Justinus Kerner
Das Bilderbuch aus meiner Knabenzeit
Justinus Kerner

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Die Reise nach Heilbronn und der Wunderdoktor

Mit meinen körperlichen Leiden blieb es, wie ich schon anführte, auch hier beinahe immer auf derselben Stufe. Ich war sehr abgemagert, bleich und hoch aufgeschossen, jedoch noch immer in keinem fieberhaften Zustande und nicht geschwächter als früher. Nachdem man mich auch hier mit Arzneien überhäuft, sah man ein, daß auch der gerühmte Äskulap von Brackenheim für dieses Leiden kein Kräutlein finde. Dagegen wurde damals viel von den Wunderkuren des russischen Geheimerats Dr. Weickardt gesprochen, der sich zu Heilbronn aufhielt, Leibarzt der Kaiserin Catharine gewesen war und sich durch seine Schriften als gewaltiger Brownianer bekannt gemacht hatte. Unter dessen prüfende Augen sollte ich nun gestellt werden. Es kam zu diesem Zweck meine gute Mutter nach Brackenheim und fuhr eines Morgens im väterlichen Gefährt mit den Rappen unter Leitung des Matthias mit mir nach Heilbronn ab.

Wir stiegen auf dem Marktplatze bei der Mutter des Fräuleins vom Osterholz (der Frau von Stetinkh, die hier getrennt von ihrem Manne lebte) ab. Es war bald Mittag, als wir ankamen. Matthias holte mich sogleich auf den freien Platz vor dem Rathause, denn es war bald zwölf Uhr, wo die Böcke an der künstlichen Uhr des Rathauses zwölfmal gegeneinander stoßen und der Engel posaunt. Das war ein neuer Anblick, besonders für Matthias, der, als die Böcke mit dem Schlag zwölf Uhr zu stoßen anfingen, ihre Bewegungen nachmachend, mit dem Kopfe vorwärts stoßend, einen mächtigen Satz machte und einen vorübergehenden Herrn in einem roten Bordenrocke und einem Höcker dergestalt auf denselben stieß, daß derselbe unaufhaltbar unter einen dort stehenden Güterwagen fiel. Der Herr erhob sich zum Glücke unverletzt wieder und sah sich, einen Augenblick auf sein spanisches Rohr gestützt, nach der Ursache seines Falles um, aber Matthias hatte sich noch schneller als der Herr erhoben, unter die auf dem Markte stehende Menge gemacht, und ich blieb, nach dem soeben posaunenden Engel schauend, stehen, als bemerkte ich sonst nichts. Aber das bemerkten ich und Matthias, als wir nach Hause kehrten, zu unserer großen Verlegenheit, daß der Herr in dem roten Rock nun gerade auch auf das Haus zulief, zu dem wir zurückkehrten, auf die Wohnung der Frau von Stetinkh, dort anläutete und nun fast zu gleicher Zeit mit uns die Treppe hinaufstieg, während er immer an seinem staubig gewordenen Rocke wischte. Ich wußte nicht, sollte ich umkehren; denn ich befürchtete, er komme nur, uns seines Falles wegen zu verklagen; aber Matthias hatte Unverschämtheit genug und rief dem Herrn zu: »Erlauben S'! Sie sind auf Ihrem Rücken ganz weiß wie ein Zuckerhut«, und klopfte ihm dabei unter Danksagung des Herrn den Höcker aus, auch reinigte er ihm noch vor dem Zimmer den bestäubten Hut, während ich in dasselbe mit großer Bangigkeit und Herzklopfen vorausgeeilt war. Der Herr trat ein und wurde von der Frau von Stetinkh als der Herr Geheimerat Weickardt bekomplimentiert und ihm meine Mutter und ich als die Ursache vorgestellt, wegen der sie sich die Freiheit genommen, ihn zu sich zu bitten, denn die Frau Regierungsrätin sei von der Reise sehr ermüdet und ihr Söhnlein, wie er sehe, äußerst angegriffen und erkrankt.

