Wilhelm von Kügelgen
Jugenderinnerungen eines alten Mannes
Wilhelm von Kügelgen

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2. Ob Herr Senff ein Heiliger gewesen.

Mein Umgang mit dem alten Freunde Talkenberg war freilich jetzt so ziemlich auf nichts reduziert, denn für Feier- wie für Arbeitsstunden war ich dem Lehrer übergeben, wohnte mit auf seinem Zimmer, ging mit ihm aus und ein und spielte auch gewöhnlich unter seiner Aufsicht. Das alles war kein Nachteil, denn Senff war ein trefflicher und frischer Mensch, und nichts konnte verfehlter sein als Talkenbergs Annahme, daß ich unter seiner Zucht verprinzeln und die Anwartschaft auf einen rechten Kerl verlieren würde. Senff hatte vielmehr ganz entschiedenen Widerwillen gegen jede Art von Verweichlichung, gegen alles verschrobene und gemachte Wesen wie gegen Affektation und angelernte Manieren. Er wollte, daß wir uns zeigen sollten, wie wir eben waren, gewöhnte uns an strenge Wahrheit unserer Ausdrucksweise und duldete keine Äußerung, die nicht im Einklange mit unserer Empfindung und Einsicht gewesen wäre. Fiel dergleichen bei anderen Kindern vor, so machte er uns aufmerksam und lachte darüber. Freilich wurden bei solchen Wahrheitsbestrebungen so manche hergebrachte Formen konventioneller Höflichkeit mit anderen Affektationen in einen Topf geworfen, und ich wuchs unvermerkt in eine Richtung hinein, die mir im späteren Verkehr mit Menschen hinderlich geworden; denn die Gesellschaft will nichts weniger als Wahrheit, mit der sie nicht bestehen kann. Dafür blieben wir aber auch allesamt von jenem gemachten Wesen frei, das, bei Männern wie bei Frauen widerwärtig, jede freundschaftliche Annäherung unmöglich macht.

In solcher Natürlichkeit verstanden wir Kinder uns vollkommen mit unserem Lehrer und machten es ihm daher auch ganz vollkommen zu Dank. In anderer Hinsicht mußte namentlich ich mich erst gewöhnen lernen. Zwar daß Senff beim Unterricht auf Ordnung halten, mich meistern und durch Besserwissen molestieren würde, hatte ich anders nicht erwartet, daß er aber auch die Anmaßung haben würde, meine Spiele zu beherrschen, das war mir überraschend und außerordentlich zuwider. Doch mochte er gerade damit den besten Einfluß üben, indem er nicht nur eine mir angeborene unstete Leidenschaftlichkeit in meinen Liebhabereien zu zügeln und mir durch sein tätliches Eingreifen allerlei praktische Kenntnisse und manuelle Geschicklichkeiten beizubringen wußte, sondern mich auch nötigte, bei allem, was ich tat, mir meines Tuns bewußt zu werden und mit der gewissenhaftesten Akkuratesse zu verfahren.

Inzwischen war mir die Unbequemlichkeit solches Zwanges einleuchtender als dessen Nutzen. Ich fühlte mich in der gewohnten Freiheit allzusehr beschränkt, und da Senff noch obendrein seiner Neigung, mich bei den Ohren zu zausen, nicht immer Einhalt tat, mich auch hin und wieder mit Püffen und Kopfnüssen regalierte, so vereinigten sich alle diese Umstände, mich irre an ihm zu machen, und ich fing nachgerade an, ihn in meinem Herzen für einen Bösewicht zu halten.

Diese Annahme wurde jedoch beizeiten durch eine seltsame Erscheinung paralysiert. Es traf sich nämlich, da ich meinem Lehrer in der Rechenstunde gerade gegenübersaß, daß ich einen wunderbaren Schein um seinen Kopf bemerkte. Vielleicht, daß der Kontrast seiner dunkelbraunen Locken zu dem hellerleuchteten Hintergrunde einer gelben Wand an der Grenze beider den Anschein einer Lichtverstärkung bewirkte, oder was es sonst sein mochte, genug, ich sah eine Glorie wie um gemalte Heiligenbilder und geriet darüber in die eigentümlichsten Vermutungen.

Die besten Menschen waren bei ihren Lebzeiten für Bösewichter gehalten und hingerichtet worden, das wußte ich aus einem die Martern der Heiligen darstellenden Kupferwerke meines Vaters, und war es daher nicht denkbar, daß auch Herr Senff ein Heiliger und nur von mir verkannt sei, wie jene von ihren Zeitgenossen? Heute wenigstens war doch ein Glanz durch seinen Hirnschädel gebrochen, der solche Deutung zu rechtfertigen schien.

Diese Vermutung teilte ich meiner Mutter mit. Sie erwiderte, man könne das so nicht wissen; indessen hätten Kinder ihre Lehrer immer als geheiligte Personen anzusehen, sie als solche zu verehren und ihnen zu gehorchen. Ich wandte bescheiden ein, Herr Senff raufe mich freilich sehr bei den Ohren; aber die Mutter erwiderte, das würde sich schon geben. Meine Aufgabe sei jetzt die, daß ich mich untadelhaft gegen ihn betrüge, dann würde er zuverlässig auch freundlicher mit mir umgehen.

