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Ich darf ihm wohl mit Fug eine Reihe von Blättern in der Geschichte meiner Jugend weihen, besonders da die Hauptepoche seines vielbewegten Lebens in dieselbe fiel und ich auch schon als Knabe den innigsten Anteil an seinen Schicksalen nahm.
Er war im April 1770 (auch in der Oberamtei zu Ludwigsburg) geboren. Er kam unzeitig, schon am Ende des siebenten Monats der mütterlichen Schwangerschaft, zur Welt. Der Vater konnte ihn mit den Fingern spannen, und sein Gewicht entsprach dieser Länge. Die Mutter hatte Kindszeug zurechtgemacht, sie mußte Puppenzeug nehmen, so klein war er. Eine kräftige Amme zog ihn auf. Es sind noch einige Blätter vorhanden, die den Anfang seiner Lebensgeschichte enthalten, die er seinem Sohne hinterlassen wollte; leider überraschte ihn aber damals der Tod. Er muß sein baldiges Herannahen gefühlt haben, denn er schrieb in der Vorrede an seinen Sohn:
»Du bist 14 Monate alt, ich bald zweiundvierzig Jahre, wir werden uns schwerlich kennenlernen. Ein hartes Zeitalter kürzte meine Existenz, ein besseres wirst Du erleben. Weile dann bei der Asche Deines Vaters, ehre durch eigene Tugend das Andenken deiner Eltern und Voreltern und empfange als Vermächtnis einzelne Bruchstücke aus meinem Leben, so weit als mein Gedächtnis hinreicht, unterstützt durch die Trümmer meiner Tagebücher; benütze, mein teures Kind, die von mir oft teuer bezahlten Erfahrungen und erblicke in diesem Geschenk einen Beweis meiner väterlichen Liebe. Oh, mein Sohn! warum muß ich an das Grab denken, jetzt, wo ich dich noch auf meinem Schoße trage? Doch so will es das Geschick, und es frommte zu nichts, gegen seine Ratschläge zu murren.« – Aber auch diese seine Lebensgeschichte zu schreiben war ihm nicht mehr vergönnt; er brachte sie nur auf wenige Blätter, und seine Tagebücher wurden ein Raub schon eines früheren Brandes zu Hamburg, im Herbste 1822.
Aus wenigen von ihm geschriebenen Blättern und Erinnerungen seiner Freunde und Zeitgenossen sind von ihm folgende Erzählungen zu machen:
Er war von einer außerordentlichen Beweglichkeit und Lebendigkeit des Geistes und des Körpers. Von dem Vater erhielt er eine sehr strenge Erziehung, und er klagte noch in späterer Zeit über die harten körperlichen Züchtigungen, die er von ihm erleiden mußte.
Wie sein späteres Leben bei dieser Lebendigkeit des Geistes und Körpers einen furchtlosen entschlossenen Charakter zeigte, so bewies er solchen schon in früher Jugend, wovon gleichfalls folgende Züge Beweise sind:
Wir hatten zu Ludwigsburg ein ausgemauertes Familienbegräbnis. Als die Mutter meines Vaters starb, gab mein Vater dem dazumal ungefähr zehnjährigen Knaben auf, auf den Kirchhof zu gehen und dem gerade am Grabe beschäftigten Totengräber irgend etwas in Hinsicht auf die Begräbnisstunde auszurichten. Der Knabe kam im Augenblicke an, wo der Totengräber den Kopf unseres Großvaters ausgrub. Da nahm der Knabe sogleich den Kopf wie einen freudigen Fund, und in der Meinung, dem Vater dadurch das größte Vergnügen zu machen, überraschte er denselben in der Schreibstube damit. Es ist natürlich, daß der Vater ihn mit demselben nach vorangegangenem starkem Verweise und Belehrung zur Ruhestätte zurückschickte, dem Knaben aber blieb unbegreiflich, warum der Vater keine Freude an dem Kopfe seines Vaters gehabt hatte.
Schon damals befand er sich in der Akademie, in welche er bereits in seinem achten Jahre kam. Als ein siebzehnjähriger Jüngling aus der Akademie in die Vakanz gekommen, bestieg er bei einem ganz im Brande stehenden Hause eine Leiter, auf die sich kein Mensch mehr wagen wollte, und brachte mit höchster Gefahr seines Lebens ein Kind, einen Knaben, aus den Flammen hernieder. Es ist merkwürdig und traurig, daß derselbe Knabe, zum Manne gereift, einen schauerlichen Mord beging und zu Ludwigsburg mit dem Schwerte hingerichtet wurde.
