, daß er, durch augenblickliche Eindrücke angeregt, Pläne entwerfen und bis ins Detail verfolgen konnte, die sich nachher ganz von selbst verzettelten und vergessen wurden. So entsinne ich mich, daß etwa im Jahre 1808 mit großer Entschiedenheit von einer Übersiedelung nach Rom geplant und alle Freunde dadurch alarmiert wurden; ja, sogar von Konstantinopel war die Rede, als von dem schönsten Fleck der Erde, wo man wohnen müsse, nur daß man warten wollte, bis die Russen es erobert hätten.

Mein Vater war ein selbständiger Mann; er konnte wohnen, wo er wollte, und es mochte ihn erquicken, sich dieser seiner Freiheit von Zeit zu Zeit bewußt zu werden. Im Grunde aber war er doch mit seinem dermaligen Aufenthalte so zufrieden, daß er sogar einen sehr vorteilhaften Ruf an die Berliner Akademie ausschlug, es vorziehend, in Dresden Titularprofessor ohne Gehalt zu werden. So waren denn auch die russischen Pläne, als die Zeit herankam, wieder verdampft, diesmal vielleicht, wie immer, aus sehr vernünftigen Gründen, denn bei näherer Erwägung mochte es einleuchten, daß der Aufenthalt in einer voraussichtlich friedlich bleibenden Stadt einer Ansiedelung auf dem Kriegsschauplatze mit Kind und Kegel vorzuziehen sei.

Ich freilich, in den bereits die Unruhe des Wandervogels gefahren war, dachte anders. Die Lust nach einer Ortsveränderung war mir in Saft und Blut gedrungen, und das gewohnte Leben hatte ich bereits so ausdrücklich zu Grabe getragen, daß mir diese wiederauflebende Leiche fast entsetzlich war. Ich griff daher mit Freude nach einer kleinen Schadloshaltung, die mir die Gunst der Umstände gewährte. Mein Lehrer Senff wollte nämlich seine Eltern besuchen, die in Halle lebten, und hatte sich's erbeten, mich mitzunehmen. Das gab doch wenigstens eine Reise, und wie ich heute glaube, war es die genußreichste, die ich in meinem Leben machte.

Wohl mancher geht zu seinem Vergnügen nach Paris und London und kehrt enttäuscht zurück, weil er, wie Nicolai in Italien, wohl Hitze, Unbequemlichkeit und Flöhe, aber nicht das gefunden hatte, was er suchte, nämlich das Vergnügen. Ich dagegen fand davon viel mehr, als ich erwartet hatte. Halle ist zwar eigentlich ein Ort, den keiner zum Vergnügen aufsucht. Wenn man die berühmten Namen einiger Lehrer der Hochschule abzieht, möchte wenig Nennenswertes übrig bleiben, und Lehrer sind kein Gegenstand des Verlangens für Knaben meines Alters. Die Güte und Freundlichkeit aber, welche ich damals dort erfahren, hat mir die düstere Braunkohlenstadt so lieb gemacht, daß mir das Herz noch heute warm wird, wenn mein Weg mich durchführt.

In einem leichten Korbwägelchen, das Senff selbst regierte, verließen wir Dresden an einem schönen Sommermorgen des Jahres 1811. Wir rollten vergnügt zum weißen Tore hinaus, die Elbe entlang bis Meißen, wo wir Mittag machten und den berühmten Dom besuchten, dessen Inneres mir, trotz meines Unverstandes, ja vielleicht auch gerade wegen dieser Eigenschaft, den lebhaftesten Eindruck machte. Ganz besonders nämlich interessierte mich ein Gegenstand, der von Kennern sonst nicht sonderlich beachtet wird und auch uns nur im Vorübergehen gezeigt ward. Es war dies ein altes Tabernakel des hohen Chors, dessen Schmucklosigkeit sich von einem gewöhnlichen kleinen Wandschränkchen, um Brot und Käse zu verwahren, in gar nichts unterschied. Aber sehr deutlich vernahm das Ohr zu jeder Zeit in seiner Höhlung einen sonderbaren Ton, sehr ähnlich dem Wogen und Wallen gewaltiger Feuerflammen. In katholischen Zeiten, erzählte der Küster, habe man geglaubt, es sei dies ein vermauerter Zugang zum Fegefeuer, während man jetzt nicht wisse, wie jener Ton entstehe. Nun behauptete zwar Senff, daß alles ganz natürlich sei. Es könne angenommen werden, meinte er, daß sich hinter der Rückwand dieses Schränkchens ein unterirdischer Gang hinziehe, der einen Luftzug ermögliche, durch welchen der flackernde Ton veranlaßt würde, vielleicht eine Vorrichtung aus alter Zeit, das abergläubige Volk zu schrecken. Aber die erbaulichen Eindrücke des alten Doms, unter deren Einflüssen ich stand, schienen mir so profane Deutung nicht wohl zuzulassen, und weil ich überdies meinte, Luftzüge von Feuerflammen unterscheiden zu können, neigte ich mich still für mich jener katholischen Ansicht zu und entsinne mich kaum, daß mir in meinem späteren Leben je eine Bußpredigt tieferen Eindruck gemacht hätte als diese demonstratio ad aures, die alle Zweifel über den Haufen warf. Fegefeuer und Hölle verwechselte ich freilich, und warum, dachte ich, sollte es nicht möglich sein, daß die Alten einen Zugang zur Hölle gefunden? Und warum auch hätten sie sonst den Schlund vermauert, der sich nach Senffs Meinung hinter der Nische befand?