Nun kann ich mir das ehrende Zeugnis nicht versagen, daß ich von dieser Zeit an wirklich bemüht war, den Weisungen der Mutter nachzukommen, und so gelang es mir denn auch, mich einigermaßen mit der Art und Weise meines Lehrers auszusöhnen. Ich lernte einsehen, daß er es gut mit mir meinte, gewann ihn lieber und halte ihn noch heute wert in meinem Herzen.

Unterricht.

Ich weiß es nicht, ob Senff gleich mit der Absicht und vielleicht gerade deshalb in unser Haus gekommen war, um sich fortan der Malerei zu widmen, oder ob er, durch das lebhafte Kunstgetriebe, in das er sich versetzt fand, angesteckt, erst zu solchem Entschluß gelangte – kurz, er wollte nun auch Maler werden, zeichnete und malte fortwährend, und indem er uns unterrichtete, genoß er gleichzeitig die Unterweisung meines Vaters. Mit bewundernswürdigem Eifer arbeitete er den ganzen Tag, zugleich lehrend und lernend unter uns Kindern, und sein langer Malstock, mit welchem er, hinter der Staffelei vorlangend, jeden erreichen konnte, erinnerte die Träumer ans Aufmerken.

Senffs Unterrichtsmethode war, soweit ich mich ihrer entsinne, die Pestalozzi-Krugsche, wobei es weniger darauf ankommen sollte, daß man was lernte, als vielmehr auf die Art und Weise, wie dies geschah. Das Lernen war zu seinem eigenen Gegenstand geworden, und die formale Kopfbildung sollte den Fachkenntnissen voraus oder doch wenigstens Hand in Hand mit ihnen gehen. Man hatte den Weg der älteren Schule, von der Praxis zur Theorie, vom Glauben zur Einsicht verlassen und experimentierte nun einmal zur Abwechselung von der verkehrten Seite; denn nichts schien rationeller, als vorerst das Gefäß zu formen, ehe der Inhalt eingeschüttet wurde.

Wie naturwidrig diese Methode und wie gefährlich sie in ihren Konsequenzen sei, mochten damals nur wenige begreifen, weil es an Erfahrungen fehlte. Es huldigten ihr die besten Köpfe, und nach alter Weise zu unterrichten, wäre philiströs gewesen. So hatte ich denn nun damit zu beginnen, vorerst das schon Gewußte zu vergessen und es mir unter der Zucht der neuen Methode von neuem anzueignen. Denn daß einer etwa lesen konnte, schien unstatthaft, bevor er das Sprechen begriffen hätte, und selbst das Sprechen wertlos ohne die nötige Kunde von der Entstehung der einzelnen Sprachlaute.

Es gab daher nicht wenig zu beschaffen und zu begreifen, ehe es möglich wurde, den eigentlichen Leseunterricht zu beginnen. Lehrer und Schüler sperrten gegenseitig die Mäuler auf, ersterer, um anschaulich zu machen, wie und auf welche Weise er schnurrend, zischend, säuselnd oder schnalzend die Zunge lege, letztere, um dem prüfenden Auge des Lehrers die nötige Einsicht in ihre respektiven Sprachwerkstätten zu gestatten. Je nachdem nun Zunge, Zähne, Lippen oder Gaumen tätig waren, wurden die produzierten Konsonanten auch benannt als »Zisch-, Schnurr- und Säusellaut, Lippen-, Zahn-, Gaumenschluß« usw.

So schnurrten, säuselten und zischten wir denn einander an wie Schlangen und waren so eingenommen von dieser Sache, daß uns nichts abgeschmackter und altmodischer vorkam als das Buchstabieren der älteren Schule. Ich prahlte daher auch gegen meine Freunde, die in ordinären Schulen waren, mit Schnurrlauten und Gaumenschlüssen und achtete es wenig, wenn Ludwig Engelhard und Fritz Pezold mich damit auslachten.

Wenn nun freilich auf diese Weise mancherlei begriffen wurde, ohne Buchstabieren und Syllabieren jedoch ein fester Grund in der Rechtschreibung nicht gelegt werden konnte, so schien die neue Lehrweise doch ganz besonders beim Rechnen angebracht, das seiner Natur nach jeden Dogmatismus ausschließt. Wir rechneten bloß im Kopf. Schriftliches Rechnen war als undurchsichtiger Schematismus fürs erste ausgeschlossen. Nichts wurde angenommen, bevor es eingesehen war, und selbst das Einmaleins lernten wir nicht eher auswendig, als bis wir's ausgerechnet und uns überzeugt hatten, daß es sich wirklich so verhalte.

