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Ich kehre zu meiner Familie zurück. Meine Voreltern, wie aus dem Stammbaume meines Vaters erhellt, waren im romantischen Kärnten angesiedelt; wir haben aber nur noch nähere Nachricht von denen, die dort kurz vor und zu den Zeiten der Reformation lebten. Der älteste Kerner, von dem wir Nachricht haben, hieß Michael und war Rat und Finanzbeamter des Kaisers Maximilian, der ihn seiner Verdienste wegen nobilitierte und ihm das noch von der Familie gebrauchte Wappen erteilte.
Die Nachkommen, unbegütert und meistens im Dienste der Kirche und des Staats, machten von dieser kaiserlichen Gnade keinen Gebrauch. Michaels beide Söhne, von denen der ältere Michael, der jüngere Balthasar hieß, hatten sich dem geistlichen Stande gewidmet, aber das Licht der Reformation lockte sie zu Luther nach Wittenberg. In ihr Vaterland zurückgekehrt, suchten sie den lutherischen Katechismus einzuführen, wurden aber von da vertrieben, flohen nach Württemberg, und der ältere, Michael, von dessen Linie wir stammen, wurde Prediger und Rektor zu Schwäbisch Hall, der jüngere Bruder Prediger am Münster zu Ulm, wo ihm ein Sohn im Amte nachfolgte, der aber keine Kinder hinterließ.
Mein Großvater (geb. im Jahre 1704) war in seiner Jugend Rat zu Hechingen. Als nach dem unerwarteten Tode des Fürsten dessen Mätresse die Schätze des Landes über die Grenze bringen wollte, ließ er sie arretieren.
Er entzweite sich darüber mit dem gewissenlosen Administrator und wurde gewalttätig auf die Feste Hohentwiel verwiesen, aber nach einigen Monaten von dem aus Wien zurückgekehrten Sukzessor befreit, gerechtfertigt und, durch seine Empfehlung an den württembergischen Hof, zum Oberamtmann in Göppingen ernannt, in welcher Stadt mein Vater im Jahre 1744 geboren wurde.
Im Jahre 1730 wurde mein Großvater Vogt (oder Oberamtmann, wie man es später hieß) in Ludwigsburg.
Bekanntlich wurde diese Stadt vom Herzog Eberhard Ludwig in einer Gegend erbaut, in der er sich öfter der Jagd wegen aufhielt. Die zahlreichen Nachtigallen, die sich in ihr befanden, erfreuten ihn so, daß er sich in einem Hofe, der in dieser Gegend auf einer vom Walde umgebenen Wiese stand, dem Erbachhofe, einige Zimmer zum Übernachten einrichten ließ, woraus später ein Jagdschloß und nachher diese Stadt entstand. Sie war zu meines Großvaters Zeit noch ganz in ihrem Werden begriffen und bestand erst aus wenig Häusern und Einwohnern; desto mehr mußte er sich mit ihrer Vergrößerung beschäftigen. Ein herzoglicher Befehl hatte allen Städten und Ämtern des Landes auferlegt, ein Haus auf ihre Kosten in dieser neu erstehenden Stadt erbauen zu lassen. Stadt und Amt Weinsberg hatte das Los getroffen, das Oberamteigebäude daselbst bauen zu müssen – das Haus meiner Wiege. So verlieh mir Weinsberg unbewußt den Platz zur Wiege – wie es mir bald den zum Sarge geben wird.
Meinem Großvater folgte nach seinem Tode in einem sehr jugendlichen Alter mein Vater im Amte. Das Amt eines Oberamtmanns war in damaliger Zeit, wo die Justiz mit der Regierungsverwaltung verbunden war, von einer wichtigeren Bedeutung als jetzt.