Ich war nicht wegzubringen von dem Loche. In vorgebeugter Stellung, mit verhaltenem Atem, mit runden Augen und offenem Munde horchte ich in die rätselhafte Höhlung hinein, dem gespenstischen Lodern unsichtbarer Flammen lauschend, bis Senff mich bei der Hand ergriff und wegzog. Aber wie ein Träumender durchwanderte ich fortan die weiten Räume, indem meine Gedanken einzig bei jenem schauerlichen Orte weilten, da keine Liebe mehr ist, kein Glaube und keine Hoffnung.

Der Pfarrgarten

Nach drei Tagen, die sehr heiß und staubig waren, langten wir mit unserem Pferdchen in Halle bei Senffs Eltern an, die mich freundlich bei sich aufnahmen. Senffs Vater war der erste Pastor, den ich Gelegenheit hatte, von nahem zu besehen, und der erste und älteste einer langen Reihe guter Männer, die ich später in diesem Stande kennen lernte. Die heitere Würde seines Wesens wie die sorgfältige Güte seiner Frau ließen mich so schnell heimisch werden, daß ich die beiden lieben Alten nach ihrem Wunsche schon am ersten Abend Großvater und Großmutter nennen konnte. Nicht minder gefiel mir ein drittes Figürchen, ein niedlicher Backfisch von etwa dreizehn Jahren, namens Lorchen, wenn ich nicht irre, eine verwaiste Verwandte des Senffschen Hauses, an der die treue Sorgfalt der Großmutter Senff sich für spätere Jahre Trost und Stütze erzog. Lorchen nahm mich bald bei der Hand und führte mich durch die Hintertür des Hauses in den Garten, dessen Schönheit mich höchlich überraschte. Die abendliche Kühle, die einem hier entgegenduftete, durchwürzt vom Wohlgeruch der weißen Lilien, die in niegesehener Fülle zwischen Zentifolien blühten, war nach der heißen Fahrt auf staubigen Chausseen so erquicklich, daß man denken konnte, ins Himmelreich versetzt zu sein. »Hier wollen wir alle Tage spielen,« sagte Lorchen, »und ich will dir alles zeigen.«

Der Garten mochte in der Tat recht schön sein, wenigstens war er im Vergleich zu unserem Dresdner Holzstall ein Paradies. Von hohen Mauern eingefriedigt, glich er jenen kleinen, traulichen Klostergärtchen, deren Hauptreiz in ihrer Heimlichkeit besteht. Im Rücken hatte man das Pfarrhaus mit seinen Nebengebäuden. Rechts lief eine Langwand der altersgrauen Moritzkirche hin mit ihren Spitzfenstern und Strebepfeilern, deren tiefe Winkel mit Syringen und anderen Gesträuchen ausgepflanzt waren. Dem gegenüber erhoben sich ein paar mit Efeu verkleidete Brandmauern benachbarter Gebäude, und geradeaus war es ein Teil der alten krenelierten Stadtmauer, der das Ganze von der vorübergehenden Saale abschloß. Das Innere des Gärtchens war seiner altertümlichen Einfassung ganz angemessen. Rechtwinklige, mit Buchsbaum eingefaßte Kieswege, an die sich blumige Rabatten schlossen, durchschnitten die üppigen, hier und da mit Zwergbäumen bestandenen Erdbeer- und Gemüsequartiere, und um das Lusthäuschen, das sich an die obberegte Stadtmauer lehnte, standen in Kübeln Myrten, Oleander und Lorbeerbäumchen. So wenigstens schwebt mir die Örtlichkeit noch vor.

Wir gingen den breiten Hauptweg hinunter und traten in das Gartenhäuschen. Ein süßer Blumenduft erfüllte das kleine Gemach, und auf dem Tische stand ein Tellerchen mit Erdbeeren, die Lorchen vorsorglich für mich gepflückt hatte. Sie lehrte mich auch, die zarten Früchte mit steifem Grashalm spießen und zierlich verspeisen, und half selbst dabei getreulich. Dann erkletterten wir miteinander die Stadtmauer, uns umzublicken. Wir nahmen Platz in einer alten, halbverfallenen Schießscharte, aus deren Gestein eine Fülle wilder Blumen, Kamillen, Kampanulen und wilder Salbei hervorwucherten, und waren bald die besten Freunde. Lorchen erklärte mir die Aussicht auf Strom und Vorstadt, deren wir uns hier erfreuten, und wußte von den Halloren Erstaunliches zu erzählen, bis mein Auge und meine Fragen endlich an der alten Kirche hafteten. Die wollte sie mir auch noch zeigen, und wir durchschritten abermals den Garten, im Vorübergehen die dicken Stachelbeeren prüfend, die eben zu reifen begannen. Durch ein kleines Seitenpförtchen, welches Lorchen öffnete, traten wir in die Kirche ein.