Wo wir der Anschauung bedurften, bediente Senff sich sehr zweckmäßiger, von ihm selbst erfundener Rechenklötze, welche, zu verschiedenen Größen abgeteilt, die nötigen Beweise lieferten. Auch spielten und bauten wir in Freistunden mit solchen Rechensteinen, so daß die arithmetischen Proportionen sich uns auf alle Weise einprägten. Unter ihrem Bilde, und nicht der Ziffern, schwebten mir denn auch immer die Zahlengrößen vor. Ich rechnete nach gedachten Klötzen, eine treffliche Methode, die mich bald in den Stand setzte, ziemlich verwickelte Aufgaben mit Schnelligkeit zu lösen und für meine Jahre Ungewöhnliches zu leisten. Dies war indessen nur ein Resultat zweckmäßiger Unterweisung, denn die natürliche Befähigung zum Rechnen fehlte mir; sie war mir eben nur eingepflanzt und verschwand wieder, wie ein Pilz, der über Nacht gewachsen ist.

Ich weiß es nicht, ob es zu rasch gesteigerte Anforderungen waren, an denen ich erlahmte, oder ob meine Natur eine Tätigkeit, die ihr nicht adäquat war, nur bis zu einem gewissen Grade ertragen konnte – kurz nach einem heftigen Auftritt in der Rechenstunde schleppte unser Informator mich beim Kragen in das Atelier des Vaters, laut klagend, daß der dumme Junge nun plötzlich nicht mehr wisse, wieviel einmal eins sei.

Das war nur allzu wahr. Ich hatte mich in einer schwierigen Aufgabe dergestalt verwickelt und verfangen, daß ich mich plötzlich in den allereinfachsten Zahlenverhältnissen nicht mehr zu orientieren vermochte. Und so blieb es; ich faßte gegen das Kopfrechnen einen unüberwindlichen Abscheu, wurde damit nicht weiter gequält und zu der Mechanik des Zifferrechnens übergeführt, worin ich jedoch nur sehr geringe Fortschritte machte.

Inzwischen wurde auch das Lateinische angefangen, Geschichte, Geographie und Naturgeschichte betrieben. Doch muß ich zu meiner Schande bekennen, daß es mir damals ziemlich einerlei war, wie die Römer ihre Tische benannt hatten, ob mensa oder anders, ob Sardanapal ein Weichling oder ein Held gewesen, ob die Erde eine Scheibe, eine Kugel oder ein Triangel sei, und ob die Fische ihre Jungen säugten oder mit Kuhmilch auferzögen. Mit einem Wort, es fehlte mir an Wißbegierde, und am liebsten hätte ich den ganzen Tag gezeichnet oder andere praktische Dinge getrieben, bei denen doch etwas herauskam.

Belustigungen

Mein lieber Schulgenosse und Freund Alfred Volkmann, ein hübscher und braver Junge, war mir bald der liebste unter den Gespielen meiner Kindheit geworden, wie er denn auch der ausgezeichnetste und begabteste war. Etwas älter, aber zugleich verständiger als ich und mir in allem überlegen, zeigte er schon damals Eigenschaften, die für sein Fortkommen in der Welt Erfreuliches erwarten ließen. Namentlich verband er mit einem klug aufmerkenden Sinn in allem, was er trieb, gewissenhafte Ausdauer und viel Energie des Fleißes; daher er mir denn auch nicht selten als Muster vorgehalten wurde. Nachdrücklicher noch mochte indes sein Beispiel wirken, wie ich mich unter anderem eines Falles erinnere, da er mich zwar nicht durch Fleiß und Einsicht, wohl aber durch eine allerliebste Aufmerksamkeit gegen seine Mutter sehr in Schatten stellte.

Wir hatten nämlich, ich weiß es nicht, durch welchen besonderen Glücksfall, ein jeder einige Groschen klingender Münze in unseren Besitz bekommen. Was ich für meine Person damit machen sollte, war mir nicht zweifelhaft. Ich ließ mich in der Portechaise über die Brücke tragen und wieder zurück, voraussetzend, daß Alfred sich sein Leibessen, nämlich warmen Quarkkuchen, vom Bäcker kaufen würde. Statt dessen aber hatte er, um seine damals etwas leidende Mutter zu erquicken, vom Konditor aus der sogenannten grünen Bude ein Glas Eis geholt, das sie besonders liebte. O, wie mich das beschämte! Hatte ich nicht auch eine kränkelnde Mutter? Und es war mir noch niemals eingefallen, zu ihrer Erquickung etwas beizutragen.

Die Achtung, die mein Freund mir abnötigte, hinderte mich indessen nicht, ihm gelegentlich auch einmal die Faust zu zeigen. Alfred, der freilich das meiste besser wußte als ich, war rechthaberisch und konnte, wenn er Widerspruch erfuhr, sehr maliziös werden; ich aber war so empfindlich wie eine Spinne, und beide waren wir heftig. Aber an Veranlassung zum Streite fehlt es ja bekanntlich unter Kindern ebensowenig als unter Potentaten, und so geschah es denn, daß wir uns im besten Spiele plötzlich an den Kragen fuhren und uns so lange prügelten und zerrten, bis wir aus Erschöpfung wieder Friede machten. Mit keinem meiner Freunde habe ich mich öfter und ernstlicher entzweit als gerade mit diesem Alfred; doch aber wüßte ich nicht, daß wir je als Feinde auseinandergegangen wären. War die Balgerei vorüber, so war es auch die Feindschaft, und in Liebe und Haß blieben wir uns unentbehrlich, solange wir beieinander waren.