Es lag in den Händen eines solchen eine ziemliche Vollmacht, welche jedoch mein Vater nie mißbrauchte, obschon er in seinem Amte zwar gesetzmäßige Strenge beobachtete, aber durchaus Unparteilichkeit übte und unbestechlich blieb. Er erwarb sich daher auch eine solche Liebe der Bürger Ludwigsburgs, daß diese, als er im Jahre 1795 darauf bestand, das Kloster-Oberamt Maulbronn zu übernehmen, sich in Scharen zum Herzog ins Schloß begaben, um ihn zu bitten, diesen Beamten nicht aus ihren Mauern zu lassen. Mein ältester Bruder Georg schrieb von ihm: »Unvergeßlich bleibt mir sein hohes Bild, voll Kraft und Leben, sein schwarzes Auge voll Feuer, seine Gesichtsbildung, die eines Römers auf dem Kapitol, seine männliche Stimme, würdig, von einer solchen Höhe herabzudonnern, sein ganzer Körper derb und gewandt, wenngleich zuletzt zu einem Übermaße von Stärke sich hinneigend, die keine Lebensdauer verhieß.« – Dennoch war er immer tätig, immer beweglich, er schrieb bei seinen vielen Arbeiten fast gar nichts selbst, sondern diktierte alles, während er im Zimmer umherging, seinem Schreiber in die Feder. Er hatte einen und denselben Schreiber von Anfang seines Amtes bis an seinen Tod. Ein Amtsgenosse schrieb von ihm: »Er war allgemein geachtet als ein sehr rechtlicher, gewissenhafter und äußerst tätiger Mann und Beamter. Alle Morgen mußte aufgeräumt sein, es durfte außer den größern Untersuchungen nichts für den folgenden Tag liegenbleiben. Streng war er übrigens auch, und es konnte geschehen, daß, wenn in einer Ausfertigung in der Amtsschreiberei gefehlt wurde, er den Konzipienten, von dem der Fehler gemacht wurde, kommen ließ, ihn belehrte, ihn zugleich aber auch tüchtig abzankte und mit ein paar Ohrfeigen bedachte.«
Wie er in seinem Amte Strenge übte, so übte er solche auch in der Führung seines Haushaltes und namentlich in der Erziehung seiner drei ältern Söhne, und es mag daher kommen, daß sein ältester Sohn Georg sich ihm dadurch mehr entfremdete und eine Laufbahn ergriff, die den Gesinnungen des Vaters geradezu entgegen war. Ich glaube, daß der Vater später selbst diese Strenge in der Erziehung seiner Söhne bereute; denn ich, als der jüngst geborene, hatte von ihr vielleicht nur zu wenig zu fühlen; ich wurde sein Liebling, unverdienterweise, aber auch seine große Sorge noch auf seinem Sterbelager.
Meine Mutter war von kleiner Gestalt, zarter Natur und in ihrer Jugend von nicht gewöhnlicher Schönheit. Schubart besang sie in einem Gelegenheitsgedichte bei ihrer Ankunft als Braut in Ludwigsburg:
»Dir winken schon die schlanken Linden Im neuen grünen Frühlingskleid; Du wirst die Anmut doppelt finden, Die jede Linde von sich streut. Dir wehet ihr Geruch entgegen, Die Nachtigall singt froh dazu Und wirbelt unter grünen Bögen: Wie schön bist Du! Wie schön bist Du!« |
Es waren durch ihr ganzes Leben Demut und Gehorsam gegen ihren Eheherrn, ja selbst Furcht vor ihm, Hauptzüge ihres Charakters. Sein Wille war ihr strenges Gebot, und ihr ganzes Dichten und Trachten ging nur dahin, ihn bei gutem Mute zu erhalten und alles Unangenehme von ihm zu entfernen. So verbarg sie ihm manches, was besonders unter den Söhnen vorfiel, teils seine Strenge fürchtend, teils aus Sorge, ihn zu beunruhigen. Ihre Liebe und Verehrung, ihre hohe Meinung von ihm, hatten keine Grenzen. Auf seinem Totenbette, wo er die Hostie nicht mehr verschlingen konnte, sondern sie wieder mit der Zunge auf die Lippen zurückbrachte, nahm sie dieselbe von den kalten Lippen und verschlang sie in seinem Namen unter Gebet und Tränen.
Die Wiege meiner Mutter war die schöne, vom Bande des Neckars umschlungene Felseninsel Lauffen.
Der Dichter Hölderlin, dessen Geburtsort auch Lauffen war, singt von dieser Insel:
»Heilig ist mir der Ort, an beiden Ufern, der Fels auch, Der mit Garten und Haus grün aus den Wellen sich hebt.« |
Es ist diese Felseninsel im Neckar, der hier kristallhell und rieselnd dahinzieht, mit ihrem alten Turme, an den sich das Haus, in dem meine Mutter geboren war (das Oberamteigebäude), lehnt, mit der ihr gegenüberliegenden Kirche und alten Kapelle der heiligen Regiswindis, einer der schönsten Punkte unseres Vaterlandes.