Gelehrtes über die Moritzkirche

Ob die Moritzkirche, die ich seit jener Zeit nicht wiedersah, dem Bilde gleicht, das mir von ihr geblieben, weiß ich nicht zu sagen; sie imponierte mir aber damals sehr. Das Halbdunkel des weiten Raumes, die hohen Gewölbe, der Hall unserer Tritte, die alten Fahnen und Epitaphien wie das rote Licht der scheidenden Abendsonne, das hin und wieder am Gestein der alten Pfeiler spielte, das alles erfüllte mich mit ehrfurchtsvollem Staunen, so daß ich unwillkürlich meine Mütze zog und schweigend neben der hellen Gestalt der Führerin hinschritt, die meine Empfindung nicht zu teilen schien und, als wäre sie hier zu Hause, von einem Gegenstand zum anderen eilend, mich mit lauter Stimme auf alles Bemerkenswerte aufmerksam machte. Da fiel mir eine in Mannshöhe an einem Pfeiler befestigte dunkle Figur auf, ein schwarzer Ritter, schwer gewappnet vom Kopf bis zu den Füßen, der mit seinem bestäubten Antlitz gleichgültig in den Raum hinausstierte. An dem ausgezackten Saume seines Waffenrockes hingen nach dem Geschmack des Mittelalters viele kleine Glöckchen oder Schellen. Lorchen erhob die Hand und sagte, das sei der Ritter Moritz; der habe die Moritzkirche erbauen lassen.

Ich fand, daß er ein schlechtes Gesicht habe, und Lorchen wollte wissen, daß er auch gar kein guter Mann gewesen sei. »Aber warum«, fragte ich, »hatte er denn die vielen Klingeln an seinem Rock?« Lorchen erwiderte, das wäre nötig gewesen, damit man sich vor ihm habe hüten können, und das wolle sie mir erzählen. Zu diesem gegenseitigen Genusse des Erzählens und Sicherzählenlassens machten wir es uns so bequem als möglich; wir ließen uns nebeneinander in einem Kirchstuhl nieder, gerade vor dem bösen Ritter, den ich mir mit Muße ansah, während meine liebenswürdige Begleiterin sich etwa folgendermaßen vernehmen ließ:

»Der Ritter Moritz wohnte drüben auf der Moritzburg, einem alten Schlosse, das wir uns auch besehen wollen. Er war ein störriger Mann, der in der Gegend hier herum viel Unfug trieb und mit jedermann in Feindschaft lebte. Er hatte aber eine fromme Schwester, namens Elsbeth, die ging umher, beschenkte die Armen, heilte die Kranken, und wenn der böse Bruder einen beschädigt hatte, suchte sie es wieder gutzumachen.

Nun traf es sich, daß der Ritter einst bei Tafel mit seinem Burgkaplan in Streit geriet. Der war nicht weniger störrig als der Ritter, aber ein alter, gebrechlicher Mann, und da sie nun beide vollauf gegessen und getrunken hatten, fing der Ritter an, über Pfaffen und Kirche zu spotten und zu lachen. Der Alte entgegnete mit harter Rede. Da gab ein Wort das andere, bis beide wie wütende Truthähne aussahen und Fräulein Elsbeth vor Angst und Schrecken bleich ward. Endlich schlug der Ritter mit seiner Eisenfaust auf den Tisch, daß die Becher umstürzten, nannte den Pfaffen einen Schlauch und schrie ihn an, daß, wenn er je wieder Klöße essen wolle und einen Trunk dazu tun, so solle er zusehen, wo der Zimmermann das Loch gelassen. Der Pfaffe aber fürchtete sich weder vor Gott noch Menschen; vielmehr verachtete er den Ritter, weil der weder lesen noch schreiben konnte und in der Beichte vor ihm knien mußte, richtete sich auf, so hoch er es vermochte, streckte dem Burgherrn seine kralligen Finger entgegen und sprach einen Fluch über ihn aus, der so schrecklich gewesen sein soll, daß Fräulein Elsbeth fast den Tod davon hatte. Da warf der Ritter den ganzen Tisch um, ergriff den Pfaffen, hob ihn in die Luft und schleuderte ihn mit solcher Macht gegen eines der Saalfenster, daß Fensterrahmen, Glasscheiben, Pfaffe und alles miteinander hinunter in den Burggraben polterten. Als er das getan hatte, blieb er, ohne sich zu rühren, wie versteinert mitten im Saale stehen.

Da stand er wie eine Rolandssäule, bis die gute Elsbeth, die hinuntergeeilt war, wieder eintrat. ›Der Pfaff ist tot,‹ sagte sie. Dann brach sie in einen Strom von Tränen aus, rang die Hände und beschwor den Bruder, er solle eilig seinen Frieden mit der Kirche machen, sonst werde man ihn von Land und Leuten bringen, noch ehe der Wind über die Haferstoppel gehe.

Als das der Ritter hörte, schüttelte er sich, daß die Ringe an seinem Panzerhemde klirrten, ließ seinen Rappen satteln und ritt hinauf nach dem Petersberge, wo sonst ein großes Kloster stand. Da lebte ein alter, heiliger Abt, dem beichtete er alles und verlangte die Absolution von ihm. Der Abt entsetzte sich und schwur bei seinem Schutzpatron, dem heiligen Petrus, daß der Ritter gebannt sein solle und ausgeschlossen von aller christlichen Gemeinschaft für Zeit und Ewigkeit, bevor er nicht zu Gottes und des heiligen Moritz Ehren eine Kirche aufgerichtet hätte, so lang und so breit, daß sie weder im Thüringer noch im Meißner Lande ihresgleichen hätte.