Auch Alfreds Lieblingsbeschäftigung war das Zeichnen. Er exzellierte sogar in dieser Kunst, und ich bestrebte mich, es ihm darin in Sauberkeit und Akkuratesse gleichzutun. Gewöhnlich kopierten wir gemeinschaftlich einen und denselben Reiter oder sonst eine Figur aus den damals erschienenen Kriegsszenen von Sauerweid, und ich erinnere mich, daß es mir dabei weniger darum zu tun war, das Original zu erreichen, als vielmehr den Reiz wiederzugeben, den die Kopien meines Freundes gleich bei der ersten Anlage für mich hatten.

Unsere künstlerische Tätigkeit beschränkte sich übrigens nicht bloß aufs Zeichnen, wir schnitzten auch aus Holz und kneteten allerlei Gelungenes aus buntem Wachs, z.B. kleine nackte Neger mit Palmbäumen und Kochfeuern, welche letztere aus brandgelbem Wachse dargestellt wurden. Endlich machten wir auch Papparbeiten und verfertigten überhaupt fast alle unsere Spielsachen nach Anleitung des Lehrers, der sehr richtig urteilte, daß eben dieses Anfertigen das Beste bei der Sache sei.

Das Genußreichste, was Senff uns lehrte, war die Kunst, gewisse kleine trianguläre Gestalten, sonst »Krähen« genannt, aus Papier zu falten, bei deren Anfertigung jedoch der letzte vollendende Bruch so schwierig war, daß er gar nicht gelehrt werden konnte; es mußte einem vielmehr wie zum Verständnis der Schellingschen Identitätsphilosophie erst eine glückliche intellektuelle Anschauung kommen oder mit anderen Worten ein großer Seifensieder aufgehen, ehe man es vermochte, die sorgfältigst vorbereitete Krähe durch jene letzte schöpferische Quetschung zu vollenden. Diese Vollendung pflegten wir daher geraume Zeit hindurch dem Altmeister Senff zu überlassen, bis wir endlich selbst, einer nach dem anderen hinter die Schliche kamen. »Kannst du schon den letzten Bruch machen?« – Das war lange die brennende Tagesfrage unter uns, während es uns doch ganz einerlei war, ob einer schon die fünfte Deklination konnte oder nicht.

Inzwischen sollten jene Papierfiguren nach Senffs Willen nichts weniger als Krähen darstellen, mit denen sich nichts anfangen läßt, sondern vielmehr Soldaten, als welche unsere gehorsame Phantasie sie denn auch willig gelten ließ, da ihre völlig indifferente Form jedwede Deutung zuließ. Ja, unser guter Wille verbiß sich dergestalt in diese kleinen, kantigen Gestalten, daß sie uns bei weitem natürlicher erschienen als jene bleiernen Flachköpfe, die das Ansehen haben, als seien sie aus Herbarien entronnen.

Durch verschiedene Papierfarbe und kleine Veränderungen im Bruch stellten wir nun alle Waffengattungen, selbst Reiter dar, da Senff die Erfindung gemacht hatte, jene Soldaten durch eine höchst geniale allerletzte Manipulation dergestalt zu verändern und auszudehnen, daß sie ein fast transzendentales Aussehen gewannen und Pferden reichlich so ähnlich sahen als früher Menschen. Man brauchte eben nur das Fußvolk daraufzusetzen. Endlich wurden aus Federposen und Fischbeinbügeln kleine Wurfgeschütze gemacht, die für Kanonen galten und ihre Geschosse mit Vehemenz durchs Zimmer trieben.

Kaum wüßte ich, daß mir jemals irgend etwas in der Welt mehr Vergnügen gemacht hätte als die Ausrüstung dieser Papierarmee und das Spiel damit. Wir brachten es nach und nach ein jeder auf die ungeheure Zahl von achthundert bis tausend Mann, für deren Aufstellung wir Risse und Spezialkarten mit Kreide auf die Diele zeichneten. Wer nach zehn Schüssen die meisten Leichen hatte, verlor an seinen Grenzen, und stündlich veränderte sich die Landkarte in unserem Zimmer, wie draußen in der weiten Welt. So arbeiteten und spielten wir uns in den Spätherbst und Winter hinein, bis die Weihnachtszeit sich mit ihrem wunderbaren Treiben nahte und auch unsere Beschäftigungen mit dem Stempel des Geheimnisses bezeichnete. Das gemeinschaftliche Spielen hatte nun ein Ende, jeder kramte und kleisterte für sich, und keiner durfte hinsehen, was der andere machte. Zu letzterem verpflichtete man sich durch Eide, die sehr leicht zu halten waren, da jeder, genugsam von seinem eigenen Werk erfüllt, wenig Neigung hatte, von dem des anderen Notiz zu nehmen oder etwas davon zu erwarten. Auch mag sich der alte Satz, daß Geben seliger als Nehmen sei, am meisten in den gegenseitigen Geschenken bewahrheiten, die sich Kinder machen, deren Gaben, außer dem sogenannten pretium affectionis, was jedoch nur der Geber damit verbindet, nicht den geringsten Wert zu haben pflegen, wie denn auch der Empfänger immer sicher ist, daß jener sich das Ding gewißlich nicht vom Herzen gerissen hat, sondern selber nicht gebrauchen konnte.