Schon mehrere Jahre vor meiner Geburt hatte mein Bruder Georg die Carls-Akademie in Stuttgart bezogen, die damals in ihrer schönsten Blüte war; sie wurde der Gegenstand seines sehnlichsten Verlangens, indem er der strengen väterlichen Erziehung müde war. Sein beweglicher Geist hatte ihn zum Militärstande bestimmt, allein dies war gegen des Vaters Willen, der aus ihm einen praktisch tüchtigen Mediziner und Chirurgen bilden wollte, und nach dessen Wunsche mußte er auch seine Studien in der Akademie einrichten, oft aber durchbrach sein freier Sinn den strengen militärischen Charakter dieser Anstalt.
Einer seiner Lieblingsgedanken war, sich nach Vollendung seiner Studien als Arzt auf ein die Welt umsegelndes Schiff zu begeben, auch schwebte ihm immer Surinam als der Ort seines künftigen Wirkungskreises vor. In dieser Hoffnung hatte er schon früher seinen Körper auf alle Weise abgehärtet und sich jeder Entbehrung unterworfen, und ich erinnere mich, daß er in den Vakanzen, in denen er in das väterliche Haus zurückkam, sich nie einer Bettlade bediente, sondern immer in einer Hängmatte schlief, die er an der Decke seines Zimmers aufgehängt hatte. Die Französische Revolution, die so vieles änderte, gab auch ihm eine andere Richtung.
Mit ihm befanden sich zu gleicher Zeit der nachherige Professor Pfaff (jetzt noch in Kiel lebend) und Reinhold, nachheriger holländischer Diplomat, in dieser Anstalt; besonders schloß er hier mit letzterem ein Freundschaftsbündnis, das nie und durch nichts gestört ward, obgleich beide noch Knaben waren, als sie sich trennten, er 14 Jahre, Reinhold 13 Jahre. Reinhold verließ die Akademie im Jahre 1784 , und sie sahen sich erst wieder im Jahre 1795 in Hamburg.Im Herbste 1799 ging Reinhold nach Berlin als Gesandter. Nach der Einverleibung Hollands lebte er in Paris als Privatmann, im Jahre 1813 war er Gesandter in Florenz, darauf Gesandter in Rom, wo er das Konkordat bis zum Abschluß vorbereitete. Das Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten wurde ihm angetragen, er nahm es aber nie definitiv an. Zuletzt ward er Gesandter in der Schweiz. Er privatisierte dann in Hamburg, wo er im August 1838 starb.
Meines Georgs Freund Pfaff schrieb aus den Zeiten der Carls-Akademie nachstehendes von ihm:
»Ich lernte Kerner erst, seitdem er Chevalier – Ritter eines akademischen Ordens, der den Ausgezeichnetsten in ihren Studien erteilt war, kennen. Er war eine Lehrabteilung vor mir voraus. Hier knüpfte sich bald ein inniges Band der Freundschaft. Er zeichnete sich schon damals durch seine große praktische Tendenz und Tatkraft aus. Müßige theoretische Untersuchungen waren nicht seine Sache. Er war schon ein glücklicher und berufener praktischer Arzt, als er kaum ein Jahr Medizin studiert hatte. Er wollte sogleich seine Kenntnisse zum Nutzen seiner Mitmenschen anwenden. Feinere Anatomie, ferner Chemie, Botanik kümmerten ihn wenig, aber wohl interessierte ihn z. B. die gewöhnliche Apotheken-Chemie, wie sie zum richtigen Aufschreiben von Rezepten notwendig ist. Seine außerordentliche Lebendigkeit und Unruhe machten ihm den praktischen Wirkungskreis zum Bedürfnis. Den größten Einfluß auf seine Studien äußerte indes die Französische Revolution. Geschichte war es, was ihn am meisten anzog. Alles bezog er von nun an auf die Ausbreitung und Realisierung der großen Grundsätze, welche die Französische Revolution aufgestellt hatte, in allen Verhältnissen. Dadurch wurden freilich seine eigentlichen medizinischen Studien noch mehr gestört, doch seine medizinische Praxis nicht, da er auf Menschen zu wirken keine bessere Gelegenheit kannte. Die Geschichte seiner Promotion 1791 ist interessant. Er hatte weder Zeit noch Lust, eine Dissertation zu schreiben; seine Freunde übernahmen diese Mühe. Es wurden einige dreißig Paragraphen über Metastasen zusammenfabriziert und ungefähr drei oder vier Krankengeschichten als Beilage erdichtet, und der Zweck so vollkommen erreicht, als wenn Boerhave oder Haller selbst die Feder geführt hätten. Nach geschehener Promotion hielt der feurige Republikaner eine deutsche Rede zum Abschiede, was ganz ungewöhnlich war, in welcher er einen Überblick der Geschichte gab und die großen Ereignisse verkündigte, die Europa bevorständen.