Fortan wurden die Bauern aus allen Dorfschaften des Ritters aufgeboten und mußten Steine schleppen mit ihrem Fuhrwerk; die Maurer und Steinmetzen schwangen ihre Hämmer, die Zimmerleute ihre Äxte, und der große Bau stieg wie ein Wunder in die Höhe. Der Ritter aber stellte sich zu allen Stunden auf dem Bauplatze ein und trieb die Arbeiter zur Eile an, denn er hatte keine Ruhe in seiner Seele und konnte es nicht erwarten, daß die erste Messe in der neuen Kirche abgesungen und der Bann von ihm genommen würde. Wenn er dann die Leute nicht beim Werke oder auch nur lässig fand, so warf er einen nach dem anderen nieder und prügelte sie windelweich.

Da sann die gute Elsbeth auf eine List, wie sie die armen Bauleute schützen möge. Sie nähte dem Ritter kleine Glöckchen an seinen Harnisch, und weil sie ihm sagte, das klinge kriegerisch und schön, so ließ er sich's gefallen. Wenn er nun aus seiner Moritzburg heraustrat, konnte man's auf dem Bauplatze gleich hören, und alles war in voller Arbeit, wenn er angeklingelt kam. Aber trotz der größeren Ruhe rückte die Arbeit jetzt schneller fort als vordem, wo die Arbeiter vor lauter Angst zu keiner Überlegung kommen konnten, und nach drei Jahren war der große Bau vollendet. Darauf hielt der Ritter eine Rede und belobte den Baumeister über alle Maßen; in der Nacht aber ließ er ihn heimlich aufgreifen und im hohen Chor vermauern, so daß man lange Zeit nicht wußte, wo er geblieben war.«

Die Geschichte schien hiermit zu Ende, denn Lorchen stand auf und führte mich ins Chor, wo ich den leichenhaften Kopf eines Menschen mit einer viereckigen kleinen Mütze aus der Mauer herausstarren sah. »Hier steckt er drin,« sagte sie. Auf meine Frage, was denn der Baumeister getan habe, erwiderte sie, daß sie's nicht wisse; aber möglicherweise habe der Ritter besorgt, daß der geschickte Meister irgendwo anders noch eine schönere Kirche bauen könne, die größer und breiter als die Moritzkirche sei. Übrigens sei dies das letzte Verbrechen gewesen, das er begangen habe, nicht wegen eingetretener Besserung, sondern während der Einweihungsfeierlichkeit der neuen Kirche habe er so viel Wein getrunken, daß ihn der Schlag gerührt und er der Länge nach tot hingeschlagen sei. Ich sah nun auch den Leichenstein des Ritters Moritz, und die langgestreckte Figur eines geharnischten Mannes in halberhabener Arbeit schien mir die Worte meiner Führerin: »der Länge lang hingeschlagen«, zu bestätigen. Auf einem benachbarten Steine lag die vermummte Gestalt der guten Elsbeth, die ebenfalls ein ziemlich schlaggerührtes Aussehen hatte, und dann verließen wir die dunkelnde Kirche.

Lorchen

Die Tage in Halle verflossen angenehm und schnell. Mit Arbeit pflegte mein Lehrer mich nicht zu übernehmen, zu meiner und wohl auch seiner Schonung. Ich schrieb des Morgens mit halbzölligen Buchstaben an meinem Tagebuch, welches von Zeit zu Zeit unter Senffs witziger Aufschrift: »Meister Wilhelms Wanderjahre« an meine Eltern abging. Das war alles; und übrigens tat ich, was ich wollte, wenn ich's nicht vorzog, zu tun, was Lorchen wollte, die sich gern mit mir befaßte, und deren sanftem Kommando ich willig unterlag.

Unter diesen Umständen geschah es, daß ich eines schönen Nachmittags beim Kaffee, den ich nicht trinken durfte, und gelangweilt vom Gespräch der Großen, das ich nicht verstand, mit der Hand in meine Tasche fuhr und darin ein Stück Bindfaden fand. Das gab sogleich Ideen. Ich verlief mich in den Garten, zäumte eine zerbrochene Bohnenstange als Reitpferd auf und wandelte ein Nelkenstäbchen mittels angehefteter Parierstange zum Schwert um. Für die Koppel wollte der Faden nicht mehr reichen. Ich steckte daher die Waffe bloß durchs Knopfloch, und so ausgerüstet, sprengte ich meiner Freundin ritterlich entgegen.

Lorchen besah mein Schwert, lobte es und schenkte mir ein schönes himmelblaues Band, das sie mir als Wehrgehenke um die Achsel schlang. Dann brach sie einen Lilienstengel voll duftend weißer Glocken und gab ihn mir mit dem Bemerken, daß Ritter Lilien in der Hand haben müßten. Übrigens – sagte sie – wohne sie dort im Gartenhäuschen, und wenn ich mich müde geritten, sollt' ich sie besuchen.

Ich warf mein Pferd herum, tummelte es durch alle Wege, ließ es über die Rabatten springen und war noch gar nicht müde, als ich schon zum Gartenhäuschen einschwenkte. Lorchen saß mit einem Buche auf der Schwelle. Ihre frischen Farben und ihr dunkles Haar, in das sie mittlerweile ein weißes Röschen eingeflochten, harmonierten lieblich mit ihrem himmelblauen Kleide und ich sah zum ersten Male, daß meine Freundin schön war.

Sie habe da eine herrliche Geschichte, rief sie mir entgegen, die wolle sie mir vorlesen, wenn ich's möchte. Wohl mochte ich das und ließ mich gern an ihrer Seite nieder, während sie mit heller Stimme den »Handschuh« von Schiller vortrug und mich damit die erste Bekanntschaft des großen Dichters machen ließ. O, wie umhüpften diese wohlklingenden Verse mein Ohr, so leicht und lieblich, und umgaukelten die Phantasie mit buntem Wechsel der lieblichsten Bilder. Etwas Schöneres glaubte ich nie gehört zu haben und täuschte mich auch schwerlich.