Wo nun die eigene Kunstfertigkeit nicht ausreichte oder es an Material fehlte, kauften wir das Fehlende auf dem Weihnachtsmarkt, der in Dresden nach einem eigentümlichen Backwerke der Striezelmarkt genannt wird. Acht Tage vor dem Feste pflegte sich der Dresdner Altmarkt mit einem ganzen Gewimmel höchst interessanter Buden zu bedecken, die abends erleuchtet waren und große Augenlust gewährten. Das Glitzern der mit Rauschgold, mit bunten Papierschnitzeln und goldenen Früchten dekorierten Weihnachtsbäume, die hellerleuchteten kleinen Krippen mit dem Christuskinde, die gespenstischen Knechte Ruprechts, die Schornsteinfeger von gebackenen Pflaumen, die eigentümlich weihnachtlichen Wachsstockpyramiden in allen Größen, endlich das Gewühl der Käufer und höfliche Locken der Verkäufer, das alles regte festlich auf.

Hier drängten auch wir uns des Abends gar zu gern umher, schwelgend in dem ahnungsreichen Dufte der Tannen, der Wachsstöcke, Pfefferkuchen und Striezeln, die in einer den Wickelkindern entlehnten Gestalt, reichlich mit Zucker bestreut, vor allen zahlreichen Bäckerbuden auslagen und Löwenappetit erregten. Nach genauester Prüfung alles Vorhandenen kauften wir dann einige kleine grüne oder rote Wachsstockpyramiden, auf Kartenblätter gewickelt, das Stück zu einem Pfennig, sogenannte Pfefferkuchenzungen zu demselben Preis oder ein paar Bogen bunten Papiers, um unsere Privatbescherung damit auszustatten.

Inzwischen konnten wir in unserem Eifer den vom Kalender angegebenen Zeitpunkt nie ganz erwarten und fingen schon an vorhergehenden Abenden an, in Alkoven oder anderen verdachtlosen Winkeln unseren Kram geschmacklos aufzustellen, zündeten einige Wachsstockschnittchen dabei an und überraschten uns dann gegenseitig unaufhörlich, bis der wahre heilige Abend herankam und uns alle überraschte.

Kurioses Zeug

In dem geräumigen Wohnzimmer meiner Mutter stand ein schönes Bild, das, auf einigen Stufen erhöht, den mittleren Teil der Hauptwand fast bis zur Decke füllte. Es war dies eine Kopie des berühmten Dresdner Raffael, die mein Vater unlängst vollendet und der Mutter geschenkt hatte. Diese Kopie wurde damals dem Originale gleichgestellt. Es schien dasselbe, nur ohne die Mängel, welche Zeit und frühere Verwahrlosung hinzugetan hatten. Große Summen waren schon vor der Vollendung dafür geboten worden, allein mein Vater wollte sich nicht davon trennen; es sollte das Palladium seines Hauses werden, und unter dem himmelreinen Auge dieser Mutter Gottes sollten seine Kinder heranwachsen. Auch knüpfen sich sehr selige Kindererinnerungen an dieses Bild, unter dem wir saßen, und das ich anzublicken pflegte, wenn die Mutter am Sonntag morgen aus der Heiligen Schrift vorlas und uns aufmerken lehrte auf die Worte unseres Erlösers. Seinen vollen Zauber entfaltete es indessen erst am Weihnachtsabend, wenn die vielen Kerzen brannten und das magisch beleuchtete, wie von innerem Licht durchglühte Bild zu leben schien.

Dieses herrlichen Anblicks erfreuten wir uns zuerst im Jahre 1809, da Volkmanns und Senff den ersten Weihnachten mit uns verfeierten. Die ganze kleine Gesellschaft schien die Augen nicht wieder abwenden zu wollen, und fast hätte es notgetan, uns Kinder zu erinnern, daß es heute noch andere Interessen für uns gab.