Aus unserm Zusammenleben als Chevaliers verdient noch eine Maskenvorstellung auf einer großen öffentlichen Maskerade Erwähnung, in welcher von vier gleichgesinnten Jünglingen in Gegenwart der vielen emigrierten Adeligen, die sich damals in Stuttgart befanden, und namentlich auch der Grafen von Artois – der Brüder des jetzigen Königs –, der Prinzen von Bourbon usw., die Abschaffung des Adels pantomimisch dargestellt wurde. Einer von uns, selbst ein Edelmann (Herr v. Marschall), jetzt erster Minister eines angesehenen deutschen Fürsten (Nassau), repräsentierte den Adel und hatte zu Emblemen einen großen Stammbaum, eine Menge Wappen, mit denen er behängt war. Kerner, ein junger Schweizer, Peters, und ich stellten, mit den drei Nationalbändern geschmückt, die französische Nation vor und beraubten unter manchen komischen Szenen den Edelmann aller seiner Wappen, zerrissen seinen Stammbaum und jagten den Kahlen endlich aus dem Saal. Diese Maskenvorstellung machte so viel Aufsehen, daß eine Erwähnung davon in den französischen Zeitungen geschah.
Die genannten Verbündeten hatten den Scherz ausgeführt, ohne ihre Kameraden vorher davon zu unterrichten, was einige darunter so sehr verdroß, daß sie beschlossen, ihn zu überbieten. Kurz vor der Ausführung erfuhr Kerner noch davon und ließ nun nicht nach mit Bitten, bis ihm gestattet ward, daran teilzunehmen. An dem dazu bestimmten Abende erschien im Redoutensaal eine Maske, die Zeit vorstellend, eine Urne im Arm, die durch ihre Schönheit allgemeines Aufsehen erregte. Stumm durchschnitt sie den Saal und setzte sich endlich während des Tanzes auf eine Seitenbank. Kerner setzte sich zu ihr und lehnte, indem er dem Tanz zusah, den Arm auf die Urne, die die Maske neben sich gestellt hatte. Plötzlich stand diese auf, ohne jene mitzunehmen, und verließ den Saal. Als Kerner sie in Sicherheit wußte, stand auch er auf und stieß wie aus Ungeschicklichkeit die Urne um. Kaum fiel sie auf den Boden, so entrollten ihr eine Anzahl Zettel, die Menge strömte herbei, jedes erhaschte davon; sie enthielten die ärgsten Freiheitslehren, wie sie damals die französischen Zeitungen gaben, besonders Angriffe gegen die damals in Stuttgart anwesenden Prinzen. Diese eilten zum Herzog und beschwerten sich bitter. Alle Ausgänge wurden augenblicklich geschlossen; vergeblich, es zeigte sich keine Spur von der Maske. Polizeidiener durchsuchten die Stadt, selbst die Häuser nach ihr – sie blieb verschwunden. Tags darauf ward bei allen Handwerkern nachgeforscht, welche etwa bei Verfertigung der Maske geholfen; nichts kam ans Licht. – Danneker und KochBeide nachher berühmte Künstler: Danneker Bildhauer, Koch Maler., beide in der Akademie, waren die Verfertiger und rühmten sich dessen in spätern Jahren noch mit Entzücken. Unter den Verschworenen, treu und vorsichtig, fand sich kein Verräter.« – Reinhold schrieb von ihm:
»Die schönste Epoche seines Lebens war die seiner Begeisterung für Ideen, welche eine Wiedergeburt der Menschheit zu begründen schienen und die sich vielleicht in keinem Gemüte reiner ausgesprochen hat. Diese Begeisterung war überhaupt der hervorragende Zug seines Charakters, die sich in so vielen Handlungen der Aufopferung und Selbstverleugnung aussprach, welche sein Leben vorzüglich in jener Zeit auszeichneten. Die kindliche Hingebung, die all sein Tun begleitete, gewann ihm alle Herzen. Gegen die Revolution verhielt er sich wie Saïde gegen Mahomed, er gehörte ihr ganz an, solange er sie für tugendhaft ansah, von ihren Ausartungen hat sich keiner tapferer losgerissen, und er war mehr als einmal nahe dabei, ihr Opfer zu werden.