Lorchen fragte, wie mir's gefallen. »Hübsch,« sagte ich, schwang mich auf die Bohnenstange und jagte wieder durch den Garten. Ich war natürlich der Ritter Delorges, Lorchen die Kunigunde; aber ich dachte: verlassen werd' ich sie deswegen doch nicht. Als ich zurückkam, sollte das Lesen zur Abwechselung an mir sein. Ich nahm das Buch und las standhaft wie ein Kantor, während Lorchen gefaßt gen Himmel blickte und den Lilienstengel, den sie mir abgenommen, auf und nieder wiegte. So ging es Tour um Tour, und ich fand Wohlgefallen an so gelehrter Unterhaltung.

Ähnliche Spiele wiederholten sich fortan fast täglich. Ich raste durch den Garten mit einer Hast, als hätte ich meilenweite Strecken zurückzulegen, um zu dem Pavillon zu kommen, wo Lorchen mich empfing, mich mit Erdbeeren, Stachelbeeren, Pflaumen stärkte, und wir dann miteinander in den Zauberhain der Dichtung traten. Wir lasen Schillersche und Bürgersche Balladen und anderes, was ich vergessen habe. In der Tat weiß ich es nicht, wo jenes gute Mädchen die Geduld hernahm, so ausdauernd mit mir dummem Jungen zu verkehren. Freilich stand sie selbst damals den träumerischen Phantasien der Kindheit wohl noch näher als den Interessen reiferer Jahre, und in der Einsamkeit ihres zurückgezogenen Lebens mit zwei alten Leuten mochte meine Gesellschaft ihr lieber sein als keine. Ohne sie wäre ich damals schwerlich vom Heimweh frei geblieben, zu dem ich immer neigte; sie aber gab jenen Tagen in der Fremde Blumenduft und Schimmer und war so allerliebst und gut mit mir, daß ich ihrer freundlichen Gestalt noch heute nicht ohne Rührung denken kann.

Der Eßschlaf und die erste Leiche

Unter den aushäusigen Vergnügungen, die mir in Halle zuteil wurden, stand eine Exkursion nach Friedeburg am Fuß des Petersberges obenan, wo ein älterer Bruder meines Lehrers Pastor war. Die Großeltern und Lorchen waren mit, und es fehlte nicht an jeder ländlichen Kurzweil, d.h. man ging spazieren, speiste im Freien, machte und empfing Besuche usw.

Am besten gefiel es mir im Pfarrgärtchen bei den Stachelbeeren, in deren Dickicht ich und Lorchen auch meist anzutreffen waren. Da zehrten wir ärger als die bösartigsten Raupen. Als wir uns nun einmal bei diesem Geschäft der Geißblattlaube nahten, wo die Alten Kaffee tranken, rauchten und unserer nicht achten mochten, kam es vor, daß ich mit Essen feierte und auf die sonderbaren Geschichten horchte, die der ältere Bruder Senff und seine Frau zum besten gaben.

Diese Mitteilungen galten einer Erscheinung, die dazumal das allgemeinste Interesse erregte, weil man sie als endlichen Erfahrungsbeweis für die Selbständigkeit der Menschenseele begrüßen zu dürfen glaubte, und von der ich hier zum ersten Male Kenntnis nahm.

Daß die Friedeburger Senffs eine Tochter hatten, welche in jüngster Zeit langwierig krank gewesen und endlich auf rätselhafte Weise genesen war, wußte ich zwar schon aus Lorchens Munde. Sie wäre nämlich, erzählte diese, von ihrer Mutter so lange gestreichelt worden, bis sie geweissagt und selbst die Mittel zu ihrer Heilung angegeben hätte, und das wäre eine neue Methode. Hier unter dem Stachelbeerbusche erfuhr ich nun das Nähere.

Die Kranke nämlich, ein junges Mädchen von Lorchens Alter oder vielleicht auch ein paar Jahr älter, war ganz von selbst in jenen rätselhaften Zustand verfallen, da die Seele ohne sinnliche Vermittelung eine deutliche, stoffdurchdringende Wahrnehmung der objektiven Welt haben soll, und hatte sich selbst während dieser Clairvoyence eine fortgesetzte magnetische Kur verordnet, welche übrigens nicht der Arzt ausführte, sondern die eigens von jener angewiesene Mutter. Der Rapport, welcher sich infolgedessen zwischen Mutter und Kind gebildet hatte, war überaus lieblich, und wurde davon viel erzählt. Beide führten fortan unter gegenseitig gesteigerter Zuneigung ein gewissermaßen gemeinschaftliches Seelenleben, und schlafend sah die Kranke ihren mütterlichen Engel in so leuchtend herrlicher Gestalt, daß sie keine Worte fand, sie zu beschreiben. Wohl aber beschrieb sie klar und deutlich die Mittel zu ihrer Genesung und bestimmte Tag und Stunde, da sie wieder geweckt sein wollte. Unter diesem »Wecken« verstand sie aber das, was man im gemeinen Leben besser »Einschläfern« nennen würde, denn merkwürdigerweise bezeichnete sie den todähnlichen, magnetischen Schlaf mit dem Worte »Wachsein«, während sie den normalen wachen Lebenszustand »Eßschlaf« nannte. Als sie nun, schon in der Besserung, zum letztenmal in ihrer Weise wach war, wußte sie dies und beklagte es bitter, daß ihr von nun an der Anblick der verklärten mütterlichen Gestalt entzogen sein sollte. »Erst im Himmel, Mutter,« hatte sie weinend gesagt, »werde ich dich wiedersehen wie heute, so schön, so herrlich schön!«

Die Kranke war nun schnell und vollständig genesen, und als wir nach Friedeburg kamen, befand sie sich – vielleicht zu einer Nachkur – bei einer befreundeten auswärtigen Familie im ununterbrochensten Eßschlaf, daher ich sie nicht sah.