Ihr Vater war hier im Jahre 1751 Oberamtmann, er hieß Stockmayer (geb. 1729) und verwaltete (nachdem er vorher noch Oberamtmann in Besigheim und Stadtoberamtmann in Stuttgart geworden war) die Stelle eines Kammerprokurators, der seinen Sitz in Stuttgart hatte.
Es kamen auf mich noch einige Blätter eines von ihm geschriebenen Tagebuchs, dessen Verlust auch für die Geschichte der damaligen Zeit Württembergs recht zu bedauern ist. Selbst diese wenigen Blätter sind Zeugen von seinem vielseitigen Geschäftskreise und großen Fleiße. Als damaliger Stadtoberamtmann in Stuttgart machte ihm, bei dem bunten Hofe, Militär und Schauspiel, die Verwaltung der Polizei viel zu schaffen, und er führt davon merkwürdige Beispiele in seinem Tagebuche an. Als im Jahre 1762 ein Brand im Schlosse zu Stuttgart ausbrach, traf er alle möglichen Anstalten zur Rettung des Lusthauses und der Kasernen. Es war dieses Lusthaus ein merkwürdiger Bau, an dem der berühmte Baumeister Schickart noch als Anfänger teilhatte. In ihm war seit 1750 das Opernhaus eingerichtet. Schade, daß dieses Altertum in der neuesten Zeit bei einem Neubau des Theaters gänzlich zerstört werden mußte. Auch zur Verschönerung Stuttgarts trug er während seiner Amtsverwaltung bei. So erzählt er z. B. in dem noch vorhandenen Fragmente seiner Lebensgeschichte: »Da die öffentlichen Spaziergänge und Gärten in Stuttgart meistens eingegangen, so war ich darauf bedacht, wie diese in möglichstes Kürze der Residenz verschafft werden möchten. Ich erwählte hiezu nach meinem eigenen Einfall den Platz vor dem Büchsentore, der vorher alleinig für die Schweine und den großen Kutter destiniert und ein wüster und unebener Platz war. Die Stadt ließe solchen planieren. Serenissimus geruhten auf meinen Bericht ein Stück von den herrschaftlichen Seegassen-Wiesen hiezu verabfolgen zu lassen. Die hiesigen Honoratioren stifteten auf meine Requisition hiezu die meisten wilden Kastanien- und Lindenbäume, und solchergestalt wurde aus einem wüsten Platze eine Allee von Linden- und Kastanienbäumen angelegt, die bisher wohl reüssiert hat.« –
Die Pflanzung der Bäume geschah von ihm im Jahre 1764. Als Kammerprokurator hatte er bei den damaligen vielen Finanz-Verlegenheiten des Herzogs über manche schwere Geschäfte zu klagen und wurde zu vielseitigen diplomatischen Sendungen gebraucht. Man wird nicht sagen können, daß mein Glaube an Besessensein und Heilung durch Gebet ein Familien-Erbgut sei, wenn ich aus den Fragmenten seines Tagebuchs ein Urteil über die damaligen, so berühmten Heilungen des Exorzisten Gaßner wörtlich anführe:
»Den 26. Martius 1775 bin ich mit dem Herrn Reichsprälaten (es war von Neresheim aus, wo er in einer finanziellen Angelegenheit zu dem daselbst regierenden Reichsprälaten geschickt worden war) und dem Regierungsrat Stieger nach Ellwangen gefahren, um den Herrn Pater Gaßner daselbst, der wegen Austreibung der Teufel und Heilung derer Kranken alleinigst mittelst Anrufung des heiligen Namens Jesu so viel und großes Aufsehen gemacht hat, zu sprechen und seine Wunderkuren mit anzusehen. Ich habe mich allda zwei Tage aufgehalten, und den Kuren, die er vorgenommen hat, genau zugesehen, dabei aber die große Macht des Aberglaubens beobachtet und bewundert.«
Er starb vor meiner Geburt, aber mein ältester Bruder Georg erlebte ihn noch als Knabe und schreibt von ihm:
»Ich sah ihn nur, als ich noch ein kleiner Knabe war, aber noch lebt sein Bild in meiner Seele. Er war ein Mann von unbeschreiblich sanftem Gemüte, voll unaussprechlicher Liebe für die Seinen. Sein Haus, sein Garten, die Freuden, die ich da genoß, prägten sich meiner kindlichen Seele tief ein. Aus dem Ziehbrunnen im Hofe, sagte man mir, werden die Kinder geholt. Auf der Hausflur waren Hirschgeweihe, die mich sehr ergötzten. Vornen prangte das Haus mit einem Erker, der mir es schon von weitem bemerklich machte, hinter dem Hause war ein schöner, großer Garten, wo in den Buchsbaumhecken mich mehrmals die Ostereier von Glas und Zuckerwerk, mit neuen Kreuzern gefüllt, erfreuten.