Unterdessen wir uns nun unseren Tischen nahten und die Herrlichkeiten in Augenschein nahmen, mit denen man uns beschenkt hatte, wurde Senff vermißt. Man hörte aber, daß er gebeten habe, ihm nicht zu folgen, und siehe da! – als die Kerzen des Lichterbaumes im Ersterben waren – da flogen plötzlich die Flügeltüren auseinander, und ein Lichtmeer strahlte uns entgegen. Senff hatte den Fußboden des großen Vorsaales dicht besetzt mit Hunderten von kleinen Lampen, die er aus Nußschalen gebildet und zu einem riesigen Halbmond vereinigt hatte. In die Höhlung dieses Türkensterns, der wie Pontius ins Kredo in unseren Weihnachtsabend paßte, hatte er die kunstvoll gefertigten Geschenke aufgestellt, die er für uns Kinder gearbeitet hatte: für mich einen Prachtschild mit silbernem Adler, für Alfred einen nicht minder schönen Löwenschild. Der Effekt des Ganzen war sehr überraschend, doch noch nicht genügend für Senffs Erfindungsgabe.

Als man sich satt gesehen, schlug der ideenreiche Künstler der Gesellschaft vor, ihm nach dem Hinterhause zu folgen. Dort befand sich ein zweiter Vorsaal, der zu den Gemächern meines Vaters führte, und hier hatte Senff auf der Diele aus kleinen von Papier gemachten Häusern, Palästen und Moscheen die Stadt Konstantinopel aufgebaut. Man konnte nichts Saubereres sehen als diese Papierstadt. Dichtgestreuter weißer Sand bezeichnete das Land, blauer das Meer, das von kleinen Schiffen belebt war. Nachdem nun Senff eine skizzenhafte Erklärung der hervorragendsten Punkte gegeben, bemerkte er, daß Konstantinopel häufig abzubrennen pflege, und damit legte er einen Zunder unter das erste Haus der Vorstadt Pera. Bald brach die Flamme aus, ergriff das nächste Gebäude und die ganze Straße, verzweigte sich nach anderen Straßen, sprang in die Brunnen, die mit Spiritus gefüllt waren, und verbreitete sich über die ganze Stadt. Zuletzt wurde das Serail ergriffen, dessen zahlreiche Türmchen als Miniaturfeuerwerk aufsprühten, die Vorstellung mit Knalleffekt beschließend.

Auf solche Weise wußte unser Lehrer uns stets neuen Stoff zuzuführen, denn natürlich waren wir begierig, alles nachzumachen, von den kleinen Nußlampen an bis zu den kleinen Schiffen und Papiergebäuden. Die Festungen und Städte, die wir für unsere Kriegsspiele bis dahin nur als Grundrisse verzeichnet hatten, erhoben sich jetzt zu allen Dimensionen des Raumes, und wir nahmen zu an mancherlei Kenntnis und Geschicklichkeit.

Die Töpfer

Auch im Freien wurden wir zu zweckmäßigen Übungen angehalten. Unsere Spaziergänge mit Senff waren weglose Entdeckungsreisen durch die Wälder, welche den Ortssinn übten, wir badeten, kletterten, liefen Schlittschuh und Stelzen. Freilich geht es mit manchen dieser Dinge wie mit den Näkeschen Fischgerichten, ja wie mit allem in der Welt, das schmackhaft gemacht werden soll: es muß aus eigenem Vermögen etwas Salz, d.h. etwas Täuschung, hinzugetan werden. So z.B. stelzten wir nicht schlechthin wie die Marschbauern, sondern unsere Stelzen waren Pferde und wurden als solche ordentlich abgewartet, in die Schwemme geritten, gestriegelt und geliebt. Daß dergleichen Pferde aus zwei unzusammenhängenden Hälften bestanden, störte nicht im geringsten. Wir selbst waren auch nichts weniger als Knaben, sondern große Herren und Ritter, die gegeneinander turnierten. Auf einzelner Stelze hüpfend, gebrauchten wir die andere als Lanze und suchten uns damit gegenseitig umzustoßen. Überhaupt erlangten wir große Geschicklichkeit, wir liefen, sprangen und tanzten auf unseren Stelzen fast so flink und sicher wie zu Fuße. Aber der beste Schwimmer ertrinkt, sagt man, und der beste Fechter wird erstochen. So konnte es denn geschehen, daß auch ich mit meiner Stelzerei beinah den Hals brach.

Die Straßenjugend hatte auf der winterlichen Promenade vor unserem Hause eine Glitschbahn eingefahren, oder – mit dem technischen Ausdruck – eine Schinder ausgerissen, die mich natürlich auf den Einfall brachte, meinem Gaul das Schindern beizubringen. Einen Anlauf nehmend, sprang ich frisch auf die Bahn; aber anstatt gleichmäßig fortzugleiten, fuhren die langen Stelzenbeine nach verschiedenen Weltgegenden auseinander, das Gerüst schlug unter mir zusammen und ich dermaßen aufs Eis, daß die Besinnung augenblicklich weg war.