Das war es, was ich damals aus dem Gespräch der Großen auffing und mir später, bei reiferen Jahren, von Senff bestätigt ward – immerhin genug, in dem Gehirne eines phantastischen Knaben die mannigfachsten Gedanken anzuregen. Namentlich glaubte ich jetzt den Schlüssel zu jener Glorie zu haben, die ich unlängst um meines Lehrers Haupt gesehen hatte. Ich konnte damals wohl ein wenig somnambul gewesen sein und durfte mich in diesem Falle einer Fähigkeit erfreuen, die ich gern einmal zur Perfektion gebracht hätte, namentlich um meine Mutter in ihrer himmlischen Gestalt zu sehen. Die Eindrücke jener Zeit drängten und verdrängten sich indes so rasch, daß ich am einzelnen nicht lange haften konnte.

So brachten wir, nach Halle zurückgekehrt, unter anderem einen Abend bei Senffs zweitem Bruder zu, welcher Anatom und Professor an der Klinik war. Was mir zuerst auffiel, war ein gewisses süßlich widerliches jenesaisquoi, das mir schon auf der Treppe auffiel und alle Räume der Wohnung durchwebte. Die Ursache lag übrigens zutage, denn an den Wänden des Vorsaales prangte eine reiche Sammlung anatomischer Präparate, die in wasserhellem Spiritus alle Gattungen und Arten des Unaussprechlichsten enthielt.

Kinder haben bei ihren Sammlungen kaum andere Zwecke als ästhetische, sie pflegen ihre Schmetterlinge und Siegel nur zur Augenweide aufzustellen; was aber einen erwachsenen Mann bewogen haben konnte, dergleichen ekelhafte Mißgeburten, Geschwülste und Geschwüre nicht nur sorgfältig zu bewahren, sondern obendrein noch damit zu prunken, wie das hier der Fall schien, war mir unverständlich. Inzwischen mußte diese Sammlung dennoch ihren Reiz haben, vielleicht war es der französischer Romane, der Reiz des Gräßlichen, denn während die Großen sich im Nebenzimmer lachend unterhielten, stand ich noch lange allein vor jenen Gläsern und schaute mit genußvollem Abscheu an, was mir so sehr mißfiel. Schon etwas übelig, ward ich zum Essen gerufen, wo meiner eine neue Prüfung wartete. Man war glücklicherweise schon beim Nachtisch, als ein Bürgersmann hereintrat und dem Professor ein ansehnliches Paket in blauem Zuckerpapier überreichte. Dieser schien darüber in so hohem Grade erfreut, daß ich auf einen tüchtigen Pfefferkuchen oder Stollen schloß, den vielleicht ein dankbarer Bäcker für empfangenen ärztlichen Beistand spende. Statt dessen lag nach Entfernung aller Emballagen ein kleiner nackter Kinderleichnam auf dem Tische, mit grünem, hochaufgetriebenem Bauche. Sichtlich befriedigt befühlte und bestreichelte der Gelehrte diesen ohne Zweifel nicht wenig instruktiven Leib, gab dem Manne Geld und sprach zur Magd: »Trag's in den Keller!«

Ob nun noch andere Gründe hinzukamen, weiß ich nicht, kurz, in der Nacht fand in meinem Bette eine Eruption statt, die das ganze Haus alarmierte.

Mein Geheimnis

Daß Halle ein Ort ist, wo junge Leute was profitieren und zu neuen Anschauungen gelangen können, muß schon aus dem Vorhergehenden erhellen, und dennoch bin ich mit dem Wichtigsten noch im Rückstand.

Meine Mutter, die in ihrer Kindheit mit abstraktem Religionsunterrichte, den eine alte Gouvernante erteilte, schrecklich gelangweilt worden, mochte wünschen, uns vor gleicher Belästigung zu bewahren. Im Einverständnis mit dem Vater und unseren Miteltern Volkmanns war die Religion daher von unserem Schulplan abgesetzt. Das Heilige sollte nicht wie lateinische Grammatik traktiert werden; es durfte nicht zur Schulplage werden, sollte uns vielmehr Herzenssache, Erhebung, Trost und Freude bleiben – und allerdings, wenn die Mutter gelegentlich in stillen Feierstunden mit uns Kindern von göttlichen Dingen sprach, so war dabei kein Leiden, nur herzerhebende Erbauung. Daß diese Unterhaltungen, die wir alle liebten, nichts anderes als die Religion zum Gegenstande hatten, ahnten wir nicht im geringsten. Unter Religion dachten wir uns vielmehr etwas ganz Apartes, für Kinder Unzugängliches, wovon nur zu reden unsererseits die äußerste Affektation verraten würde. Als daher Ludwig Engelhard einmal unter den Lehrgegenständen seiner Schule auch der Religion gedachte, so schien uns dies für seine Jahre ebenso unpassend, als wenn er in der Astrologie oder Kabbala unterrichtet würde, und wir befragten unseren Lehrer, ob es wohl wahr sein könne.