So wie in jedem Menschen sich ein Teil der Tendenzen seiner Zeit darstellt, so hat sich in ihm ihr edelstes Streben geoffenbart. Glühende Liebe für das Schöne umgab seine Jugend mit dem strahlendsten Glanze, glühender Haß für das Schlechte adelte sein männliches Alter, aber trug zugleich dazu bei, die Keime seines Lebens zu zerstören. Die Natur hatte ihm ausgezeichnet schöne Gesichtszüge verliehen. In seinen Jünglingsjahren glaubten viele in seinen Gesichtszügen die eines Christuskopfes zu erkennen, wie die veredelnde Tradition ihn dargestellt, später wurde ihm eine große Ähnlichkeit mit Bonaparte beigelegt, ehe die Züge des letztern sich vergröbert hatten.«
Schon von der Akademie aus hatte er im Jahre 1790 Straßburg heimlicherweise mehrmals besucht, namentlich in Begleitung seines Freundes Marschall, auch eines Zöglings der Akademie, der nachher Staatsminister in Diensten des Herzogs von Nassau wurde und, wie Pfaff erzählt, auch damals bei jener demokratischen Maskenszene figuriert hatte.
Als er nun im Jahre 1791 die Akademie verließ, drang er in seinen Vater, ihn auf die Universität Straßburg zu lassen, die dazumal, besonders für Medizin und Chirurgie, in großem Rufe stand; der Vater willigte nicht darein, weil er die freien Gesinnungen seines Sohnes kannte, die in der Nähe des damals ausgebrochenen Vulkanes der Französischen Revolution, wie vorauszusehen war, nur mehr Nahrung erhalten mußten. Gegen den väterlichen Willen aber ging sein Zug dahin. Erst als von den Professoren daselbst, namentlich von Sömmering, unterzeichnet vom Maire Dieterich, Zeugnisse einliefen, daß er seinen medizinischen Studien mit Fleiß obliege, stellte sich der Vater zufriedener, und erhielt er auch eine herzogliche Unterstützung. Zu Straßburg lernte er Adam Lux, den nachherigen Verteidiger der Charlotte Corday, kennen, den er später in Paris wieder traf. Mit ihm besuchte er die revolutionären Klubs und war einer der ersten, die damals hier für eine Republik predigten; die Folge war, daß er die herzogliche Unterstützung und alle Unterstützung vom Vater verlor. Von nun an wurde er in den Strudel der französischen Politik gerissen.
Er ging fast ohne alle Barschaft zu Fuß nach Paris, war zuerst für eine Republik, dann Konstitutioneller und Girondist und kam durch seine treue Anhänglichkeit an den konstitutionellen König am 10. August 1792 in die augenscheinlichste Lebensgefahr.
Eine geistreiche Landsmännin, eine Jugendfreundin Schillers, die sich der Kunst wegen zu Paris aufhielt, Fräulein Ludovike Reichenbach, nachher verehelichte Simanowitz, kam damals öfters in Paris mit ihm zusammen, und ich erhielt von ihrer Feder über sein damaliges Leben folgende Notiz:
»Georg Kerner kam von Straßburg mit Empfehlungen von den dortigen Jakobinern zu Fuß nach Paris. Wohl keinen Gulden trug er in der Tasche und lebte unterwegs wie auch eine Zeitlang in Paris deswegen nur immer von Milch. In Chalons hielt er eine Rede in der Jakobiner-Versammlung, ebenso in Paris. Die Jakobiner der Hauptstadt lachten über seinen Akzent, denn er behielt den schwäbischen Dialekt in der französischen Sprache, selbst als er ihrer ganz mächtig war, bei, hatten aber eine Freude an seiner Kraft und Begeisterung und nahmen ihn als Mitglied auf. Er war ganz von der Revolution ergriffen, und oft setzte ich ihn zur Rede, daß er seinen medizinischen Studien nicht mehr nachgehe. Es ging ihm die große Sache der Menschheit über alles. Aber eben deswegen konnte er der zum blinden Fanatismus gewordenen Politik der Jakobiner nicht mehr beipflichten, er wurde ihr eifrigster Widersacher. In den Tagen, wo der König sich in höchster Lebensgefahr befand, ging Kerner in seiner National-Uniform in die Tuilerien mit festem Vorsatz, den König zu beschützen. Mehrere Tage ließ er den König nicht aus den Augen und hätte alles um sein Leben gewagt.
