Justinus Kerner
Das Bilderbuch aus meiner Knabenzeit
Justinus Kerner

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Der närrische Hausschneider und Jung-Stillings Vorübergehen

Mit dem Comptoir-Gebäude der Tuchfabrik war das Waisenhaus und das Zuchthausgebäude und auch ein Gebäude für die Irren verbunden. Weiter oben stand die Kirche für all die Bewohner dieser Gebäude. Sie alle waren mit einer Mauer umschlossen und hatten nach innen Hofräume und Gärten, nach außen befand man sich in der langen, sogenannten Schorndorfer Straße, die nach dem Kirchhöfe und dem Dorfe Oßweil führte. Von der eigentlichen Stadt war man durch den Schloßgarten und links durch die langen Alleen abgeschlossen. Am Haupteingange besagter Gebäude, einer großen Türe, war rechts ein Zimmer angebracht, in welchem ein Schneidermeister mit seinen Gesellen arbeitete. Er hatte den Titel eines Hausschneiders und mußte zugleich den Portier machen und ein Augenmerk auf die Aus- und Eingehenden richten, denn dies war das einzige Tor (wenigstens für die Fußgänger), durch welches man in all diese Gebäude und Anstalten kommen konnte. Der damalige Hausschneider hieß Noä. Durch Lesen aller möglichen Bücher aus der Leihbibliothek des Antiquars Nast hatte er einen Anstrich von Bildung erhalten; er verstieg sich sogar in die Schriften von Kant, fiel aber von dieser Höhe bald herab und blieb an den Schriften von Sintenis hängen. Er spielte den Freigeist und bekam einen lächerlichen Stolz. Dieser Noä kam eines Abends, als ich dichtend und nähend auf der Leiter saß, zu mir und erzählte, soeben sei auch ein Schneider zum Tore herein, der mehr Aufsehen mache, als er verdiene; das sei einer, der lieber in der Hölle (der Sitz, auf dem die Schneider sitzen und in den sie ihre Füße stecken, wird so genannt), aus der er hervorgegangen, hätte bleiben sollen, als daß er einem die Hölle mit seinen abergläubischen Schriften heiß mache. Da sei Sintenis, von dem man nicht so viel rede, ein höherer Geist. Er sehe aus wie ein verhungerter Schulmeister, mache den Augenschneider, wolle, selbst blind, Blinden den Star stechen. So machte er lange fort, bis ich endlich von ihm herausbrachte, daß Jung-Stilling mit seiner Gattin in Begleitung des Waisenpfarrers vor einer Stunde durch das Haus gegangen sei, um sich die Anstalten zeigen zu lassen.

Ich hatte damals von Stilling noch weniger gelesen als der Schneidermeister, aber dennoch trieb es mich von der Leiter, den Mann zu sehen. Ich trat in den Hof hinaus, und da kam er gerade mit seiner Gattin, in Begleitung des Waisenpfarrers Schöll, im Rückwege begriffen, die Allee von der Waisenhauskirche herab. Ich stellte mich unter das Tor, und die lange, interessante Gestalt mit der eigenen, hohen Stirne, der Adlernase und den Liebe und Sanftmut strahlenden Augen zog an mir ganz nahe vorüber und prägte sich mir tief ins Gemüt ein. Ich sah ihn da zum ersten und zum letzten Mal, ihn, den ich in späteren Jahren, und als er nicht mehr auf Erden war, erst kennen und verehren lernte. Dennoch trachtete ich auch da noch nicht, seine Schriften kennenzulernen, obgleich ich schon damals, wenn auch nicht seinen christlichen, doch seinen pythagoreischen und platonischen Glauben an eine Seelenwanderung der Geister und an ein Mittelreich hatte. Aber des Schneiders Spott über diesen Mann konnte ich, als ich sein Auge gesehen, nicht mehr ertragen; ich kehrte ihm, sooft er wieder von ihm zu reden anfing, den Rücken.

Später, als ich schon in Tübingen war, erschien dieser Schneidermeister auf einmal zu Pferde bei einem Manöver der königlichen Truppen, in Gegenwart des Königs, unter der Generalität. Man merkte, daß es mit dem Schneider nicht richtig war, und er wurde auf Befehl des Königs aus dem Sattel gehoben und nach Zwiefalten, wo sich später das Irrenhaus befand, zu besserer Verwahrung und Versorgung transportiert, wo er starb.

Jung-Stilling hatte, als ich ihn damals in Ludwigsburg sah, den blinden Instrumentenmacher Käferle, jedoch ohne Erfolg, operiert. Dieser war in früher Jugend erblindet, und zwar auf eine Weise, daß er keinen Schein mehr behielt; dennoch wurde er ein bedeutender mechanischer Künstler, und seine Klaviere, Flügel usw. waren lange Zeit im In- und Auslande sehr gesucht. Das Gefühl hatte bei ihm so sehr die Stelle des Auges vertreten, daß er im polierten Holze jeden Fleck, jede Mißfarbe zu erkennen und zu verbessern imstande war. Sein mechanisches Genie und seine Liebe zur Tonkunst ging auf zwei seiner Söhne über.


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