Um uns also die Religion nicht zu verleiden, verschonte man uns mit ihrer schulgerechten Unterweisung, und aus ähnlichen Gründen mochten wir denn auch in keine Kirche kommen, mit Ausnahme der katholischen, die Senff der geistlichen Konzerte wegen, welche dort gegeben wurden, ab und zu mit uns besuchte. Der mit den Eltern ganz einverstandene Lehrer mochte denken, daß wir von der Predigt doch nichts verstehen, uns langweilen und endlich einen Widerwillen vor öffentlichen Gottesdiensten in unsere reiferen Jahre mit hinübernehmen würden, vor welchem Nachteil man uns bewahren wollte. Daß gerade das Gegenteil damit erreicht wurde, lehrte später die Erfahrung.

Obgleich ich nun in Halle mitten in einem Pfarrhause lebte und dieses wie ein Sperlingsnest am Gotteshause angeheftet war, wurde ich hier dennoch nach denselben unkirchlichen Grundsätzen behandelt; und als am ersten Sonntagsmorgen, den ich hier verlebte, die anderen alle zur Kirche gingen, schien es mir ganz selbstverständlich, daß ich zu Hause blieb. Ich wußte es nicht anders und hatte kein Verlangen nach einer Sache, die ich nicht kannte. Allein gelassen, schrieb ich vorerst einige Zeilen an meinem Tagebuche und schlenderte dann aus Langerweile im Hause herum, bis ich zufällig die offene Bodentreppe fand.

Rumpelkammern und Bodenräume haben für Kinder ein bedeutendes antiquarisches Interesse. Ich machte mich sogleich ans Werk, den alten Trödel des Hauses zu durchstöbern, als meine Aufmerksamkeit sich plötzlich einem anderen Gegenstande zuwandte. Mir war's, als hörte ich sprechen. Ich horchte auf: da schwieg die Stimme, aber es umschwebte mich ein wundervoller Klang, immer mächtiger anschwellend gleich den Orgeltönen, die ich zu Dresden in der katholischen Kirche gehört hatte. Darauf ging es in Harmonien über, und bald durchbrauste ein mächtiger, vollstimmiger Gesang aus Hunderten von Kehlen den einsamen Boden – ich aber stand da mit offenem Mund und Ohren, wie ein Behexter. Doch bald erwachte der von Senff gepflegte Forschungstrieb: ich mußte der Sache auf den Grund gehen und examinierte die Lokalität so lange, bis ich dort oben an der Giebelwand eine viereckige Öffnung gewahrte, die nicht ins Freie zu gehen schien.

Von dort drang offenbar der Tönestrom herein. Ich baute mir ein Treppchen von ein paar Kisten, kletterte hinauf und schmiegte meinen kleinen, biegsamen Körper in die tiefe Fensterbrüstung, die ich fast gänzlich ausfüllte. Da hockte ich wohlgeborgen wie eine junge Mauerschwalbe und blickte in den oberen Raum der Moritzkirche, sogar bis auf die Kanzel, wenn ich mich vorbog, was übrigens des Hinunterfallens wegen vermieden wurde.

Ich war bis dahin, wie gesagt, ein Fremdling im Hause meines Gottes gewesen, ich hatte keine Idee von einem öffentlichen Gottesdienst gehabt und wußte weder, was ein Choral, noch was eine Predigt war. Von alledem ward ich heute zum ersten Male Zeuge, und was ich dabei empfand, ist unaussprechlich. Kinder sind eines hohen Aufschwungs ihrer Gefühle fähig, und möglich, daß ich bei aller meiner Religionslosigkeit in meinem Mauerloche andächtiger war als irgendeiner der exzentrischen Schreier, die da drinnen Gott mit lauter Stimme priesen. Hätte ich mitten in der Gemeinde gesessen, so wäre ich vielleicht weniger gerührt gewesen, aber dieser Gottesdienst hatte für mich zugleich den Reiz der Heimlichkeit, die von Salomo gepriesene Niedlichkeit des gestohlenen Brotes, und »keine Kohle, kein Feuer kann brennen so heiß, als heimliche Liebe, von der niemand nichts weiß«, welche Liebe man auch in Andacht transponieren kann.

Da schwieg die Orgel, und es begann die Predigt. Ich beugte mich neugierig vor und stürzte zwar nicht hinunter, wohl aber erblickte ich die ehrwürdige Gestalt des alten Senff in seinem schwarzen Chorrock. Ich konnte alle seine Worte hören, und sie dünkten mich sehr fromm und gut, obgleich ich schwerlich verstand, wovon die Rede war; doch ist das Nebensache, wenn man sich nur erbaut.

Als das Amen gesprochen wurde und die Kirchengebete begannen, fühlte ich übrigens, daß es genug sei. Ich schob mich aus meinem harten Neste heraus und kletterte herab, dehnte und streckte mich mit Behagen und gelobte mir, mein köstliches Geheimnis für mich zu behalten. Dies gelang auch bis zum nächsten Sonntag, wo Lorchen mich hier entdeckte und es nicht leiden wollte, daß ich ferner in das Loch kroch. Sie saß noch mit mir auf der Kiste, bis der Gesang zu Ende war; dann kam ich niemals wieder her.

Die Harzreise.