Der damalige Maire von Straßburg, Dieterich, den Kerner sehr achtete, ließ einen Anschlag gegen die Jakobiner drucken, aber kein Mensch wagte in der völlig aufgestandenen, wütenden Hauptstadt diese Zettel anzuschlagen. Kerner machte Pappe, nahm eine große Schüssel mit derselben in eine Hand, in die andere die Anschläge, in den Mund aber einen Säbel, sich sogleich damit zu verteidigen, und heftete, rings vom Gesindel verfolgt, zum Schauer seiner Freunde, die Zettel an alle ausgezeichneten Straßenecken an.
Delaveau, ein gefährlicher Jakobiner, begegnete ihm einst und sagte zu ihm: ›Die Guillotine ist permanent.‹ Überall war er als Abtrünniger der Jakobiner bekannt, allein er hatte durchaus keine Furcht und sagte mir oft, er glaube, daß er bald werde guillotiniert werden. Einst ging ich mit ihm nahe bei der Nationalversammlung au quai des feuillants spazieren, wo sich das Volk immer versammelt hielt; sie schrieen: ›Sehet den kleinen Aristokraten, werft ihn in das nächste Bassin!‹ Ich hatte erstaunlich bange, ihn aber rührte das nicht.
Der Maire von Straßburg ward ins Gefängnis geschleppt. Kerner wollte ihn besuchen. Man stellte ihm vor, warum er zu einem Verräter wolle. Er aber sagte kühn. ›Der Verräter ist mein Freund.‹ Dies frappierte die Umstehenden, und er wurde zu ihm gelassen.
Als einst ein Deputierter, dessen Name mir entfallen ist, sich des bekannten Generals Lafayette annahm und sich unter dem Volk blicken ließ, so sprang alles wütend herbei und wollte ihn töten, aber Kerner drang noch wütender in den nächsten Volkshaufen ein, ergriff den Deputierten und rettete ihn in eine Wachtstube mit der größten Gefahr seines eigenen Lebens. Dieser Deputierte wurde in der Folge sein eifriger Freund.
Am 9. August abends ging Kerner in Uniform in die Tuilerien, aus Anhänglichkeit an den König, und wachte die Nacht dort. Man weiß, wie es damals ergangen; Kerner wäre mit aller Gewißheit umgekommen, hätte ihn nicht glücklicherweise ein alter Paß von den Jakobinern in Straßburg, der sich noch zufällig in seiner Tasche befand, gerettet. Er war genötigt, sich vom 10. zum 11. August in einer Wachtstube, unter einer Pritsche liegend, die von einer Menge Sansculottes umgeben war, mit Anhaltung jedes stärkeren Atemzuges, versteckt zu halten. Seine Freunde suchten ihn auf, seine Hausleute weinten um ihn und sagten: ›Kerner ist nun tot, denn alle Männer, die noch leben, sind gekommen, er allein nicht.‹ Am 11. früh, als die Wachtstube von den Sansculottes sich entleerte, ging Kerner zu einem Freunde, nahe an dem Schlosse, unterwegs aber wurde er ergriffen, und nur der erwähnte Paß war seine Rettung.