Die Frau des benachbarten Töpfermeisters Thomas hatte im Fenster gesessen und mich stürzen sehen; sie eilte heraus, nahm mich in die Arme und trug mich der nicht wenig erschrockenen Mutter zu; denn ob ich tot oder lebendig sei, war auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Ich erholte mich indessen schnell und war bald so weit genesen, daß ich der Frau Nachbarin persönlich meinen Dank abstatten konnte. Da wurde denn gleich große Freundschaft geschlossen, und von dieser Zeit an verfehlte ich nicht, die Töpfersleute häufig zu besuchen. Es waren freundliche Menschen; aber mehr noch zog mich die Werkstatt an, wo keineswegs bloß Töpfe, sondern auch Köpfe und mannigfaltige andere Kunstwerke gefertigt wurden. Die schönen, aus weichem Ton geformten Arabesken, Löwen, Greife, Sphinxe und niedlichen Gewandfiguren nach antiken Mustern gefielen mir fast besser als die Bilder meines Vaters, wenn sie so überraschend fertig und wohlgeboren, wie die Minerva aus dem Haupt des Jupiter, aus ihrer klumpigen Form hervorgingen.

Daß mein Bruder, sobald er von diesen Wundern hörte, mich zu begleiten pflegte, ist selbstverständlich. Wir gingen wie andere ernste Arbeitsleute in der Werkstatt ein und aus, und während die Töpfer töpferten, kneteten wir nicht minder allerlei Kuriosa aus ihrem Ton, wobei wir nicht allein ihre Mienen und Gebärden nachzuahmen strebten, sondern auch alle Werkzeuge beanspruchten, deren jene sich bedienten. Für solche Teilnahme luden uns die guten Leute denn auch wohl Sonntags zu ihrer Mahlzeit ein. Dann war im Töpferhause alles neu und anders, die Werkstatt geschlossen, in Flur und Zimmer weißer Sand gestreut, und selbst der Meister Thomas – an Werkeltagen von seinen Tonklumpen wenig unterschieden – erschien im veilchenblauen Frack mit buntgeblümter Weste und weißer Binde. Er war ein korpulenter, etwas schnaufender Mann, der mir in seinem Staate den vollkommensten Respekt einflößte.

Es mochte sein, daß die Obersachsen damals das gebildetste Volk in Europa waren, wenigstens hielten sie sich selbst dafür, und wirklich zeichnete sich der Bürgerstand, vorzugsweise der Dresdner, durch angeerbte Urbanität und eine Höflichkeit aus, die, so oft sie auch von den Barbaren verlacht ward, im Grunde doch jedermann wohl tat. Unsere Töpfersleute aber konnten in jeder Beziehung als Sachsenspiegel gelten, daher meine Mutter uns ohne Sorge mit ihnen verkehren ließ. Nicht nur mit Fremden, sondern auch untereinander benahmen sie sich aufs wohlanständigste; nie hörte man ein unbemessenes Wort, und der ganze Hausstand zeugte nicht nur von Wohlstand, sondern auch von althergebrachter guter Zucht und Ordnung.

Vor jeder Mahlzeit wurde von der Hausmutter laut gebetet. Dann erst setzte man sich und verspeiste zwar die meisten Gerichte auf nächstem Wege, gleich aus der Schüssel, aber doch mit solcher Sauberkeit, daß mich kein Ekel ankam. Dazu sah man's den Leuten an, daß ihnen der Bissen, den sie in den Mund schoben, nichts weniger als selbstverständlich war, sie ihn vielmehr als Gottes Gnadengabe respektierten. Besondere Ehrfurcht wurde dem Brote gezollt, welchem man eine Art von Heiligkeit beizulegen geneigt schien. Kugeln daraus zu drehen oder es sonst zur Belustigung zu kneten, galt für den heillosesten Frevel, daher mir, als ich gelegentlich in diese Sünde verfiel, eine ernste Rüge zuteil ward. Zum Kneten, sagte mir Frau Thomas, wäre der Ton; das liebe Brot aber sei eine Gabe Gottes, nicht zum Spielen, sondern zur Notdurft und Nahrung des Leibes. Wer es nicht achte, zeige, daß er satt sei; den Satten aber werde Gott auch andere Speise entziehen und sie den Hungrigen geben.

Diese Rede beschämte mich nicht wenig und machte auf mich daher so tiefen Eindruck, daß ich sie nicht vergessen habe. Frau Thomas würde zwar nicht gescholten haben, wenn ich die Kugeln aus Wachs gedreht und hernach weggeworfen hätte, obgleich man mehr Geld für Wachs zahlt als für Brot; auch hatte sie nichts dagegen, daß ich meine Knallbüchse mit Stücken roher Kartoffeln lud, die sie mir zu diesem Zweck selbst lieferte, obgleich Kartoffeln doch auch zur Notdurft und Nahrung des Leibes dienen. Es ist aber weder der Geldwert noch die Genießbarkeit, die dem Brote diesen Nimbus gibt, sondern die Idee, die wir, seitdem man das Vaterunser betet, damit verbinden, die hohe Idee nämlich des Inbegriffs aller von Gott zu erbittenden leiblichen Bedürfnisse, zu welchem Brote Luther sogar »fromm Gemahl, gut Regiment und gute Nachbarn« zählt.