Ich stand in einer Ecke des Zimmers, mager und weißlichblau, wie eine Thermometerröhre, die man mit blauem Spiritus gefüllt hatte, und mußte nun auf den Ruf meiner Mutter: »Christian, wo bist du?«, vor den auf dem Sofa Platz genommenen Geheimerat mich stellen. Es war eine kleine, stark ausgewachsene Figur, mit hoher Frisur, blitzenden grauen Augen und sehr beweglichen Gesichtsmuskeln. Meine Mutter hatte ihm einen schweren Pack Rezepte der von mir früher gebrauchten Ärzte überreicht, die er flüchtig durchging, während er bald in den Ruf »Entsetzlich!«, bald in den »Verkehrt!«, bald in den »Lächerlich!«, bald in den »Tödlich!« ausbrach und endlich den Pack mit den Worten beiseite legte: »Mich wundert nur, daß Ihr Herr Sohn noch lebt, ob er gleich in Wahrheit zum Gespenste herabgebracht worden zu sein scheint!« Ich erwiderte: »Ich habe diese Sachen in dem Pack alsbald wieder herausgebrochen, und so konnten sie mich nicht töten!« »Das war noch das Beste!« versetzte der Herr Geheimerat mit lautem Gelächter. »Nun, was ich Ihnen jetzt verordne«, sprach er weiter, »muß bei Ihnen bleiben.« Ach! dachte ich, nur das nicht, sonst muß ich sterben! – Das Männlein kam mir wie der gestiefelte Kater vor, der mir aus dem alten Märchen bekannt war; es war mir plötzlich, als hätte ich an ihm, als er am Wagen umgefallen war, auch einen Schwanz hinten bemerkt. Es wurde mir ganz märchenhaft und wunderbar zumute, als er nun seine Finger ausstreckte, die ziemlich große Nägel hatten, mir den Puls fühlte und dann die Augenlider mir mit denselben auseinanderzog und mit seinen grauen, blitzenden Augen tief in den Augenstern hineinsah, während er das Kinn auf dem goldenen Knopfe seines spanischen Rohres aufgestützt hielt. Ich bekam Herzklopfen, es kam mir vom Bauche kalt bis in die Stirne herauf, die Leute, die um mich waren, sah ich alle in Tiergestalt und fiel auf einmal bewußtlos zu Boden. »Das ist die erklärteste Asthenie (hörte ich den Herrn Geheimerat sagen, als ich von kölnischem Wasser duftend wieder zu mir kam), und da werden Hopelpobel und Pfefferkörner die zweckmäßigste Diät sein!« – Und ich werde sie sogleich wieder herausbrechen, daß ich nicht sterbe, dachte ich bei mir.

Der Herr Geheimerat verschrieb mir nun eine Mixtur zu stündlichem Gebrauch und eine Einreibung in den Magen, auch gab er eine lange, diätetische Vorschrift, in welcher Hopelpobel und Pfefferkörner eine Hauptrolle spielten.

Hopelpobel war ein Getränk von Tee, Eigelb und Kirschengeist, echt russischer Art, wie wahrscheinlich auch der Name »Hopelpobel«. Pfefferkörner sollten nach jeder Speise geschluckt werden, sagte der Herr Geheimerat zu meiner Mutter. »Furchtbare Asthenie durch zu schnelle Entwicklung ist es, sonst nichts«, sprach er, »und da müssen nur stärkende Mittel gereicht werden.«

Meine Mutter versprach, ihm in allem Folge zu leisten und ihm Nachricht von dem Erfolge seiner Mittel zu geben und sich seinen fernern Rat zu erbitten. Nach erhaltenem Honorar entfernte sich der Herr Geheimerat sehr freundlich, indem er mir strenge Diät und Folgsamkeit empfahl und gewisse Genesung versprach. »Glauben Sie mir, liebe Freundin«, sagte die Frau von Stetinkh zu meiner Mutter, »die Heilungen dieses Mannes sind ganz entsetzlich, Menschen, die man begraben wollte, brachte er durch Hopelpobel wieder ins Leben, und ich bin versichert, daß der liebe Christian durch die Heilmittel dieses erstaunlichen Arztes in wenigen Wochen von seinem Übel befreit wird; aber sogleich werde ich ihm den Hopelpobel bereiten.«Weickardt war zu Rönnehey im Fuldaischen im Jahre 1742 geboren. Er war ein geistreicher und aufgeklärter Mann, als Arzt aber zu einseitiger Brownianer. Er hatte sich nach der freien Reichsstadt Heilbronn begeben und tat dort den Armen sehr viel Gutes. Der Senat beleidigte ihn dadurch, daß er ihm als einem Fremden Einquartierung gab, und in Unmut verließ er nach einigen Jahren wieder diese Stadt.


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