Mein Großvater liebte mich ungemein, und ich verlebte jedesmal bei ihm goldene Zeit. Leider war diese Wonne von kurzer Dauer. Die treffliche Konstitution dieses Elternvaters erlag unter seinen Geschäften, er wurde den Seinigen plötzlich durch einen Schlaganfall entrissen. Ich sah ihn nun in den unteren Zimmern des Hauses in der Bahre, eingehüllt in das weiße Leichentuch, eine Zitrone in den gefalteten Händen, auf dem Kopfe eine weiße Mütze mit Schleifen. Sein Gesicht war so fromm, so unentstellt, ich weinte die bittersten Tränen.« –
Das Haus wurde an den Regierungsrat Griesinger verkauft. Er hinterließ zwei Töchter, von denen meine Mutter die älteste war. Söhne hatte er keine, und die anderen in Württemberg lebenden Stockmayer müssen in keiner nähern Verwandtschaft mit ihm gestanden sein.
Eheliches Glück kann er nur kurz genossen haben; denn noch während der Kindheit ihrer Töchter verfiel die Mutter in Wahnsinn und blieb es bis zum Tode.
Die zweite Tochter verheiratete sich mit dem ehemaligen Erlangenschen Professor, nachherigen Stuttgarter Regierungsrate Elsäßer, verfiel aber bald auch in eine Melancholie. Sie soll sehr geistreich gewesen sein und Anlage zur Dichtkunst gezeigt haben. Sie gebar einen Sohn, namens Christian, der in der Carls-Akademie erzogen werden sollte, aber wahnsinnig wurde und es bis ins Mannesalter, wo ihn der Tod erlöste, blieb. Ein zweiter Sohn, den sie gebar, legte sich auf die Heilkunde und wurde ein sehr geschätzter Arzt und Schriftsteller im Fache der Augenheilkunde. Die Stunden seiner Muße benutzte er für das ihm angebotene Talent zur Landschaftsmalerei. Er starb, geschätzt und bedauert von allen, die ihn kennenlernten, im Jahre 1813 zu Neustadt an der Linde, wo noch gegenwärtig ein Sohn von ihm die Zierde der vaterländischen Ärzte, besonders auch im Fache der medizinischen Literatur, ist. Neben diesen Söhnen gebar sie noch eine Tochter, die sich durch Geist und Bildung auszeichnete und sich zu Stuttgart an den Sekretär Hauff verheiratete. Diese war in ihren früheren Jahren Nachtwandlerin, und der als Dichter bekannte Wilhelm Hauff ist ihr Sohn. Die jüngste Schwester meiner Mutter blieb unverheiratet, denn auch sie wurde wahnsinnig und starb in meinem elterlichen Hause zu Ludwigsburg.
Ich führe diese psychischen Zustände einzelner Glieder meiner Familie auch besonders deshalb an, weil daraus hervorgeht, wie Wahnsinn, Somnambulismus und Dichtkunst miteinander verwandt sind und oft eins aus dem andern hervorgeht. Das Gefühlsleben herrschte bei meiner Mutter durchaus vor, aber nie erlitt sie eine Störung des Geistes, es erzeugte sich in ihr kein Wahnsinn, aber, wenn man mich so nennen will, doch in ihr ein Poete, und so war es auch bei Wilhelm Hauffs Mutter.
Meine Eltern hatten, wie schon angeführt, außer mir noch drei Söhne, von denen zwei in ihrer frühesten Jugend in die Akademie nach Stuttgart gebracht wurden, der ältere zum Studium der Medizin und Chirurgie, der jüngere zum Studium der Militärwissenschaften. Der zweitälteste Sohn durchlief die in Württemberg gewöhnliche theologische Laufbahn.