Jahrelang bin ich bei meinen lieben Thomaschristen ein und aus gegangen, bis der Tod auch ihr Familienleben sprengte. Ich habe dort nur Dankenswertes genossen und fühle mich daher auch jenem Stelzensturz verpflichtet, der mich zu ihnen führte, wie ich denn überhaupt die Erfahrung gemacht habe, daß sogenannte Unfälle häufig weiter nichts sind als die Eintrittspreise zu großen Freuden. Zunächst war es ein anderer, nicht minder halsbrechender Sturz, dem ich das Vergnügen meiner ersten Fußreise verdankte.

Der Sprachlose

Unser Hauswirt mußte Gelegenheit gehabt haben, sehr wohlfeil Holz zu kaufen, denn in dem Gärtchen hinter seinem Hause stand ein reicher Vorrat für viele Jahre aufgeklaftert. Dies öde Gärtchen, ohnedem schon ein Bild des verfluchten Ackers, hatte damit den höchst denkbaren Grad von Ödigkeit erreicht. Aber Kinder und Wahnsinnige fragen wenig nach dem Aussehen der Wirklichkeit, die ihrer schöpferischen Phantasie doch nur zur Unterlage dient, unwirkliche Luftschlösser daran aufzubauen. So vertrug auch ich mich prächtig mit jenen Holzstößen, die ich nicht hätte missen mögen, und die mir unendlich mehr Genuß gewährten als elegante Blumenrabatten und alles, was man sonst zum Schmuck der Gärten rechnet. Ich kletterte daran herum, überstieg sie wie Gebirge oder sah sie für Schlösser und Kastelle an, die man stürmen und verteidigen konnte.

Von der höchsten dieser Burgen hatte ich förmlichen Besitz ergriffen. Sie lehnte sich an die Gartenmauer und reichte bis unter die Kronen der alten Linden des Nachbargartens, die ihr Laubdach darüber breiteten. Unter diesem Blätterdache, vor aller Welt versteckt, verträumte ich die genußreichsten Stunden, hörte aus nächster Nähe die Maikäfer im Gezweige brummen und roch den süßen Duft der jungen Lindenblüten.

Als ich nun eines schönen Nachmittags, dort oben im labendsten Laubschatten sitzend, mir aus der reichlich vorhandenen Kiefernrinde ein Schiffchen schnitzte, bemerkte ich über mir etwas, das einem Neste glich. Um besser sehen zu können, schob ich mich weiter rückwärts, und immer weiter, bis ich, in völligem Vergessen meiner Situation, dem Rande des Holzstoßes so nahe kam, daß der Schimmel plötzlich alle war. In einer Hand das offene Messer, in der anderen das angefangene Rindenschiffchen, schlug ich hintenüber und stürzte etwa 7 Fuß tief gerade auf den Rücken.

Durch Gottes gnädige Bewahrung hatte ich nicht den Hals gebrochen. Ich sprang sogleich wieder auf und wollte auf den Schreck tief aufatmen – aber die Respirationswerkzeuge versagten ihren Dienst. Nach mehrmaligen vergeblichen Anstrengungen, Luft zu schöpfen, erfaßte mich eine Höllenangst. Ich lief zu meinem Bruder, der im verfallenen Lusthäuschen hockte und Maikäfer aufmarschieren ließ, ihm meine Not zu klagen; aber ich vermochte keinen Laut hervorzubringen und mühte mich mit verzweifelten Gestikulationen fruchtlos ab, nur einigermaßen verständlich zu werden. Darüber war der Kleine, der keine Ahnung von meinem Unfalle hatte und alles für Narrenteiding hielt, dermaßen aufgeheitert, daß er sich fast überschlug vor Lachen. Um ihn zum Ernst zu zwingen, war ich in meiner Todesangst schon nahe daran, ihm in die Haare zu fahren, als endlich das Hindernis zu weichen schien und ich mit Mühe einige Luft bekam. O! besser hat mir nie ein Labetrunk geschmeckt als dieser halbe Kubikzoll Lebensluft, für den ich ja gern alle meine Papiersoldaten hingegeben hätte.

»Ich bin von der Burg gefallen,« sagte ich. Da merkte der Kleine auf und wurde nun ebenso teilnehmend, als er vorher lustig gewesen war, rieb mir auf mein Verlangen auch den Rücken aus Leibeskräften, bis die Respiration sich wenigstens insoweit hergestellt hatte, daß der Gang ins Haus und die Treppen hinauf unternommen werden konnte.

Der herbeigerufene Arzt verlangte fortgesetzte Bewegung in freier Luft, und schon am nächsten Morgen machte Senff sich mit uns und den Volkmannschen Kindern auf den Weg nach dem etwa drei Meilen entfernten Tharandt. Von dieser kleinen Reise ist mir wenig und doch sehr viel geblieben, die Erinnerung nämlich einer ungewöhnlichen Glückseligkeit. In der Tharandter Gegend wanderten wir unausgesetzt umher, zwischendurch an schönen Punkten lagernd, bis meine Beklemmung nach vier bis fünf sonnigen Frühlingstagen ziemlich spurlos verschwunden war und wir zu unserer gewohnten Lebensordnung nach Dresden zurückkehrten.


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