Nach etwa vierzehntägigem Aufenthalte in Halle sollte unsere Wanderschaft mit einer Tour in die Berge beschlossen werden, auf welcher Senffs alter fünfundsiebzigjähriger Vater wie auch der Bruder Professor uns begleiteten, so daß wir gerade einen Wagen füllten.

Professor Senff war ein ziemlich wohlbeleibter, etwas pockennarbiger, jovialer Mensch mit breiter Brust und kurzem Halse, einer von denen, die gerne in Hemdärmeln sind und niemals ein Halstuch umlegen und den Hut auf dem Stocke tragen, ein guter Schwimmer und rüstiger Fußgänger. Er war voll Witz und guter Laune und hatte mich so in der Gewalt, daß ein Blick genügte, mich zum Ausplatzen zu bringen. Wenn er wollte, konnte er entsetzlich dumm aussehen, und diese Dummheitsflagge steckte er auf, wenn die Gesellschaft im Wagen stumm und faul ward; dann brach alles in Lachen aus. Auch konnte er zwei Schock Kirschen essen, ohne die Kerne auszuspucken; dann aber zählte er diese wieder aus dem Munde, und siehe da, es fehlte keiner. Dieses Kunststück nachzumachen, bemühte ich mich die ganze Reise, brachte es aber nicht weiter als bis auf zwanzig, und hintennach taten einem noch die Backen weh.

Wir fuhren über Mansfeld und machten Mittag auf dem alten Grafenschlosse, wo damals, in westfälischen Zeiten freilich, nur ein Gastwirt hauste. Von der geschichtlichen Bedeutung der Mansfelder Grafen hatte mir Senff das Nötige gesagt, so daß ich nicht ganz unvorbereitet die einfachen, halbverfallenen Räume ihrer ehemaligen Residenz durchwanderte. Ganz besonders interessierten mich die Souterrains, die weitläufigen Keller und Gänge, in denen wir bei Lampenlicht umherirrten. In dem großen Gewölbe unter der Kirche, wenn ich nicht irre, der ehemaligen Grabstätte der Grafen, hatte ich mich, den anderen voraneilend, etwas zu weit vorgewagt, als mich ein »Halt, junger Herr!« des Führers andonnerte, und noch zu rechter Zeit erwischte mich Professor Senff beim Kragen, sonst wäre ich wie Hamlets Geist versunken und in einen Schacht gestürzt, der dicht vor meinen Füßen steilrecht in die Tiefe ging.

Dergleichen Löcher sollte es, nach Aussage des Führers, in diesen Kellern viele geben, um tieferliegenden Gängen, deren Ende man nicht kenne, Luft zuzuführen, und die Vorstellung einer so endlosen unterirdischen Welt, die selbst den Bewohnern des Schlosses unbekanntes Land war, erfüllte mich mit ehrerbietigem Staunen. Überhaupt war mir's auf dem Mansfelder Schlosse, der ersten alten Burg, die ich zu sehen bekam, gar wundersam zumute, als sei ich der Gegenwart entrückt, als berühre mich eine längst verflossene, aber große Zeit mit geisterhaftem Flügelschlage und schlösse mich in träumerische Umarmung. Mit einer mir bis dahin unbekannten, nach dem, was unwiderruflich vergangen war, zurückgerichteten Sehnsucht verließ ich zögernd, noch oft mich umblickend, die altersgrauen Mauern des berühmten Schlosses.

Nicht minder haben sich mir, wenn nicht die Begebenheiten, doch die Gemütseindrücke der übrigen Reise eingeprägt. Ich sah das erste Gebirge, stand hoch auf dem Brocken, weit aufatmend über Nebel und Wolken, und stieg, durchrieselt von den Schauern der Unterwelt, hinab in die kristallenen Eingeweide der Erde.

Wie lebhaft Kinder doch empfinden mögen! Ich habe das später alles ohne sonderliche Emotion wiedergesehen und namentlich kaum begreifen können, wie das feuchte, dunkle Loch der Baumannshöhle mir damals einen so mächtigen Eindruck machen konnte. Aber freilich war das alles auch unendlich schöner und charakteristischer als jetzt. Der Harz war noch ein abgelegenes Waldgebirge mit ungebauten Wegen, die sich malerisch durch die Täler zogen. Geradlinige Chausseen mit schattenlosen Obstalleen oder gar, wie heutzutage, Schienenwege gab's noch nicht. Im Bodetale sah man weder Kellner noch Hotels, man hörte dort noch nichts vom Lärm der Kegelbahnen, und kein Konditor hatte sich unter jenen Felsenhängen angesiedelt. Unverziert und unverschnörkelt stand der Falkenstein noch in seiner ursprünglichen Einfalt da, und die Tropfsteinwände der Höhlen, jetzt geschwärzt vom Dampf der Feuerwerke, warm rein und weiß wie Zucker. Man reiste freilich unbequemer, aber ebendeswegen mit reichlicherem Genuß; denn mit dem Preise, den wir dafür zahlen, steigt der Wert der Dinge.

Der letzte Ort am Harz, den wir berührten, war Ballenstedt. Gleichgültig sah ich das weiße Schloß mit seinen Gärten an, nicht ahnend, daß ich als Flüchtling bald hierher zurückkehren sollte, und noch weniger, welche tief einschneidende Bedeutung dieser kleine Ort einst für mein späteres Leben haben würde.

Von Halle aus ging's dann weiter und ohne Aufenthalt zurück nach Dresden.


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