Nicht allein das damalige Leben der politischen Welt, auch andere Bilder erschienen seiner lebendigen Phantasie im herrlichsten Lichte. In einem lutherischen Lande geboren und erzogen, erschien ihm ein Frauenkloster als ein besonders anziehendes Rätsel, als ein höchst romantisches Bild. Wir gingen einmal zusammen – Herr Rheinwald, sein Freund, war mit uns – auf dem Montmartre spazieren. Auf diesem Berge war ein schönes Fräuleinkloster, die Damen waren noch beisammen, jedoch durfte man hinein. Kerner hatte ein großes Verlangen, wenigstens eine Nonne zu sehen. Er stellte sich die reizendsten Frauen vor, die nur beten und singen und in Heiligkeit leben. Wir kamen zum Sprachgitter; Kerner klopfte an, und gerade trat eine schöne junge Dame ans Fenster und frug, was wir wollten. Kerner, außer sich, trat vor und sagte: ›Madame, je suis ravi de vous voir.‹ Die Dame, ganz betroffen, zog eilig den Umhang vor und verschwand. So war er mit Herrn Rheinwald in einer Kirche, die Nonnen sangen, aber ungesehen, zusammen. Kerner war ganz begeistert über die himmlischen Stimmen: ›Das müssen Engel sein und schön und jung!‹ Rheinwald sagte: ›Nein, lauter alte, neidische, zahnlose Dirnen! Hören Sie nicht, wie die Stimmen schettern?‹ Kerner wurde wütend: ›Nein, sage ich, schön und jung und unschuldig wie die Engel!‹
Immer war er auch bei dem äußersten Mangel, der ihn öfters traf, da er von den Seinigen keine Unterstützung hoffen durfte, heiter und voll Lebendigkeit, und alle Menschen, die ihn kennenlernten, liebten ihn.« –
Mit ihm befand sich damals der vor einigen Jahren zu Stuttgart als Pädagogarch gestorbene Professor Kammerer in Paris, und von ihm ist folgende Mitteilung:
»Sosehr Kerner mit ganzer Seele der Freiheit anhing, das Glück derselben über die ganze Welt verbreiten zu können wünschte, so fand er doch jetzt, da er sich in der Nähe des Vulkans befand, von dem die Erschütterung ausging, bald den Boden ganz anders, als er sich in der Ferne vorgestellt hatte. Er lernte einige von den Revolutionsmännern und die geheimen Triebfedern und Leidenschaften, die sie beseelten, näher kennen, er hörte das wütende Geschrei und die rasenden, alles menschliche Gefühl empörenden Vorschläge, die von der Jakobiner-Tribüne ausgingen, und sah die schändlichen Mittel, die man zu ihrer Ausführung anwendete. Sein gerader, auf Menschenrecht und Menschenglück gerichteter Sinn ertrug es nicht, diesem Unwesen zuzusehen. Sosehr er daher als erklärter Klubs-Freund nach Paris gekommen war, so entschieden erklärte er sich nun dagegen, ohne deswegen seine Wünsche für Freiheit und eine wohleingerichtete Verfassung aufzugeben.
Kerner hatte sich nach und nach eine kleine medizinische Praxis erworben, wozu neben seiner Geschicklichkeit besonders auch seine Uneigennützigkeit nicht wenig beitrug. Außerdem hatte er seit dem Herbst 1792 den Auftrag erhalten, für die Hamburgische Zeitung (›Adreß-Comptoir-Nachrichten‹), die damals auf Kosten des dortigen Handelsmannes Klopstock, eines Bruders des Dichters, herauskam, wöchentliche Nachrichten aus Paris einzuschicken. Auf diese Art konnte er bei seiner Genügsamkeit sich recht gut fortbringen und selbst seiner Neigung, wohltätig zu sein, noch hie und da freien Lauf lassen; denn Gutmütigkeit, Edelmut, Biedersinn waren die Hauptzüge in seinem Charakter, und aus dieser reinen Quelle floß sein Enthusiasmus für Freiheit, die ihm anfänglich in goldenem Lichte entgegenglänzte. Dennoch war er nicht so blind und schwach, daß er sich so leicht durch Heuchler hätte täuschen lassen, ebensowenig im gemeinen Leben als in öffentlichen Angelegenheiten. Ich erinnere mich, ihn einst auf einem Spaziergange begleitet zu haben; es näherte sich uns ein in Lumpen gehüllter, elend und schwarzgelb aussehender Bettler. Kerner war im Begriff, ihm etwas zu reichen, plötzlich aber ergriff er die Hand des Bettlers, spie darein, rieb sie an seinem Rock ab – und siehe da, die schwarzgelbe Farbe, womit der Betrüger, Mitleid zu erregen, sich beschmiert hatte, ging ab, und er wurde mit einem derben Verweis entlassen.
Seine edlen Eigenschaften, die sich auf den ersten Blick in seinem Gesichte aussprachen, erwarben ihm immer mehr Bekannte und Freunde. Ohne besondere Adressen nach Paris zu haben, wurde er bald besonders seinen württembergischen Landsleuten bekannt, wovon ihn immer wieder einer dem andern zuführte, und unter diesen wurde die Bekanntschaft mit Graf Reinhard für ihn die folgenreichste. Alle waren ihm mit der innigsten Anhänglichkeit und Liebe zugetan, die er auch in hohem Grade verdiente; aber auch unter andern in Paris lebenden Deutschen und unter den Franzosen selbst wußte er sich Liebe und Wohlwollen zu erwerben; sogar Männer von der Regierung behandelten ihn mit Achtung und ließen seinen Grundsätzen Gerechtigkeit widerfahren. Kosciusko, Schlabrendorf, Ölsner, Ebel, Reinhard, Lux waren seine innigsten Freunde.«